Tunesien, die „Wiege des arabischen Frühlings“, testet als erstes die Demokratie und setzt damit ein Beispiel für die Region – positiv oder negativ
von Birgit Cerha
Der revolutionären Begeisterung, mit der die Tunesier im Januar nach nur einmonatigen unblutigen Protesten die 24-jährige Diktatur Ben Alis abschüttelten und damit einen Dominoeffekt in der arabischen Welt auslösten, ist weithin Enttäuschung und Apathie gewichen. 40 bis 50 Prozent der Jugend, die die Revolution in diesem kleinen nordafrikanischen Staat getragen hatte, dürften kommenden Sonntag bei den ersten freien Wahlen seit der Unabhängigkeit 1956 erst gar nicht ihre Stimme abgeben. Umfragen lassen eine alarmierende Apathie unter weiten Kreisen der Bevölkerung befürchten, Enttäuschung darüber, dass die Revolution für menschliche Würde und soziale Gerechtigkeit die größten Wünsche unerfüllt ließ, an erster Stelle die Arbeitslosigkiet, die seit Ende 2010 von 14 auf derzeit 19 Prozent gar noch gestiegen ist.
Jahrzehntelang durch Diktatoren zum Schweigen gezwungen, haben die Tunesier in den vergangenen Monaten die neugewonnene Redefreiheit voll ausgekostet, und diese Übergangsphase hat tiefe Risse in der Gesellschaft zutage gefördert. Je näher der Wahltag heranrückte, desto mehr stiegen Nervosität, Anspannung und Polarisierung, die sich immer wieder gewalttätig entluden. In dieser Atmosphäre sind 7,5 Millionen Bürger aufgerufen, am Sonntag 217 Mitglieder einer Verfassungsgebenden Versammlung zu wählen, die das Land zur Demokratie führen, die alten Strukturen des 55-jährigen Autoritarismus niederreißen soll.
Das Mandat der Versammlung ist allerdings nicht klar definiert. Allgemein wird angenommen, dass sie die exekutiven und legislativen Funktionen des Staates übernehmen wird. Diese Wahlen werden damit, wenn alles gut geht, die erste demokratisch legitimierte Regierung Tunesiens hervorbringen. Die Versammlung soll innerhalb eines Jahres eine neue Verfassung erarbeiten. Ob diese dem Volk zur Billigung präsentiert wird, ist vorerst unklar. Fest steht, dass erst danach die Tunesier ein Parlament und einen Präsidenten wählen werden.
Nicht weniger als hundert Parteien und eine große Schar unabhängiger Kandidaten werben um Stimmen und tragen damit in dieser kritischen Übergangsphase zu Ratlosigkeit und Verwirrung, wohl aber auch zur Apathie bei. Die meisten Parteiführer haben keinerlei politische Erfahrung, kein klares Konzept, keine Organisation und kaum Geld, um an die Wähler heranzukommen. So dominiert die weitaus am besten organisierte und finanzierte islamistische „Ennadha“ den politischen Diskurs. Seit der Rückkehr ihres Chefs Rachid Ghannouchi i am 30. Januar nach 20-jährigem Exil hat die von der Diktatur massiv unterdrückte Partei mit eindrucksvollem Geschick das post-revolutionäre politische Vakuum gefüllt, 200 Parteibüros im ganzen Land eröffnet und große Zahlen von engagierten freiwilligen Wahlhelfern hinter sich geschart. Umfragen sagen einen überwältigen Sieg „Ennahda“s voraus, mindestens doppelt so viele Stimmen wie der voraussichtlich zweitstärksten, der Mitte-Links angesiedelten, im Gegensatz zu „Ennadha“ unter Ben Ali nicht verbotenen „Progressiven Demokratie-Partei“. Sie und die ebenfalls säkulare „Ettaktoi“ sind außer „Ennahda“ die einzigen Gruppierungen, die mehr als zehn Prozent der Stimmen gewinnen könnten. Das Wahlsystem ermöglicht aber vielen kleinen Parteien den Einzug in die Versammlung, sodaß „Ennadha“ vermutlich nicht die absolute Mehrheit gewinnen wird.
Wie die säkularen Parteien legt Ghannouchi in seiner Parteiplattform das Hauptgewicht auf den Aufbau einer sozialen Marktwirtwirtschaft, die Entwicklung der Infrastruktur im unterentwickelten Westen des Landes, die Schaffung Hunderttausender Arbeitsplätze und transparenter demokratischer Institutionen. Ghannouchi hat in den vergangenen Monaten keine Mühe gescheut, seine säkularen Gegner von seiner gemäßigten, ja liberalen Haltung zu überzeugen. Doch Tunesiens moderne, westlich orientierte Mittelklasse ist zutiefst verängstigt. Ben Alis Sturz hat radikalen islamistischen Salafisten Auftrieb gegeben. „Ennadha“ hat sich nach Ansicht vieler Kritiker zu wenig klar von Gewaltakten dieser Gruppen etwa gegen eine liberale Fernsehstation distanziert und viele fürchten, Ghannouchi verfolge in Wahrheit eine Doppelstrategie, neben dem offen präsentierten liberalen Programm den Weg zu einem islamischen Staat, der die fortschrittlichste, offenste Gesellschaft der arabischen Welt nachhaltig radikal verändern würde.
Viele Tunesier aber sehen in der „Ennadha“, die in jahrzehntelanger harte Opposition ihre Glaubwürdigkeit bewies, die einzige Chance einen klaren Bruch mit der Diktatur Ben Alis zu vollziehen, ein Bruch, der bis heute nicht vollzogen ist. Denn das System lebt immer noch fort, dieselbe Justiz, dieselbe Polizei, dieselben Strukturen, dieselben Methoden und damit die Sorge, dass sich die Elite der Diktatur mit Hilfe der säkularen Parteien ihr Fortleben sichert.
Voll Spannung verfolgen andere Länder Tunesien. Kann die „Wiege des arabischen Frühlings“ durch erfolgreiche Wahlen (angemessene Beteiligung und Gewaltlosigkeit) und anschließende Kooperationsbereitschaft der Sieger anderen Hoffnung geben. Als nächstes folgt Ende November Ägypten mit den ersten freien Parlamentswahlen.
Donnerstag, 20. Oktober 2011
Nach der Revolution die Apathie
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