Durch seine massive Wahlmanipulation beging das Regime Mubarak einen gavierenden strategischen Fehler – Die empörte Opposition sucht neue Wege
von Birgit Cerha
Mehr als eine Woche nach den Parlamentswahlen in Ägypten, die am 5. Dezember mit einer zweiten Runde endeten, hat sich der Zorn im Land über gravierende Manipulationen nicht gelegt. Ganz im Gegenteil. Dabei sind die Ägypter, die ihr Präsident Mubarak seit drei Jahrzehnten mit Notstandsgesetzen regiert, krasse Übergriffe auf Grundfreiheiten gewöhnt. Freie Wahlen hat es am Nil wohl nie gegeben. Bisher aber hatte sich Mubarak bemüht, den Anschein von Demokratie zu wahren. Diesmal nicht. Das Feigenblatt ist dahin.
„Oh Gott, bitte nimm den Präsidenten zu Dir“, riefen empörte Demonstranten, die aus mehreren Teilen des Landes nach Kairo geströmt waren. Erzfeinde aus den Reihen der Moslembrüder – der stärksten Oppositionsgruppierung – und der Liberalen schlossen einander in die Arme, andere Laizisten, Sozialdemokraten, Mitglieder der Bewegung für Veränderung „Kifaya“ und der „Nationalen Vereinigung für Veränderung“ des ehemaligen Chefs der Internationalen Atomenergiebehörde el Baradei reichen einander die Hände, entschlossen, eine gerichtliche Annullierung der Wahlen durchzusetzen. „Ich glaube, dies ist der Beginn eines Frühlings der Freiheit in diesem Land, denn zum erstenmal finden sich alle Kräfte zusammen“, frohlockt Osama al Ghazali Harb von der „Demokratischen Front-Partei“. Ägypten werde eine Welle des Protests gegen „diese illegale Situation“ erfassen.
Tatsächlich zeigen sich erste Anzeichen, dass diese Wahlen die Ägypter aus ihrer politischen Lethargie herausreißen könnten. „Al Ahram“ berichtet von einer Flut empörter Leserbriefe. Das Regime ist eindeutig zu weit gegangen. 95 Prozent der Abgeordneten im neuen Parlament, das Montag mit seiner ersten Sitzung eröffnet wurde, gehören der regierenden „Nationalen Demokratischen Partei“ (NDP) an. Die Moslembrüder, die im alten Abgeordnetenhaus ein Fünftel der Sitze hatten, schafften den Einzug nicht, ihre Rivalin, die liberale „Wafd“, zog den einzigen gewählten Abgeordneten zurück. Selbst NDP-Mitgliedern ging die Manipulation zu weit. Einige schlossen sich den Protestierenden an.
Unabhängige politische Analysten sind überzeugt, dass das Regime einen schweren strategischen Fehler begangen und damit jegliche Legitimität verloren hat. Baradei, der sich monatelang für demokratische Veränderung eingesetzt und schließlich frustriert für einige Zeit wieder der Heimat den Rücken gekehrt hatte, klagt in einem Online-Video, das Regime habe alle Chancen auf Veränderung abgetötet“. Er fordert die Einheit der Opposition zur Durchsetzung eine Reihe von Forderungen, darunter die Aufhebung der Notstandsgesetze.
Die Gründung eines „Schattenparlaments“ ist geplant, dem u.a. 120 nicht wiedergewählte Abgeordnete angehören sollen, sowie die Erarbeitung eines neuen Verfassungsentwurfs der demokratische Freiheiten garantieren soll.
Ob diese Wahlmanipulation tatsächlich, wie manche Beobachter meinen, fataler Ausdruck höchster Nervosität eines Regimes ist, dessen vom Alter gezeichneter Führer die Nachfolge bis heute nicht zu regeln vermochte, muss vorerst Spekulation bleiben. Fest steht, dass die NDP sich für die Präsidentschaftswahlen in einem Jahr jeglichen Widerstands im Parlament entledigt hat. Zugleich hat sich jüngst immer deutlicher gezeigt, dass dem Präsidentensohn Gamal Mubarak keineswegs auch in höchsten Führungskreisen unumstrittener Kandidat für die Staatsführung ist. Ganz im Gegenteil, der Widerstand gegen ihn zwang den liberalen Ökonomen, sich vermehrt aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Die mächtige alte Garde im Militär- und Sicherheitsapparat favorisiert hingegen den 74-jährigen Geheimdienstchef und engen Präsidentenberater Omar Suleiman, der auch enge Beziehungen zu den USA pflegt. Doch in den vergangenen Monaten begann auch Suleimans Stern zu sinken. So taucht nun ein neuer Anwärter auf: Ahmed Shafiq, gegenwärtig Minister für Zivilluftfahrt und ehemaliger Kommandant der Luftwaffe. Er gilt als Mann mit „guter Reputation“, hart, energisch, ehrlich und zurückhaltend.. Der 69-Jährige verfügt über ausgeprägte Managerbegabung und, so meinen informierte Kreise, die Fähigkeit, zwischen den beiden miteinander offenbar heftig rivalisierenden Machtzentren innerhalb der NDP ausgleichen und vermittelnd zu wirken. Eine solche Integrationsfigur ist als Folge des Wahlschocks dringend von Nöten, um die NDP vor einer zersetzenden Krise zu bewahren.
Montag, 13. Dezember 2010
ÄGYPTEN: Politisches Erwachen am Nil
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