Dienstag, 4. Januar 2011

ÄGYPTEN: Ägyptische Muslime klagen an

Solidaritätsbezeugungen mit den bedrängten Kopten und scharfe Kritik am Regime, das seit Jahrzehnten radikalem islamistischem Gedankengut die Tore öffnete

von Birgit Cerha


Das Blutbad vor einer koptischen Kirche in Alexandria hat die Ägypter aus ihrer selbstgefälligen Lethargie gerissen. Der tiefe Schock, der die Menschen erfasst hat, spiegelt sich seit Tagen in den Medien und er rüttelte Muslime und Kopten zu zahlreichen Initiativen auf, die der wachsenden Kluft zwischen diesen beiden Bevölkerungsgruppen entgegenwirken soll. Politiker, Menschenrechtsaktivisten, Intellektuelle, Künstler und Blogger überstürzen einander mit Solidaritätsbezeugungen mit der bedrängten Minderheit. So verkündete die muslimische Jugendgruppe der regierenden „Nationalen Demokratisch en Partei“ (NDP) ihre Teilnahme an der koptischen Weihnachtsmette in der Nacht auf den 7. Januar. Zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, darunter führende Mitglieder der Moslembruderschaft und des Schura-Rates (des ägyptischen Oberhauses), berühmte Schauspieler und Geschäftsleute sagten bereits demonstrativ ihre Teilnahme an den religiösen Feiern der koptischen Christen zu. Die liberale „Wafd-Partei“ rief den Weihnachtstag zum „Tag der nationalen Einheit“ aus. Muslime und Christen müssten gemeinsam den Terror bekämpfen.

Zahlreiche islamische Gruppierungen des Landes, darunter auch die Moslembrüder, verurteilen seit Tagen den Terrorakt in schärfsten Worten. Sie rufen alle Ägypter auf, angesichts dieser Attacke gegen ihre Heimat zusammen zu stehen. Zugleich aber werden die kritischen Stimmen immer lauter, jene, die nicht mehr der vom autokratischen Herrscher Hosni Mubarak vorgegebenen Linie folgen, die nicht einfach „ausländische“ Missetäter, wie etwa Al-Kaida, für die Katastrophe verantwortlich machen, sondern das Regime und die Gesellschaft auffordern, die tieferliegenden Ursachen aufzudecken. „Es reicht keineswegs, dass muslimische Geistliche christliche Priester umarmen und abküssen“, schreibt die liberale „Al-Wafd“. „Die eigentliche Schlacht, die wir nun schlagen müssen, richtet sich gegen die Spannungen (in der Gesellschaft) provozierende Umwelt“, meint auch Ahmad al-Sawi in der Tageszeitung „Al-Masry al-Youm“. Und die Schar jener wächst, die nach einem echten Dialog zwischen den Muslimen und den Kopten rufen, um endlich die Minderheit von ihren wachsenden Frustrationen – politische, ökonomische und soziale Diskriminierung -  zu befreien.

 Der Schock des Blutbades von Alexandria provoziert eine bemerkenswerte Gewissenserforschung, die so manche tiefe Wunden heilen und noch Schlimmeres verhüten könnte. Unter den Selbstreflexionen sticht vor allem ein Kommentar Hani Shukrallahs in der Online-Ausgabe der angesehenen „Al-Ahram“ hervor. „Ich klage an“, betitelt der Autor seinen Gedankenfluss. „Gute Absichten und Heuchelei (gemeint ist nun immer wieder bekräftigte „ewige Einheit“ zwischen Kopten und ägyptischen Muslimen) werden das nächste Massaker nicht verhindern. Wir können dies nur durch scharfe Selbstkritik und starke Entschlossenheit all das Hässliche in unserer Mitte zu bekämpfen.“ Shukrallah sieht nicht in den „blutrünstigen Kriminellen“ der al-Kaida oder deren Gesinnungsgenossen die Hauptgefahr für Ägyptens christliche Minderheit. „Ich klage die Regierung an, die meint, sie könne die Islamisten (politisch) überflügeln, indem sie sie (durch Förderung radikalen islamischen Gedankenguts) überbietet.“ Parlamentsabgeordnete, zahlreiche nationale und lokale Behörden und Institutionen trügen dafür die Verantwortung. Sie stärkten den fundamentalistischen „Salafi“-Trend, um die gemäßigte Massenbewegung der Moslembrüder zu schwächen. In diesen Kreisen würden auch immer wieder „bigotte anti-koptische Gefühle“ artikuliert, „offenbar, um von den gravierenden Problemen des Landes“ abzulenken. 

Hochemotional wendet sich Shukrallah aber auch gegen „die Millionen der angeblich moderaten Muslime in unserer Gesellschaft, die sich immer mehr im Strudel von Vorurteilen und Engstirnigkeit“ verfingen, die sich in Zorn erheben, um den Bau eines muslimischen Zentrums nahe von „Ground Zero“ in New York zu verhindern, zugleich der ägyptischen Polizei applaudieren, wenn diese den Bau einer Stiege in einer koptischen Kirche verhindert. „Ich beschuldige euch alle, wegen eurer bigotten Blindheit“, der krassen Doppelmoral. Shukrallah verschont auch die liberalen Intellektuellen – Christen wie Muslime – nicht, die zu all diesen Missständen schwiegen, weil sie „die Massen“ nicht verärgern wollten. Die Ägypter müssten endlich Rückgrat zeigen und entschlossen das Schicksal ihrer Nation in die Hand nehmen.



 

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