Sonntag, 19. Dezember 2010

LIBANON: Der Libanon auf Messers Schneide

Die Hochspannung über die unmittelbar erwartete Anklage im Mordfall Ex-Premiers Hariri durch das Internationale Tribunal wächst – Stürzt das Land wieder in einen Bürgerkrieg?

von Birgit Cerha

In der Levante halten die Menschen den Atem an, da das „Sondertribunal für den Libanon“ (STL) zur Aufklärung des Mordes an Ex-Premier Rafik Hariri und 22 anderen Libanesen noch vor oder bald nach Jahresende seine ersten Anklagen erheben wird. Amin Gemayel, einst libanesischer Präsident in hochturbulenten Zeiten, hält die Situation im Land für „die gefährlichste … seit vielen, vielen Jahren“. Spannungen und Ängste quälen die Bürger im ganzen, politisch tief gespaltenen Land. „Hisbollah“, so der politische Analyst Nadim Shehdaheh, „betrachtet das UN-Tribunal als ein amerikanisch-israelisches Komplott gegen ihre Organisation, während (Saad) Hariri (der Sohn des Ermordeten und gegenwärtige Premier) und dessen sunnitische und christliche Anhänger mit Hilfe des Tribunals die Wahrheit hinter dem Attentat zu entlarven hoffen“.

Seit Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah im August verkündete, dass nach seinen Informationen das STL zwei Mitglieder seiner Organisation als Täter anklagen wolle, hat die Spannung im Levantestaat, aufgeheizt durch einen heftigen Verbalkrieg, dramatisch eskaliert.

Nasrallahs Drohung, „die Hände jener abzuhacken, die es wagen sollten, Hisbollah zu berühren“, wird weithin ernst genommen. Wiederholt drängte der Schiitenführer die Regierung, das Tribunal zu boykottieren. Kooperation mit dieser internationalen Institution käme „einem Verrat gleich“. Doch Hariri, unterstützt vor allem von Saudi-Arabien, bleibt entschlossen, die Suche nach Gerechtigkeit und Sühne mit internationaler Hilfe nicht aufzugeben..

Seit Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah im August verkündet hatte, dass nach seinen Informationen das STL zwei Mitglieder seiner Organisation als Täter anklagen wolle, hat die Spannung im Levantestaat, aufgeheizt durch einen heftigen Verbalkrieg, dramatisch eskaliert.

Nasrallahs Drohung, „die Hände jener abzuhacken, die es wagen sollten, Hisbollah zu berühren“, wird weithin ernst genommen. Wiederholt drängte der Schiitenführer die Regierung, das Tribunal zu boykottieren. Kooperation mit dieser internationalen Institution käme „einem Verrat gleich“. Doch Hariri bleibt entschlossen, den Mord an seinem Vater mit Hilfe des STL aufzuklären.

Viele Libanesen befürchten, würden Hisbollah-Mitglieder tatsächlich angeklagt, könnte unkontrollierbare Gewalt ausbrechen. „Das Leben einer Person ist die erneute Zerstörung des Landes nicht wert. Wir wollen leben. Wir wollen, dass auch unsere Kinder leben. Wir alle wollen die Wahrheit wissen, aber wir wollen dafür nicht den Preis von Zehntausenden Menschenleben bezahlen“, umreißt ein Libanese die allgemeine Stimmung. Und vielen wird in diesen Wochen voll bewusst, dass zwar seit zwei Jahrzehnten die Waffen in der Levante schweigen, dass aber der zerstörerische Geist des Bürgerkrieges, der von 1975 bis 1990 mindestens 250.000 Menschenleben gefordert hatte, immer noch fortlebt. Insbesondere zwischen der schiitischen Bevölkerungsmehrheit und den Sunniten hat sich die Kluft dramatisch vertieft. Die Milizen bereiten sich auf eine blutige Konfrontation vor.

Libanons politische Kräfte, selbst Saad Hariri, gestehen im privaten Kreis ein, dass sie das Tribunal am liebsten sofort stoppen würden, um das Land vom Rand Abgrunds zu wegzureißen. Doch das internationale Gerichtsverfahren hat längst seine Eigengesetzlichkeit erreicht.

Das Attentat auf den Autokonvoi Hariris hatte im Februar 2005 die gesamte Region erschüttert. Es löste im Libanon nicht nur die „Zedern-Revolution“ aus, die zu dem demütigen Abzug der syrischen Besatzungstruppen nach fast drei Jahrzehnten führte, sondern stärkte die pro-westlichen Kräfte, die „14.März-Koalition“ unter dem Sunniten Saad Hariri, ermöglichte eine enge amerikanisch-französische Kooperation, die die Einsetzung eines UN-Tribunals zur Aufklärung des Attentats mit Sitz in Den Haag durchsetzte. Hariris Mord wird im Libanon gerne mit dem Attentat auf US-Präsident Kennedy 1963 verglichen, der ebenfalls bis heute ungeklärt blieb.

Die „14. März-Koalition“ und deren ausländische Bündnispartner (Saudi-Arabien, USA, Frankreich) setzten große Hoffnung in das STL. Es sollte in einer von politischen Attentaten gequälten Region einen Präzedenzfall für internationale Gerechtigkeit setzen, im Libanon der Serie von Morden an prominenten anti-syrischen Persönlichkeiten Einhalt gebieten. Vor allem aber hofften Amerikaner und Franzosen, eine Verschiebung der politischen Kräfte in der Region durch Stärkung der pro-westlichen Gruppierungen zu erreichen, damit Syrien zu destabilisieren und Irans wachsenden Einfluss zurückzudämmen – ein Ziel, das Hisbollah zum energischen Kampf gegen das Tribunal motivierte.

Solche Erwartungen erwiesen sich als extrem opitimistisch. Sie ruhten auf einer Fehleinschätzung des tatsächlichen Kräftegleichgewichts im Libanon, der Fähigkeit Syriens, sich internationalem Druck zu widersetzen und der abschreckenden Wirkung des Tribunals. Die Serie politischer Morde riß nicht ab und heute ist Syrien wieder die dominierende Macht in der Levante. Selbst Saad Hariri musste sich mit Damaskus aussöhnen, während Hisbollah mit Vetorecht in der Regierung sitzt und deren Geschäfte jederzeit blockieren kann. Tatsächlich ist das Kabinett seit dem 10. November nicht zusammengetreten. Mitte Dezember wurde eine Regierungssitzung über das Problem der „falschen Zeugen“ wegen Unvereinbarkeit der Standpunkte abgebrochen. Nasrallah fordert die Einvernahmen von Personen, die seiner Überzeugung nach gegenüber STL zu Lasten von Hisbollah falsch ausgesagt hätten. Hariri will davon nichts wissen.

Das Land ist politisch vollends gelähmt. „Finden wir keine Lösung, dann landen wir im dunkelsten aller Tunnels“, klagt der Beiruter „Daily Star“. Beiruter Analysten sind sich einig, dass kein Sieger aus dieser Krise hervorgehen kann. Erfüllt Hariri Nasrallahs Forderungen nach Distanzierung vom STL, wäre dies ein schwerer politischer Schlag, auch für Libanons Sunniten insgesamt. Hisbollah anderseits riskiert einen empfindlichen Gesichtsverlust als heroische Befreiungsbewegung, wenn sie tatenlos der Verhaftung ihrer Mitglieder zusieht. Ihre Anhängerschar im Libanon und darüber hinaus hat sich längst von Nasrallahs israelisch-amerikanischen Verschwörungstheorie zur Vernichtung der Organisation überzeugen lassen.

Nasrallah stehen nun mehrere Optionen offen. Er kann durch totalen Regierungsboykott den Staat vollends lähmen; er kann die Massen seiner Anhänger zu zivilem Ungehorsam aufrufen (schon kündigte die mit Hisbollah verbundene Arbeitergewerkschaft einen Streik gegen Preiserhöhungen an. Zahlreiche Demonstrationen sind für Januar geplant); Nasrallah kann auch wichtige Verkehradern und den Flughafen blockieren; er kann seine Guerillas zu bewaffneter Aktion rufen, Gegner gefangen nehmen, Beirut und andere Landesteile besetzen, wie Hisbollah es kurzfristig im Mai 2008 getan hatte.Doch damit würde Hisbollah viel Sympathie unter den Libanesen verlieren und einen erneuten Bürgerkrieg will Nasrallah offenbar auch nicht riskieren. So schlug er zuletzt versöhnliche Töne an, verurteilte den Mord an Hariri als „nationales Verbrechen“ und stellt zugleich aber siegessicher fest: „Die Verschwörung des STL wird vom Winde weggeblasen“ – was immer dies bedeuten mag.

Der teilweise problematische und äußerst langsame Verlauf der Untersuchungen hat zudem nicht nur im Libanon dem Ansehen des STL Schaden zugefügt. Insbesondere kann Nasrallah die Tatsache für sich nutzen, dass sich nach jüngst durchgesickerten und von der Canadian Broadcast Corporation CBC verbreiteten Informationen die Anklage des Tribunals primär auf abgehörte Mobiltelefonate stützt. Mehrere Mitarbeiter der libanesischen Telekom wurden im Laufe des vergangenen Jahres wegen Spionage für Israel verhaftet und Libanons Telekommunikations-Minister Sherbel Nahhas präsentierte vor der Presse eine Serie von technischen Beweisen, die nach seinen Worten darauf hinwiesen, dass Israel das libanesischen Kommunikationssystem derart unterwandert habe, dass sie „Parasiten“ innerhalb bestehender Linien einpflanzen konnten. Solche Feststellungen erleichtern es Hisbollah, die erwarteten Anklagen durch das Tribunal als von Israel manipulierte Fälschungen abzutun.

„Viel wichtiger als die Mörder Hariris zu finden“ sei es in dieser explosiven Situation einen Weg zu finden, wie die Eskalation der Krise zwischen Sunniten und Schiiten im Libanon gestoppt werden könne, meint Drusenführer Walid Dschumblatt, der sich jüngst von seinem langjährigen Verbündeten Hariri gelöst hat und eine unabhängige Position einnimmt. Genau dies versuchen äußere Kräfte in intensiver Diplomatie, Hisbollahs Gönner Syrien, Hariris engster Verbündeter Saudi-Arabien, das neutrale Katar, ebenso wie die Türken, die Franzosen und die Amerikaner. Ein Kompromiß, der keinem wirklich weh tut, könnte die aktuelle Krise kurzfristig entschärfen. Die Grundprobleme – mangelnde Souveränität und nationale Identität, tiefes gegenseitiges Misstrauen und Manipulationen von außen - lösen, wird er nicht.

Bild: Rafik Hariri

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