Muammar Gadafi wollte nichts weniger als die Welt verändern – Doch der Überlebenskünstler und oft belächelte Neurotiker verbreitete vor allem Angst und Terror
von Birgit Cerha
„Die richtige Haltung ist Konfrontation. Flucht, und sei es ins Ausland, rettet nicht vor dem Tod“, schrieb Muammar Gadafi vor Jahren in einem der zwölf Essays, die sein persönliches Vermächtnis darstellen. Er setzt sich darin mit dem Abschiednehmen auseinander. Er habe beschlossen, in die Hölle zu fliehen und es sei gar nicht so schlimm. Er könne sich vorstellen, die Zeit dort sogar zu genießen.
Dass er sein kleines, gequältes Volk mit sich in die Finsternis zu reißen suchte, hat er seit Beginn der Rebellion gegen seine 42-jährige Herrschaft vor sechs Monaten wiederholt deutlich gemacht und durch sein bedingungsloses Ausharren ungeachtet der gigantischen Opfer an Menschenleben und Sachwerten erschreckend bewiesen. Gadafis Vermächtnis von Zerstörung, Armut und Hass wird noch lange traumatisch auf dem Wüstenstaat lasten.
Längst vergessen ist der Jubel, mit dem ein großer Teil der libyschen Bevölkerung die70 Offiziere, unter ihnen den 28-jährigen Oberst Gadafi, feierte, nachdem diese am 1. September 1969 in nur zwei Stunden den verhassten König Idris vom Thron gefegt und die Arabische Republik Libyen ausgerufen hatten. Kein Tropfen Blut war geflossen. Gadafi, feurig, wortgewaltig und visionär entpuppte sich rasch als der neue Führer, der das geknechtete Volk durch seine in ein völlig neues Konzept verwobene politische Philosophie beglücken und die arabische Welt nach dem Vorbild des Ägypters Gamal Abdel Nasser, der nur ein Jahr später sterben sollte, zu einen und zu neuer Stärke führen wollte. Gadafi war der letzte Herrscher, der sich einst enthusiastisch dem Millionen von Menschen in diesem Teil der Welt begeisternden arabischen Nationalismus verpflichtet gefühlt hatte.
Wenige Staatschefs oder Diktatoren wurden mit einer derartigen Vielzahl von oft zutiefst beleidigenden oder zynischen Charakteristika überhäuft wie der ehrgeizige Sohn der libyschen Wüste. Sie reichen vom selbsternannten Philosophen über Exzentriker, Kabarettist, von Größenwahn Getriebener, bis zum „wilden Hund“ (so einst US-Präsident Reagan). Die berühmte italienische Journalistin Oriana Fallaci, die Gadafi mehrmals interviewte bemerkte wenig schmeichelnd: „Er spinnt total. Er ist der schlimmste und dümmste aller Tyrannen, die ich je erlebt habe.“ Doch dieser angeblich so „dumme“ Beduinensohn erwies sich in Wahrheit als ein ungeheuer schlauer, wiewohl skrupellos brutaler Politiker. In einer von WikiLeaks vor wenigen Monaten veröffentlichten Depesche stellte der US-Botschafter in Libyen fest: „Es ist verlockend, seine (Gadafis) Exzentrik als Anzeichen der Instabilität zu werden. Aber Gadafi ist eine komplizierte Persönlichkeit, der es mit einer geschickten Abwägung von Interessen und Realpolitik über mehr als 40 Jahre gelungen ist an der Macht zu bleiben“ – länger als selbst Despoten wie Mao oder Stalin.
Muammar wurde 1942 in einem Beduinenzelt nahe der Küstenstadt Sirte als Kind einer arabisierten Berberfamilie geboren. Schon als Jugendlicher verfolgte er mit großem Interesse die politischen Turbulenzen in der arabischen Welt, die arabische Niederlage im Krieg um Palästina gegen Israel 1948 und den Aufstieg Nassers 1952. Er widmete sich mit besonderer Begeisterung dem Studium der Geschichte. Seine überwiegend ägyptischen Lehrer in der Sekundarschule legten großes Schwergewicht auf Arabisch und islamische Lehren. Dieser Bildungsweg, wie seine Beduinenherkunft prägten sein Leben, seine Frömmigkeit und seinen genügsamen, ja mitunter puritanischen Lebensstil. Dem Verhaltenscode der Beduinen, die persönlicher Ehre, Gleichheit und ein einfaches Leben in der Gemeinschaft höchste Bedeutung beimessen, sowie starken familiären Banden fühlte er sich auch in den Jahrzehnten der Macht verpflichtet.
Als er schließlich die Chance erhielt, in der Militärakademie von Benghazi zu studieren, war sein Weg an die Spitze des Staates bereitet. In drei Bänden seines „Grünen Buches“, einem politischen Manifest, versuchte er eine Alternative zu Sozialismus und Kapitalismus mit starken islamischen Aspekten zu entwickeln, die die Basis für die von ihm gegründete „Jamahiriya“, eine von den libyschen Volksmassen regierte Republik, bildete. Er nationalisierte die Ölindustrie und verbot Alkohol. Wiederholt verkündete er die Auflösung der Regierung und die Verteilung der Ölerträge an die Bevölkerung. Wiederholt verkündete er die Auflösung der Regierung und die Verteilung der Ölerträge an die Bevölkerung. Manche Ideale setzte er zumindest teilweise durch. So gewährt die „neue libysche Gesellschaft“ den Frauen weit mehr Rechte und Freiheiten als andere arabische Länder.
Traum und Realität schienen aber in seiner Vorstellungswelt mehr und mehr zu verschwimmen. So riet Gadafi vergangenen Februar dem durch einen Volksaufstand in die Enge getriebenen tunesischen Amtskollegen Ben Ali, doch das libysche Regierungsmodell zu übernehmen. Denn „es repräsentiert das höchste Stadium im Streben der Völker nach Demokratie.“ Dieses System bestand aber aus einem bizarren Labyrinth von Basiskomitees und Volkskongressen. Gadafi selbst weidete sich offiziell in der Rolle des Revolutionsführers, nicht des Staatschefs. Doch de facto verstand er es, wie andere Despoten, sich durch Verteilung von Vergünstigungen und Ölmilliarden an seine Familie, seinen Clan und eine kleine herrschende Klasse an der Macht zu halten und zahlreiche Putsch- und Attentatsversuche mit Hilfe eines dichten Geheimdienstnetzes und massiver Repression gegen die über Korruption und den geringen Wohlstand in diesem Ölreich zunehmend frustrierte Bevölkerung abzuwehren. Nur fünf Wochen nach seinem Ratschlag an Ben Ali bombardierte die libysche Luftwaffe das eigene Volk.
Doch bald nachdem er seine Macht in Tripolis abgesichert hatte, konzentrierte sich Gadafi auf seine außen- und weltpolitischen Ambitionen und überließ die Innenpolitik seinem Premier und engsten Mitstreiter Abdessalam Jalloud. Doch seine Botschaft des arabischen Nationalismus, die er durch Vereinigungen mit anderen arabischen Staaten, wie Ägypten oder Syrien, in die Tat setzten wollte, erntete ihm nur Ablehnung und oft auch Hohn, ebenso wie seine Aufrufe an arabische Führer und Armeen, sich seinem anti-imperialistischen Kampf gegen die USA und Großbritannien, seinem Engagement gegen Israel anzuschließen. Von missionarischem Geist getrieben wollte er die Welt verbessern und sich mit den Schwachen überall verbünden. Und dabei stieß er zunehmend auf Animositäten vor allem unter den anderen, keineswegs sendungsbewußten Autokraten der arabischen Welt.
Zunehmend setzte er in den 70er und beginnenden 80er Jahren einen großen Teil seines Ölreichtums zur Unterstützung von anti-kolonialen Rebellionen, Befreiungsbewegungen überall in der Welt, militanten Schwarzen in den USA, der baskischen ETA, der katholischen „Irischen Republikanischen Armee“radikalen Palästinensergruppen in deren Kampf gegen Israel, wie dem „Schwarzen September“ oder der Gruppe des Massenmörders Abu Nidal ein.
Obwohl Iran 1983/84 weit gefährlichere Terrorakte – insbesondere im Libanon mit 316 toten US-Marines – verübt hatte, wurde Gadafi zur Obsession US-Präsident Reagans. 1986 beschuldigte Washington Libyen des Terrors gegen ein von US-Soldaten frequentiertes Nachtlokal in Berlin, bei dem ein Offizier getötet und zahlreiche Amerikaner verletzt worden waren. Kurz darauf startete die US-Luftwaffe mit 55 Kampfflugzeugen die Operation „El Dorado Canyon“ gegen Libyen. Binnen vier Minuten wurden 60 Tonnen von Bomben auf Militärstützpunkte und andere strategische Ziele abgeworfen. Gadafi konnte sich knapp vor der Zerstörung seines Bunkers in Sicherheit bringen. Doch 60 Libyer starben, darunter seine 15 Monate alte Adoptivtochter Hanna. Der Gejagte aber ließ sich nicht einschüchtern. Der Terror eskalierte. Zwei Jahre später explodierte ein Pan Am Jumbo Jet, Flug 103 über der schottischen Stadt Lockerbie. Alle 259 Passagiere und elf Menschen in Lockerbie starben. Zwei libysche Agenten, Abdelbaset al Megrahi und Lamin Kalifah Fhimah wurden schließlich vor ein schottisches Gericht gestellt, nachdem Gadafi 2002 die Verdächtigen ausgeliefert hatte. Fhima wurde freigelassen, Megrahi zu einer lebenslangen Haft verurteilt, doch wegen einer angeblichen tödlichen Krebskrankheit 2009 nach Libyen überstellt. Libyen zahlte 2008 den Opfern von Lockerbie 1,5 Mrd. Dollar und der damalige US-Präsident Bush unterzeichnete eine Präsidialverfügung, die Libyen künftig Immunität gegenüber allen terrorbezogenen Gerichtsverfahren zusicherte.
Gadafis Unterstützung von Extremisten und Terroristen weltweit, sowie seine Invasion des benachbarten Tschad hatten das Land tief in die internationale Isolation getrieben, die vor allem die Wirtschaft und die soziale Entwicklung mehr und mehr hemmte. Durch Entschädigung für die Opfer diverser Terroranschläge und seine lautstark verkündete Aufgabe eines Programms zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen beendeten 20-jährige Wirtschaftssanktionen der USA und der UNO. Gadafi, so lange als der gefährlichste Förderer des weltweiten Terrorismus geächtet, wurde zu einem wichtigen Verbündete der USA in deren Anti-Terrorkampf gegen Al-Kaida.
Der „Revolutionsführer“ genoß sichtlich seine neugefundene Salonfähigkeit. Während er von westlichen Führern umhätschelt wurde, hielt er dennoch an seinem bizarren Verhalten fest. So ließ er seinen „Kronprinzen“ Saif al Islam in einem Interview mit dem „New Yorker“ 2006 klarstellen: „Wir nutzen Terror und Gewalt, weil das die Waffen der Schwachen gegen die Starken sind.“ Mit der Schweiz führte er einen Psychokrieg, nachdem sein Sohn Mohammed dort wegen Gewaltanwendung festgenommen worden war und rief zur Abschaffung der Schweiz auf. In einer Rede vor der UNO zerriss er die Charta des Weltforums, während sich internationale und arabische Medien fleißig über seine wiederholten Karnevalsaufzüge und kabarettistischen Bekleidungen mokierten.
Frustriert über die ihm entgegenschlagenden Abneigungen, wandte er sich den armen afrikanischen Nachbarn zu, die er mit Milliardenbeträgen bestach, damit sie ich den Titel „König der Könige“ verliehen, ihn auf Briefmarken abbildeten, bedeutungslose Konferenzen führen ließen und in der Illusion wiegten, er sei ein Führer von weltpolitischer Bedeutung.
Der Öffnung nach außen, dem Ausbruch aus der internationalen Isolation folgten aber nicht, wie im Westen gehofft, ähnliche Schritte im Inneren. Dort sind Repression und Angst geblieben, bis immer mehr Libyer dem Vorbild ihrer tunesischen Nachbarn folgten, die Barriere der Furcht durchstießen und sich gegen den Despoten und seine brutalen Söhne erhoben. Viele Libyer hoffen wohl, dass sich Gadafi nun für seine Verbrechen unbewaffneten Bürgern der vergangenen sechs Monate vor einem unabhängigen Gericht verantworten muss.
Donnerstag, 20. Oktober 2011
LIBYEN: Die Reise des Beduinensohns in die Finsternis
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