Ismail Besikci stellte sein Leben in den Dienst der Wahrheit und nimmt dafür enorme Opfer auf sich – Eben wurde er wieder zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt
von Birgit Cerha
Ismail Besikci liebt nicht das Rampenlicht. Er meidet Interviews und pflegt eine ungewöhnliche persönliche Bescheidenheit. Seine körperliche Zartheit, die sanfte Stimme und die ausgeprägte Freundlichkeit im Umgang mit seinen Mitmenschen können längst nicht mehr einen unbeugsamen Charakter verdecken, Hartnäckigkeit, Mut und Entschlossenheit, für seine Überzeugung alles, sein ganzes Leben in Freiheit, aufs Spiel zu setzen. Keiner hat je den mächtigen türkischen Staat derart herausgefordert wie dieser heute 71-jährige Wissenschafter, den Gerichte in insgesamt mehr als 40 Prozessen mit weit über hundert Jahren Gefängnis und rund einer Million Lira (etwa 510.000 Euro) bestraften.
Anfang März wurde Besikci wieder zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt. „Propaganda“ für die verbotene „Kurdische Arbeiterpartei“ PKK wirft ihm das Gericht vor. Und die Anklage bezog sich auf einen Artikel in der Zeitschrift der „Contemporary Lawyers Association“ zu dem Thema „Die Rechte der Völker auf Selbstbestimmung und die Kurden“. Der anstößige Absatz lautete: „Die Kurden haben in den vergangenen 200 Jahren für ihre Freiheit, für ein freies Land gekämpft; und sie zahlen dafür heute den Preis….Syrien, Iran und die Türkei beherrschen die Kurden mit eiserner Hand…….. Diese Staaten waren stets in der Lage, ihre politische, ideologische, diplomatische und militärische Macht gegen sie zu vereinen. Es liegt auf der Hand, dass diese gemeinsame Kontrolle nicht Gerechtigkeit hervorbringt, sondern deren konstante Verletzung. Unter diesen Bedingungen ist Widerstand gegen Unterdrückung ein legitimes Recht….“.
Wiewohl sich Besikci, wie kein anderer Türke je, konsequent und dauerhaft für das Selbstbestimmungsrecht der Kurden eingesetzt hat, und dafür von vielen Kurden auch als Held geachtet und verehrt wird, hat er sich doch stets einen politisch völlig unabhängigen Geist bewahrt. So geriet er denn auch in den vergangenen Jahren in Konflikt mit der PKK, die ihn offen kritisiert. Der Vorwurf der Propaganda für diese Bewegung grenzt damit an Absurdität.
Einige Jahre hatte Besikci nun ruhig in Freiheit gelebt und wissenschaftlich gearbeitet, zurückgezogen in seiner Wohnung in Ankara. Das Gefängnis hatte sein ganzes Erwachsenenleben begleitet, insgesamt 17 Jahre lang hatte er – mit Unterbrechungen – in diversen türkischen Haftanstalten gelitten, weil er immer und immer wieder Wahrheiten aussprach, wissenschaftliche Forschungen betrieb, die in der Republik Atatürks bis heute als Tabu, ja als „Staatsverrat“ gelten.
Ismail stammt aus einer konservativen, nationalistischen Familie aus Iskilip in der nordwestlichen Provinz Corum, studierte Politologie in Ankara, einem Institut, aus dem viele hohe Bürokraten und ein Teil der politischen Elite des Landes hervorgingen. Sein Interesse an den kurdischen Mitbürgern erwachte, als er Studentenjobs in der östlichen Provinz Elazig annahm. Die Beobachtung, dass Bezirksgouverneure sich für die Kommunikation mit der lokalen Bevölkerung der Hilfe von Dolmetschern bedienen mussten, weckten erstmals schwere Zweifel an der orthodoxen Staatsdoktrin der unteilbaren Einheit der Türkei und der Leugnung der Existenz eines kurdischen Volkes. Dazu erläuterte Besikci 1992 in einem Vorwort zu einer Neuauflage seiner Dissertation: „Es hieß, die Kurden seien von ihrem Ursprung her Türken und ihre Sprache habe sich aus der türkischen entwickelt. Doch in Elazig wurde ich…..mit völlig anderen sozialen und kulturellen Realitäten konfrontiert: einer anderen Sprache und einer anderen Kultur. Ich sah, dass die Realitäten auf dem Boden und die Behauptungen, die an den Universitäten und in den Medien aufgestellt wurden in Widerspruch miteinander standen. So wurde die Saat fundamentaler Zweifel gelegt, die später erblühen sollte…..“
Seine Doktorarbeit, die nach eigenen Aussagen trotz seiner ersten Erkenntnisse noch von der tief eingetrichterten kemalistischen Ideologie geprägt war, widmete er einem der letzten kurdischen Nomadenstämme, den Alikan. Von da an ließ ihn die Erforschung des kurdischen Volkes nicht mehr los. Er fand 1965 eine Anstellung als Soziologie-Assistent an der Atatürk-Universität in Erzurum, wo er nicht nur wegen seiner marxistischen Neigungen, sondern vor allem wegen seiner Arbeiten, in denen er ausführlich die Eigenständigkeit der kurdischen Sprache und Kultur beschrieb, auffiel. Der Geist, der die Kollegen prägte, die schließlich 1971 seinen Verbannung aus der Universität bewirkten, tritt in einem offenen Brief erschreckend zutage: „In seinen Schriften befasst sich Besikci mit den Kurden. Er erläutert, dass es, abgesehen von der türkischen Nation, eine eigene Nation gäbe, deren Sprache und Kultur anders als die türkische Sprache und Kultur seien. Die angesehensten Autoren und wissenschaftlichen Autoritäten haben jedoch bewiesen, dass diese Thesen wissenschaftlich nicht haltbar sind…. Kurde sein heißt Türke sein. Es gibt auch keine kurdische Sprache….. Diese Person verletzt unsere Würde als Person und Wissenschaftler. Deshalb sind wir an einer Verurteilung und einer entsprechenden Bestrafung dieser Person interessiert.“
Dieser Brief bildete den Auftakt einer Kette von Anklagen und Verurteilungen, die von da an Besikcis Leben prägen sollten. Der junge, hochbegabte Wissenschaftler verlor seine Lehrbefugnis und begann als freier Schriftsteller zu arbeiten. Besikci fristete ein Dasein zwischen Gefängnismauern und kurzen Freiheitsperioden, die er umgehend dazu nutzte, seine Forschungen über die Kurden fortzusetzen und unbeeindruckt vom Repressionsapparat der atatürk’schen Republik seine „staatsverräterischen“ Erkenntnisse über die Kurden zu Papier brachte.
Besikci publizierte eine Serie von Studien (in insgesamt sieben Bänden) über die kemalistische Politik gegenüber den Kurden. „Dies stellt den ersten systematischen Versuch einer ernsthaften Revision republikanischer Geschichte dar, der in der Türkei erschien“, stellt der niederländische Soziologe Martin van Bruinessen fest. Für jede einzelne Veröffentlichung wurde Besikci vor Gericht gezerrt. Erstmals erhielt er 1971 eine 13-jährige Haftstrafe wegen „Verbrechen gegen die Unteilbarkeit der türkischen Nation“, gelangte aber schon drei Jahre später in den Genuß einer Amnestie. Doch die akademische Laufbahn wurde ihm endgültig verwehrt. So setzte Besikci seine Forschung privat fort und fristete ein ökonomisch äußerst dürftiges Dasein.
Besonders schmerzlich muss es diesen unermüdlichen und so mutigen Kämpfer um die Wahrheit getroffen haben, dass sich die Welt der Wissenschaft in seiner Heimat fast vollständig von ihm abwandte. Besikci wurde gemieden und isoliert, weil selbst jene, die seinen Überzeugungen mit Sympathie gegenüberstanden um ihre eigene Zukunft und Existenz fürchteten. Doch auch diese Härte der Einsamkeit konnte ihn nicht bezwingen. Besikci kämpfte weite, forschte weiter, schrieb und sprach weiter und nahm geduldig die harten Konsequenzen auf sich. Er publizierte insgesamt 36 Bücher. 32 davon wurden in der Türkei sofort verboten. Acht mal wurde er verhaftet. Er war der erste Mensch, der wegen der absurden Behauptung, er hätte eine „Ein-Mann-Organisation“ gegründet, verurteilt wurde. Da er die Geldstrafen, mit denen er für jedes seiner verbotenen Bücher belegt wurde, nicht bezahlen konnte, verlängerte sich seine Haft pro Buch um mindestens drei weitere Jahre. In den 70er Jahren wurde er für die Bücher „Die Zwangsumsiedlung der Kurden“ und „Eine türkische Sicht der Geschichte“ verurteilt und 20 Jahre später erhielt er erneut eine Gefängnisstrafe für dieselben Schriften.
Niemals zuvor in der türkischen Geschichte, stellt Bruinessen fest, hätte ein Wissenschaftler, ein Schriftsteller je eine derart endlose Serie von Prozessen und Urteilen für fast jede öffentliche Äußerungen erdulden müssen, wie Besikci. Mit dieser Odyssee für den unbeugsamen Kämpfer um die Wahrheit wollte der türkische Staat offensichtlich ein Exempel statuieren und die Welt der Wissenschaft einschüchtern, sich doch ja nicht an dieses verbotene Thema zu wagen. Ein eindrucksvoller Erfolg blieb nicht aus!
International fanden sich allmählich Stimmen, die sich für ihn einsetzten. 1987 wurde er auch auf die Liste der Kandidaten für den Friedensnobelpreis gesetzt. Unbeeindruckt setzte Besikci seinen Kampf fort und macht zugleich deutlich: „Ich bin ein Intellektueller. Ich schreibe und forsche. Mit Gefängnis können sie mich nicht fertig machen.“
In einem Brief an den deutschen Friedensaktivisten Andreas Buro klagte Besikci 2008, dass es „keine Parallele auf dieser Welt zum Leid der Kurden und Kurdistans“ gäbe, „deren Identität geleugnet wird und deren territorialen Grenzen auf keiner Landkarte aufscheinen“. Und er stellt fest: „Es ist ironisch, dass die Kurden und Kurdistan gerade zu einer Zeit gespalten und geteilt wurden, als die Bolschewiken ebenso wie (der amerikanische) Präsident Woodrow Wilson enthusiastisch das Recht der Völker auf Selbstbestimmung verkündeten. Die klassische Politik des Teile und Herrsche manifestiert sich in Kurdistan als Teile, Herrsche und Vernichte.“
An anderer Stelle beklagt Besikci den „spezifischen türkischen Rassismus“, der „reaktionärer, inhumaner und destruktiver“ sei als einst Südafrikas Apartheid-Politik. „Während man den Schwarzen in Südafrika beibrachte, dass sie anders, eben schwarz, seien und daher getrennt von den Weißen und Farbigen zu leben hätten, trichterte man den Kurden in der Türkei ein, dass sie mit den Türken leben müssten und daher wie sie sein müssten.“ Es sei viel schlimmer, zum Leugnen seiner eigenen Wurzeln gezwungen zu werden, d.h. zur Assimilation, als getrennt leben zu müssen. „Warum vermag sich der spezifische türkische Rassismus auch der kleinsten Veränderung zu widersetzen, während das Apartheid-Regime radikalem Wandel unterzogen werden konnte?“
Bei Beginn seines jüngsten Prozesses im Juli 2010 betonte Besikci in seiner Verteidigungsrede: Die kurdische Existenz werde zwar in den Medien nicht mehr – im Gegensatz zu früher – geleugnet, aber es fehle weiterhin am Willen für eine politische Lösung. Ohne Meinungsfreiheit sei auch keine Öffnung des politischen Lebens in der Türkei möglich. „Das freie Denken, die freie Kritik ist das wichtigste Kriterium der Demokratie.“
Gegenüber den politischen Reformen, die die Türkei auf Druck der EU in die Wege geleitet hat, insbesondere im Bereich des Strafrechts und der Kurdenpolitik, zeigt sich Besikci – das größte Opfer unveränderter staatlicher Repression – wenig überraschend äußerst skeptisch. Und er kritisiert offen die Politik der PKK, die sich auf „kulturelle Forderungen“ beschränkt und die Ansprüche der Kurden durch „Brüderlichkeitsfloskeln“ übertünche. „Die Kurden betonen ihre Forderungen nach Frieden“, obwohl sie „Gleichheit“ fordern müssten. „Das Verständnis über Brüderlichkeit steht diesen Forderungen im Weg und erstickt sie förmlich. Und schon spielt der Staat mit den Kurden, die ‚Brüderlichkeit’ einfordern“ und mahnt sie: „Ihr fordert beständig Brüderlichkeit, warum gehorcht ihr also nicht eurem älteren Bruder.“
Ungeachtet dieser kurdischen Beteuerungen von „Brüderlichkeit“ mit den Türken, geht ja tatsächlich der türkische Assimilierungsprozeß in unverminderter Härte und Konsequenz weiter. Zwar ist jetzt kurdisches Fernsehen erlaubt, dürfen kurdischen Sänger in aller Öffentlichkeit Lieder in Kurdisch singen. Doch kein kurdisches Kind darf bis heute seine Muttersprache in der Schule erlernen.
Besikci drängt die Kurden, ihre politischen Forderungen konsequent vorzubringen, unentwegt auf ihren natürlichen Rechten zu bestehen und diese zu verteidigen, nur so könnten sie „die ablehnende und vernichtende Politik der Türkei bezwingen“.
Besikci, der einzige Türke, der stets treu zu den Kurden gestanden ist, gilt heute als ein wichtiges Symbol für kurdische Selbstbestimmung und für die Menschenrechtsbewegung in der Türkei. Liebevoll nennen ihn manche voll Hochachtung den „Mandela der Kurden“, der den höchsten Einsatz seiner Freiheit nicht einmal für sein eigenes Volk wagt, sondern für ein anderes, das von seinem eigenen unterdrückt wird.
Einige aufgeklärte türkische, kurdische und andere Intellektuelle haben unterdessen weltweit eine Kampagne zur Unterstützung Besikcis unter dem Motto gestartet: „Die Ehre der Wissenschaft wird nicht allein gelassen.“ Und die „Ankara Initiative für Gedankenfreiheit“ verkündet, „Ismail Besikci ist unser Gewissen. Wir werden nicht zulassen, dass unser Gewissen zum Schweigen gebracht wird.“
Freitag, 11. März 2011
Der „Mandela der Kurden“
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