Mittwoch, 27. Oktober 2010

PAKISTAN: Die Häufung von Krisen in Pakistan

von Dr. Arnold Hottinger

Hochflut der staatszersetzenden Kräfte

Die grossen Überschwemmungen in Pakistan sind abgeklungen. Niemand mehr läuft Gefahr zu ertrinken. Doch gegen 20 Millionen der beinahe 150 Millionen Pakistani sind ihres Lebensunterhaltes beraubt, und es sind die Produktivsten der Pakistaner, die Bauern, welche die anderen bisher ernährten. Ihre Gehöfte sind zerstört, ihre Brunnen und Felder mit Schlamm überzogen, ihre Strassen fortgetragen, Elektrizität nicht mehr vorhanden, das Vieh weitgehend ertrunken, ihr Saatgut vernichtet, ihre Gesundheit gefährdet, weil sauberes Trinkwasser fehlt. Für das tägliche Leben sind sie auf Nahrungsverteilungen angewiesen, die nicht immer überall ankommen. Als Behausung verfügen sie besten Falls über Zelte und Hütten, die in riesigen Lagern errichtet wurden, im schlechtesten hausen sie immernoch an den Strassenrändern. Doch die pakistanischen Zeitungen sprechen nicht mehr von ihnen. Vielleicht weil es sich bloss um Bauern handelt, die selbst keine Zeitungen lesen und deren Leben, am Rande des Existenzminimums, den zeitungslesenden Bürgern als eine unabänderliche Gegebenheit gilt. Bauern hat es immer gegeben und sie haben immer ein elendes Leben geführt. Dass dieses Leben nun auf einen Schlag all seiner Voraussetzungen beraubt worden ist, scheint den oberen Schichten nicht wirklich bewusst geworden zu sein. Und wem es voll bewusst wurde, der weiss, das Unglück ist zu gross, als dass er es abwenden könnte.
Die Armee ist eingesprungen, um Leben zu retten, solange die Menschen in akuter Lebensgefahr schwebten. Die Regierung müsste sich nun darum kümmern, dass die pakistanischen Bauern ihre Felder wieder bestellen und ihre Häuser wieder aufrichten könnten. Doch die Regierung hat anderes zu tun. Die riesige Masse der Geschädigten bleibt weitgehend auf sich selbst angewiesen. Sie werden Schulden machen beim Grossgrundbesitzer, sagen viele der Bauern resigniert, und sie werden dann für den Rest ihres Lebens die Schulden abtragen müssen, wenn sie das überhaupt je vermögen. Andere der Obdachlosen werden in die Grossstädte abtreiben und dort die heute schon riesige Zahl der Slumbewohner noch weiter vermehren. Diese Elendsstädte sind bereits gegenwärtig Brutstätten der Gewalt und der Unsicherheit.


Wo bleibt die Regierung?

Dabei ist den Geschädigten klar, dass eigentlich die Regierung eingreifen sollte. Doch sie stellen fest: sie ist nirgends zu sehen, sie kümmert sich nicht um sie. Die Armee trat kurzfristig in die Lücke, indem sie ihre Mittel einsetzte, um Leben zu retten und Zeltlager aufzubauen. Doch dies galt nur für die erste Zeit der akuten Bedrohung durch die Wassermassen. Nun sehen sich die Millionen von Überschwemmungsopfern auf sich selbst angewiesen. Ihre Bitterkeit ist gross. Doch ihre Möglichkeiten, sich zu beklagen sind beschränkt. Niemand spricht für sie, und sie selbst haben kaum Mittel, um sich vernehmbar zu machen. Wenn später wiedereinmal gewählt werden wird, könnten sie theoretisch den heute regierenden Kreisen ihre Stimmen entziehen. Doch wer bis dann überlebt, wird es in der Praxis dann doch nicht tun. Er wird mehr als je auf seinen Grossgrundbesitzer angewiesen sein und ihm seine Stimme geben. Oder auch auf die Gangster Politiker, die in den Elendsstätten das Sagen haben. - Es sei denn der Ruf der Islamisten wird zu ihm gedrungen sein, und sie haben ihn überzeugt, dass das bestehende System verdiene, ausgerottet und umgestürzt zu werden zu Gunsten eines, wie sie verheissen, idealen islamischen Staates, den sie zu organisieren versprechen.

Die Dauerkrise im Norden des Landes

Der Staat ist inzwischen zu seinen Routinekrisen zurückgekehrt. Von ihnen gibt es viele. In der Wahrnehmung der Militärs und vieler patriotischer pakistanischer Bürger ist Indien immernoch die grösste Gefahr. Gegen sie muss man vor allem gerüstet sein. "Die indische Armee", so rechnen die pakistanischen Strategen," muss dadurch beschäftigt werden, dass islamistische Kräfte aus Pakistan sie nie ganz zur Ruhe kommen lassen, nicht in Kaschmir und nicht im übrigen Indien. Wenn das nicht wäre, müssten wir mit neuen Angriffen des uns zahlen- und flächenmässig so sehr überlegenen indischen Feindes rechnen."
Dazu kommt die Krise im Norden, sowohl in den Stammesgebieten wie in Afghanistan und in Beluchistan. Dort wachsen die islamistische und die separatistische Kontestation. Die pakistanische Armee ist sich gewiss, sie vermag sie in Schach zu halten. Doch sie weiss auch, zu ersticken vermag sie diese Bewegungen nicht. Sie muss bemüht sein, ihre Träger, die Stammesleute und die Islamisten, für ihre eigenen Zwecke einzuspannen, zu spalten und zu instrumentalisieren. Um alle Ecken und Enden der weiten und wilden Gebiete des Nordens und des Nordwestens zu kontrollieren, fehlen die Mannschaften. Geld ist vorläufig da, solange die Amerikaner bezahlen.

Bisher war es Pakistan immer gelungen, sich unter den Stammesleuten und den islamistischen Kämpfern Verbündete zu schaffen und diese nach aussen zu wenden, richtung Afghanistan, richtung Kaschmir. Sie alle niederzukämpfen, gilt den Strategen der pakistanischen Armee als eine unbrauchbare Alternative. Die Amerikaner aber glauben daran. Auf die Amerikaner ist man für das Geld angewiesen, das dazu dient, die grosse und teure pakistanische Armee zu unterhalten. Man ist aber auch darauf angewiesen, nicht wirklich und völlig zu tun, was die Amerikaner sehen möchten, nämlich die Armee voll und ganz zur Niederhaltung der Stämme und der islamistischen Kämpfer einzusetzen. Denn man würde dabei eine Niederlage riskieren. Die Pakistani vermuten: am Ende werden die Amerikaner abziehen und sich selbst desinteressieren, wie sie es schon einmal 2002 nach Niederlage der Taleban taten. Doch Pakistan wird seine Nachbarn behalten, Indien und Afghanistan, sowie die schwer zu bändigenden Stammesgebiete.

Die letzten fünf Jahre haben wahrscheinlich vielen pakistanischen Offizieren deutlich gemacht, dass die alten Methoden der Unterordnung und Manipulation der Stämme und ihrer Kämpfer im Falle der Islamisten nicht unbedingt funktionieren. Zuerst sind die von Pakistan geschaffenen und geförderten Taleban in Afghanistan unabhängiger geworden, als die pakistanischen Drahtzieher sich das vorgestellt hatten; dann haben die pakistanischen Taleban sich in den pakistanischen Stammesgebieten hervorgetan und begannen Fühler nach den Städten des Landesinneren auszustrecken: Peschawar, Lahore, Islamabad. Als sie in der Hauptstadt nach längeren Verhandlungsperioden im Juli 2007 mit der Belagerung und Einnahme der Roten Moschee durch die Armee blutig zurückgewiesen wurden, rächten sie sich durch verheerende Selbstmordanschläge in allen pakistanischen Städten, versuchten in Swat einzudringen und nestelten sich in den Grenzgebieten nach Afghanistan dauerhaft ein.

Bekämpfung oder Benützung der Islamisten?

Die Amerikaner drängten darauf, dass die Armee all diese Grenzgebiete sicher stelle und permanent unter ihre Kontrolle bringe. Die pakistanische Armee ging darauf ein, jedoch nur in beschränktem Masse. Da sie nicht gut sagen konnten, das Vorhaben gehe über ihre Mittel, erklärten die Armeesprecher, die Armee werde einschreiten nach ihrem Ermessen und zu der von ihr gewählten, richtigen Zeit. Es gab einige energische Vorstösse in die Grenzregionen, nach Swat im April 2009, wo die ganze Zivilbevölkerung zeitweise evakuiert werden musste, und in Stammeszonen wie Nord- und Süd-Waziristan und Bejaur. Doch dann meldete die Armee, für den Augenblick gedenke sie ihre Offensiven nicht fortzusetzen. Die pakistanischen Taleban führten jedoch ihre vernichtenden Bombenanschläge immer fort bis in die jüngste Zeit.
Die Amerikaner versuchten ihrerseits Druck auszuüben, indem sie ihre Drohnenangriffe auf Positionen in den Stammesgebieten intensivierten, Dies führte unvermeidlich zu zahlreichen Opfern unter der Zivilbevölkerung, weil die islamistischen und die Stammeskämpfer mit der Zivilbevölkerung in den gleichen durch Lehmmauern befestigten Dörfern und Höfen leben. Pakistan protestierte auch gegen die Übergriffe von amerikanischen Helikoptern auf sein Hoheitsgebiet. Schliesslich, nach dem Tod einer Anzahl von pakistanischen Grenzwächtern durch einen amerikanischen Helikopterangriff Anfang September 2010, wurden die pakistanischen Offiziere energisch und drosselten für zwei Wochen den militärischen Nachschub der Amerikaner, der über die Khyberstrasse nach Kabul geleitet wird. Gleichzeitig wurden auch zahlreiche amerikanische Erdöltanker mit ihrer Ladung am Nordrand der Provinz Sind in Brand gesteckt. Daraufhin kam es zu Verhandlungen auf hohem Niveau und zu einer Art von Versöhnung, wie nicht anders zu erwarten war, weil die Amerikaner die Pakistani als Partner im Krieg gegen den Terrorismus und als Nachschubweg nach Afghanistan brauchen, die Pakistani aber auch die Amerikaner als Geldgeber und Waffenquelle für ihre Armee.
Der Umstand, dass die pakistanischen Geheimdienste den Oberhäuptern der afghanischen Taleban in Quetta und anderen Städten Asyl gewähren, trägt zu den Reibungen zwischen den beiden Verbündeten bei. Die Pakistani streiten empört ab, dass sie die Taleban weiter beschützen, doch sie tun nichts, um sie gefangen zu nehmen. Eine Ausnahme gab es, als sie im vergangenen Februar Mullah Beradar, den obersten Einsatzkommandanten der afghanischen Taleban, gefangen setzten. Doch dies geschah offenbar, weil Beradar begonnen hatte, mit den Amerikanern Kontakte aufzunehmen, ohne die Pakistani einzuschalten. Inzwischen verlautete, Beradar werde nach Kabul ausgeliefert, wenn einmal fest stehe, dass er keiner Vergehen in Pakistan schuldig sei.

Die zweite Dauerkrise im Süden

In der stets unruhigen Grossstadt Karachi ist eine neue Unruhewelle ausgebrochen, die bisher zu zahlreichen Mordanschlägen und Gegenschlägen zwischen den seit langer Zeit in der Stadt lebenden Urdu sprechenden ursprünglichen Einwanderern aus Indien und der neueren Einwanderungsbevölkerung von Belutschen und Paschtunen aus den nördlichen Teilen Pakistans und aus Afghanistan geführt hat. In Karachi wird der Ruf nach einer Präsenz der Armee laut, denn der Regierung traut niemand zu, dass sie Ruhe zu halten vermöchte. Doch die Armee sucht zu vermeiden, dass sie sich überall gleichzeitig engagieren muss.

Die Regierung scheint ihrerseits hauptsächlich damit beschäftigt, das weitgehend zerrüttete Regierungssystem durch Reformen wieder zum Funktionieren zu bringen. Präsident Zardari hat seine Regierungskompetenzen auf Wunsch des Parlamentes fast völlig in die Hände des Ministerpräsidenten Yussuf Raza Gilani zurückgelegt, der als ein loyaler Anhänger der Partei der Bhutto Familie (PPP) gilt. Während der diktatorischen Regime unter Pakistans militärischen Präsidenten, hatten diese alle Regierungsmacht in ihren Händen konzentriert. Auf Zardari lastet auch ein Beschluss des Obersten Gerichtshofes, nach dem eine Amnestie der ihm vorgeworfenen Vergehen von Korruption und Bestechlichkeit inkonstitutionell sei und deshalb wieder aufgehoben werden müsse.

In den Fesseln der eigenen Vergangenheit

Gesamthaft gesehen macht Pakistan heute den Eindruck eines Landes, das in seiner Vergangenheit stecken geblieben ist und den Anforderungen der Gegenwart nicht mehr gewachsen scheint. Zwei Anker halten das Land in der Vergangenheit fest: die Grossgrundbesitzer, die nach wie vor das politische System beherrschen, indem sie mit ihren Gefolgsleuten das Parlament besetzt halten und die Armee. Diese wurde aufgebaut und privilegiert mit dem Ziel, Indien die Stirne zu bieten, und sie hält zäh an dieser Bestimmung fest. Die Kampfmethode, die sie dabei seit der Entstehung Pakistans zur Zeit der blutigen Trennung von Indien entwickelte, hat sie auch beibehalten: neben dem Einsatz und der Bereitstellung konventioneller Truppen betreibt sie die Mobilisierung von islamisch motivierten Freiwilligen, wie sie zuerst für die "Befreiung Kaschmirs" zum Einsatz gelangten und seither immer von der Armee gefördert, bewaffnet und eingesetzt werden, noch immer in Kaschmir aber auch in Afghanistan und immerwieder für Terroranschläge in Indien selbst. Im Verlauf der Generationen ist diese Kampfmethode zum festen und als unentbehrlich geltenden Bestand der pakistanischen Strategie geworden, auf den man nicht mehr verzichten zu können glaubt. ISI (Inter Service Information) der Geheimdienst der Streitkräfte, wurde zum Hauptinstrument, das den "informellen" Arm der Armee einsetzt, unterstützt und manipuliert. Indien entwickelte eine Gegenstrategie, die sich auf den indischen militärischen Geheimdienst abstützt.

Die Ausdehnung der islamistischen Ideologie

Die letzten beiden Jahrzehnte brachten jedoch Neuentwicklungen, mit denen die ursprünglichen Einsätze von "Mujahedîn" noch nicht rechnen mussten. Diese sind durch das Umsichgreifen der Ideologie des Islamismus gegeben. Heute bewegt und mobilisiert diese Ideologie immer wachsende Kreise der unteren Mittelschichten. Sie wurde zur revolutionären Ideologie, in dem Sinne dass sie heute den Umsturz der bestehenden Regime betreibt, auch wenn diese sich islamische Regime nennen. Sie gefährdet damit den Status quo in Pakistan selbst, so gut wie in Ägypten, in Saudi Arabien, und in allen islamischen Staaten, in denen sie die Niederwerfung der bestehenden Regierungen betreibt. Diese gelten den heutigen Islamisten als "heidnisch" und sollen durch "islamische" Machtgebilde ersetzt werden, welche die Ideologen der Islamisten selbst aufzubauen und zu betreiben gedenken.

Dies ist eine Neuentwicklung die noch nicht eingetreten war, als die pakistanischen Strategen in den Jahren nach der Gründung Pakistans damit begannen, ihre Macht mit der Hilfe von "islamischen Freiwilligen" , "Mujahidîn" in der Fachsprache, richtung Kaschmir und Indien auszudehnen. Die Leute von ISI scheinen heute gefangen in der Lage des Zauberlehrlings, der seinen Besen zum Wasserträger verhexte, ihm aber nun nicht mehr zu gebieten vermag, seine Aktivität zu beenden. Wie das leicht geschieht, tadeln sie dafür nicht so sehr sich selbst als die Amerikaner. Wenn diese nicht wären mit ihren politischen Absichten und strategischen Plänen, so suchen sie sich selbst zu verteidigen, würden sie, die wohlausgebildete Elite der pakistanischen Offiziere - wie während so vielen Jahren zuvor - mit den "primitiven" Islamisten schon fertig werden. Sie haben nicht völlig unrecht. In der Tat dürfte es die heutige Weltlage sein, mit ihrer Globalisierung, die primär als eine amerikanische Weltordnung auftritt, welche die Umsturzideologie der Islamisten zu einer weit um sich greifenden Denk- und Empfindungsweise hat heranreifen lassen, die heute bei vielen der muslimischen Unter- und Mittelschichten ein Echo findet, weil ihnen ihre heutige Lage als ein Unrecht erscheint, das nur durch eine - wie sie glauben "islamische" - Umwälzung der bestehenden Weltordnung wieder eingerenkt werden könne.

"Amerika" gilt als verantwortlich

Die Schuldzuweisungen an "die Amerikaner" führen dazu, dass die pakistanischen Offizierseliten sich selbst den Weg zur Erkenntnis der heutigen Lage verbauen. Sie neigen dazu, anzunehmen, wenn nur die Amerikaner sie machen liessen, ohne sich einzumischen (aber natürlich doch indem sie weiter bezahlten), dann könnten sie selbst, wie in den früheren Jahren, ihr Spiel mit den Islamisten erfolgreich fortführen. Die Tatsache, dass die Islamisten sich heute in einer ganz anderen Lage befinden, weil ihnen der Wind des Widerstandes gegen den status quo die Segel bläht, wird verkannt. Was eine Änderung der heute veralterten Grundstrategie des pakistanischen Militäretablissements, die dringend notwendig wäre, bisher verhindert hat.

Bildquelle: http://www.buchmesse.taz.de/

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