Donnerstag, 19. Mai 2011

Neue Chancen für Jihadis in Libyen


Gewalttätige Extremisten gewinnen im wachsenden Chaos unverhofften Aktions-Freiraum und Zugang zu reichen Waffenquellen

von Birgit Cerha

Der „arabische Frühling“ mit seiner Botschaft von Freiheit, Demokratie und Säkularismus versetzte den Jihadis und ihren Anhängern in der Region einen schweren Rückschlag, psychologisch verschärft noch durch den Tod des Al-Kaida-Chefs Osama bin Laden. In Tunesien und im volksreichsten arabischen Land Ägypten gelang ein dramatischer Wandel gewaltlos durch eine Massenbewegung, in der die Islamisten keine Rolle spielten. In dem Maße, in dem sich die Region politisch öffnet und frustrierten Bürgern ein demokratisches Ventil bietet, wird die Gewaltbotschaft der Jihadis immer weniger Gehör finden.
Dennoch, die Terrorgefahr ist keineswegs gebannt. In Nordafrika nämlich bieten sich den Extremisten neue Chancen. Nach einem Bericht des in Washington stationierten Think Tank „Carnegie Endowment“ bergen das Machtvakuum und das sich ausbreitende Chaos in Libyen enorme Risiken für die Stabilität der gesamten Region, ja auch für die Sicherheit Europas. Ein Alarmsignal stellt die jüngste Festnahme von vier Waffenschmugglern in den süd-tunesischen Städten Nekrif und Bir Amir dar. Nach Einschätzung der tunesischen Sicherheitskräfte stammten größere Mengen von Granaten und Munition aus Libyen und dürften für Gruppen der „Al-Kaida im islamischen Maghreb“ (AKIM) bestimmt gewesen sein. Erhärtet sich dieser Verdacht, dann handelt es sich um den ersten Beweis eines beginnenden größeren Waffenschmuggels aus Libyen.

Während AKIM in Tunesien versucht, das Wirrwarr nach dem Sturz von Diktator Ben Ali für ihre Zwecke zu nutzen, vermindert sich in Algerien durch wachsende Machtkämpfe und interne Unruhen der lange massive Druck auf die dort ansässige AKIM-Zentrale. Vor allem bietet das libysche Chaos den Jihadis die Möglichkeit, eine neue Operationsbasis in der Region einzurichten.

Lange vor Ausbruch der Rebellion gegen das Regime in Tripolis hatten die Jihadis, vor allem die „Libysche islamische Kampfgruppe“ (LIK), die größte interne Gefahr für Diktator Gadafi dargestellt. In den 90er Jahren hatte die aus Veteranen des Afghanistan-Krieges gegen die Sowjetunion zusammengesetzte LIK mehrmals Attentatsvesuche auf Gadafi verübt. LIK, die Bin Laden und dessen Stellvertreter Aiman al-Zawaheri, nahe stand, hatte bis zu Beginn des von den USA geführten Anti-Terrorkrieges 2001 laut „Carnegie Endowment“ mehr als tausend Libyer in afghanischen Lagern trainiert und die Organisation zur gefährlichsten islamistischen Gruppe Nord-Afrikas aufgebaut. Während zahlreiche Extremisten direkt mit Al-Kaida verbunden waren, agierten andere auf eigene Faust, um Libyen von Gadafi zu befreien.

Libyer spielten aber auch eine entscheidende Rolle im internationalen Terrornetz, kämpften nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Bosnien, in Tschetschenien und zuletzt intensiv im Irak. Wie andere Diktatoren, sah Gadafi im Export der Jihadis die Chance, sich selbst eines gefährlichen Problems zu entledigen. Die Beschlagnahme von vielen Personalakten im irakischen Sinjar 2007 durch US-Besatzungstruppen vermittelte Einblick in die Bedeutung der Libyer für das Al-Kaida Netzwerk. Danach stellten nur die Saudis ein höheres Kontingent im Terrornetzwerk als die Libyer, die zudem weit radikalisierter waren. 85 Prozent der libyschen Jihadis gaben als Beruf „Selbstmordattentäter“ und nur 13 „Kämpfer“ an. Im Fall der Saudis lag das Verhältnis bei 50 zu 50.

Zudem gaben mehr als 80 Prozent der Extremisten die unterdessen von Gadafis Herrschaft befreiten ost-libyschen Städte Darnah und Benghazi an. Kein Zufall, meinen Experten, denn Jihadis, die aus Afghanistan heimgekehrt waren, ließen sich mehrheitlich in dieser Region nieder, die die staatlichen Sicherheitskräfte nicht voll zu kontrollieren vermochten. Laut Wikileaks hatten diese Afghanistan-Veteranen beträchtlichen Einfluß auf junge Männer, von denen sich viele mit Arbeitslosigkeit quälten.

Gadafi betrieb schließlich gegenüber den radikalen Islamisten eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche. Er begann in den späten 90er Jahren ein „Rehabilitierungsprogramm“ in den Gefängnissen, das sich auf das simple Konzept stützte: Wenn inhaftierte Kämpfer der Gewalt abschworen und die Legitimität des Regimes anerkannten, erhielten sie die Freiheit. Auf diese Art wurden in den vergangenen Jahren mehr als 700 Jihadis, viele davon kampferprobte Terroristen, aus den Gefängnissen entlassen, zuletzt zu Beginn der Rebellion fast 200. Das Unwissen über die Identität dieser Männer und deren gegenwärtigen Aufenthaltsort alarmiert Anti-Terror-Experten. Inzwischen herrscht allerdings kein Zweifel daran, dass sich einige von ihnen den von der NATO unterstützten Rebellen anschlossen und sich wohl an der Plünderung von reichen Waffenlagern des Regimes in Ost-Libyen beteiligten.

Auch wenn sie im Fall eines Sturzes von Gadafi kaum die Chance der Beteiligung an der Macht besitzen, haben sie einen Aktionsfreiraum und ein Waffenarsenal gewonnen, das ihnen gefährlich neue Möglichkeiten zur Stärkung des Terrornetzwerkes in Nordafrika bietet.

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