Montag, 6. September 2010

TÜRKEI: Die Türkei vor einem entscheidenden Referendum

von Dr. Arnold Hottinger

Die Hintergründe des Verfassungsreferendums vom 12. September

Das auf den 12. September bevorstehende Referendum über 26 Verfassungsänderungen in der Türkei soll auf Wunsch der Regierungspartei unter Ministerpräsident Recep Tayyib Erdogan tiefgreifende Reformen im türkischen Rechtswesen und im Bereich der Machtverteilung zwischen Militärs und Regierung einführen. In Erdogans Augen würden diese Verfassungsänderungen die Demokratie im Lande stärken, indem sie dafür sorgten, dass die demokratisch gewählten Politiker und Parlamentarier in Fragen der Besetzung und Kontrolle der Gerichte ein Mitspracherecht erhielten und sie sollen auch sicher stellen, dass die Armee künftig durch die Regierung und die Gerichte kontrolliert werden kann.
Dies war in der Türkei bisher nicht wirklich der Fall. Die Kontrolle über alle Gerichte und das gesamte Rechtswesen einschliesslich Entlassung und Einstellung der Richter und Beaufsichtigung der Aktivität der Staatsanwälte wird von einer "Obersten Behörde der Richter und Staatsanwälte" (Türkisch abgekürzt HSYK) ausgeübt.Sie ernennt auch die Richter des Verfassungsgerichtes. Die bisher sieben Mitglieder dieser Kontrollbehörde werden ihrerseits vom Obersten Appellationsgerichtshof und vom Staatsrat ernannt. Dieser in sich geschlossene Kreis führte über die Jahrzehnte hinweg zu einer Art Kastenkultur, die auch entschieden politische Züge aufweist. Die sich selbst erneuernde und sich selbst kontrollierende Gerichtsbarkeit war von Beginn an und blieb unabänderlich eine starre Verteidigerin des von Atatürk gegründeten säkulären Staates. Die Verfassungsänderungen schlagen vor, dass künftig das Verfassungsgericht von 7 auf 17 Richter vergrössert werde. 14 von Ihnen hätte der Staatspräsident zu bestellen und 3 das Parlament. Auch die Aufsichtsbehörde HSYK würde von 7 auf 22 Mitglieder vergrössert, und diese würden zur Hälfte von den 13000 Richtern des Landes gewählt, zur Hälfte weiterhin vom Obersten Appellationsgerichtshof bestimmt.
Die Gerichtsbarkeit war stets eine mit den Armeespitzen verbündete Macht, denn die Armeeoffiziere beriefen sich ebenfalls auf die Staatsordnung Atatürks und sahen sich als deren Verteidiger an. Auch in den Streitkräften entstand ein vergleichbarer, sich selbst ergänzender Kreislauf von Gleichgesinnten. Die Armee beförderte und ernannte,ihre eigenen Kommandanten, ohne dass die Regierungen dabei Mitsprache übten. Die Armee reinigte sich auch selbst. Offiziere, die den Armeespitzen missfallende politische oder religiöse Tendenzen aufwiesen, wurden ohne Rekursmöglichkeiten entlassen Sie konnten froh sein, wenn sie nicht wegenVerstoss gegen den Säkularismus des Staates vor Gericht gelangten. Es genügte, dass bei Armeekadetten Koranexemplare gefunden wurden, um ganze Jahrgänge von ihnen zu entlassen. Auch Gemahlinnen von Offizieren, die Kopftücher trugen, waren ein Grund für die Entlassung ihrer Gemahle.
Die beiden in sich geschlossenen Berufsstände von Armeeoffizieren und Richtern und Staatsanwälten waren in den vergangenen Jahren, mit Erdogan und seiner Partei, der regiereden Mehrheitspartei der Türkei, bitter zusammengestossen. Die Wächter der Atatürk Orthodoxie warfen der gewählten Regierung vor, sie verstosse gegen den Verfassungsgrundsatz des Säkularismus, der in der Türkei "Laizismus" genannt wird. Wenn sie sich gegenwärtig noch eingermassen daran halte, so ihre politischen Widersacher, sei es doch ihre Absicht, den Staat zu islamisieren, sobald sie die Macht dazu habe. Der Oberste Gerichtshof hätte 2007 beinahe die frisch wiedergewählte Regierungspartei Erdogans verboten und ihren Führern ein Politverbot auferlegt. Nur durch die Stimmen von dreien der sieben Richter, die für eine mildere Strafe eintraten und die eines einzigen, der für Freispruch votierte, kam die Regierungspartei damals mit einem Verweis und mit Geldbussen davon.

Die Regierung setzt sich gegen die Streitkräfte durch
Die Offiziere stiessen im vergangenen August zum letzten Mal, möglicherweise entscheidend, mit der Regierung zusammen. Damals sprachen sich der Staatchefs und der Ministerpräsident gegen einen der Offiziere aus, den seine Kollegen zum Generalstabschef ernennen wollten. Die zivilen Behörden warfen ihm vor, er sei in Verschwörungsmanöver gegen sie verwickelt. Ein paar Tage lang gab es geheime Sitzungen zwischen den Militärspitzen und den gewählten Häuptern der Regierung. Was genau geschah, ist nicht bekannt. Der Kandidat der Armee wurde nicht ernannt. Die Armee wurde zum Nachgeben gezwungen. Ein Armeeputsch, den Manche befürchteten, fand nicht statt. Zu den vorgeschlagenen Verfassungsänderungen gehört auch, dass entlassene Offiziere die Gerichte gegen ihre Entlassung anrufen können, und dass allgemein die Armeegerichtsbarkeit auf militärische Angelegenheiten beschränkt werden soll, während zivile oder administrative Vergehen von aktiven Armeeoffizieren vor die zivile Gerichtsbarkeit kämen. Dazu gehörten auch Putschversuche oder Putschpläne und Putschvorbereitungen. Ebenso soll es künftig allen türkischen Bürgern erlaubt sein, gegen Machtmissbrauch aller Autoritäten des Staates an die Gerichte zu appellieren.

Ergenekon
Zum Hintergrund der bitteren Auseinandersetzung zwischen Regierung und Streitkräften gehört der Monsterprozess des Ergenekon. Die Regierung liess seit 2007 Dutzende von Offizieren, meist pensionierte, aber auch einige noch aktive, verhaften und unter Anklage stellen. Der Verdacht lautete, sie hätten versucht, die politische Stimmung durch Unruhestiftung und Anschläge so zu beeinflussen, dass ein Armeeputsch möglich geworden wäre. Andere Anklagen drehen sich um die Urheberschaft von politischen Mordaktionen und geheime Ansammlungen von Kriegswaffen, die in den vergangenen Jahren zu konspirativen politischen Zwecken versteckt worden seien.
In der Türkei gibt es seit Jahren den Begriff des "tiefen Staates". Gemeint ist damit ein Geflecht aus Geheimdienstoffizieren, mafiösen Verbrechern und hohen Armeevertretern, das Aktionen durchführt, oftmals sind es Mordaktionen an politisch Unliebsamen, sehr häufig Kurden, die unaufgeklärt bleiben. Nur gelegentlich kam es zu Einblicken in diese Machenschaften, wenn Einiges davon nicht plangemäss ablief, und die Presse dadurch Gelegenheit erhielt, Einzelheiten aufzudecken. Doch gerichtliche Verfolgungen der mutmasslichen Täter fanden nicht statt. Bisher konnten aktive Armeeoffiziere nur von Armeegerichten verurteilt werden.
Ergenekon, ein alttürkisches Wort, das den Ort eines Ursprungsmythos der Türken bezeichnet, soll der Name eines geheimen Verschwörernetzes von Offizieren gewesen sein. Die Untersuchungen über die Angelegenheit laufen noch immer und weiten sich aus. Sie werden in den Augen der Regierung dadurch erschwert, dass die obersten Aufsichtsbehörden des Rechtswesens, des erwähnten HSYK, Druck auf die ihnen untergeordneten Beamten ausüben, besonders auf die von der Regierung mit den Nachforschungen betrauten Staatsanwälte, so dass diese befürchten müssen, sie könnten entlassen werden, wenn sie zu forsch vorgehen. Die Regierung versucht ihrerseits, die Staatsanwälte unter Gegendruck zu stellen, um zu vermeiden, dass ihre Untersuchungen im Sand verlaufen.
Man sieht, im Komplex der Ergenekon Prozesse kommt es zu einer Verschränkung der beiden sich selbst ergänzenden und auf die Atatürk Linie eingeschworenen Stände, jenes der Richter und jenes der Offiziere. Die Offiziere haben in der Vergangenheit ihre Machtposition auch dazu genützt, sich selbst bedeutende wirtschaftliche Vorteile zu verchaffen. Die Atatürk Linie hat natürlich auch ihre Anhänger unter den türkischen Zivilisten. Alle Oppositionsparteien berufen sich auf sie. Sie werben für ein "Nein" im Referendum. Sie werfen der Regierung vor, ihr Referendum solle nur dazu dienen, ihre Macht zu verstärken und allen Widerstand gegen sie zu brechen, um schlussendlich aus der Türkei wieder einen islamischen Staat zu machen und das Erbe Atatürks zu vernichten.

Die widersprüchliche Haltung der Kurden
Die Kurdenfrage, immer ein Hauptproblem der Türkei, führte zu einer weiteren Komplikation für die Aussichten des Referendums. In früheren Jahren haben viele Kurden ihre Stimmen, die einen bedeutenden Anteil aller Stimmen in der Türkei ausmachen, zu Gunsten von Erdogan eingelegt, weil sie sich von seinem Demokratieprogramm mehr Gerechtigkeit und Freiheit für ihre Anliegen versprachen. Die Armee und die Gerichtsbarkeit sind bittere Feinde aller kurdischen Autonomiebestrebungen. Doch die Friedenspläne der Regierung für die Kurden brachen zusammen, bevor sie noch Realität gewannen. Ein Schritt dabei war, dass das Verfassungsgericht die Partei der PKK nahen Kurden verbot und viele ihrer Politiker eingekerkert wurden. Es gab auch Kämpfer aus dem Exil, die heimkehrten und ihre Waffen niederlegten, weil sie auf die Zusagen der Regierung bauten. Doch die Gerichtsbehörden klagten sie an und sorgten für ihre Verurteilung trotz den Amnestieversprechen der Regierung. Seit Juli dieses Jahres haben die Kämpfer der PKK ihre Anschläge auf die türkische Armee wieder aufgenommen, und diese steht erneut in einem blutigen Ringen mit den kurdischen Extremisten. Dabei wird ,wie schon oft früher, die Linie zwischen Extremisten und Befürwortern einer kurdischen Selbstverwaltung von der Armee ignoriert. Alle politisch aktiven Kurden gelten ihr als Separatisten oder potentielle Sepataristen und werden entsprechend verfolgt.
Angesichts der neuen Anschläge auf die Armee hat sich auch Erdogan scharf gegen die kurdischen Rebellen gewandt. Die verbotene, den Kämpfern nahestehende Kurdenpartei trat erneut unter neuem Namen und neuen Anführern zusammen. Sie heisst heute harmlos genug Demokratische Friedenspartei (türkisch abgekürzt BDP). Ihre Führer sind so entäuscht über die Haltung des Regierungschefs gegenüber den Kurden, dass sie die Parole der Stimmenthaltung für das Referendum ausgaben, obwohl ihre bittersten Feinde gerade die Institutionen sind, die durch das Referendum an Macht verlieren sollen, Armee und Gerichtsbarkeit. Möglicherweise hofften die BDP Führer durch ihre Enthaltungsparole den Regierungschef zu Konzessionen gegenüber den kurdischen Belangen zu veranlassen. Doch er hat solche nicht angeboten, und ihre Enthaltungsparole wurde nicht zurückgenommen.
Man weiss nicht, wieviele der geschätzten 15 Millionen von türkischen Kurden sich an die Parole der PKK nahen Kräfte halten und wieviele doch für das Referendum stimmen werden. Möglicherweise hängen Sieg oder Niederlage der Regierungspartei von ihrer Entscheidung ab. Wenn die Regierung das Referendum verlieren sollte, würde dies den politischen Beobachtern auch als ein schlechtes Vorzeichen für die Parlametnswahlen gelten, die auf Juli 2011 bevorstehen.

Ein entscheidender Höhepunkt
Das Referendum hat den seit 2002 tobenden Kampf zwischen der parlamentarischen Mehrheit, und deren Regierung, gebildet durch die islamische demokratische Partei Erdogans, (offziell heisst sie Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei, türkisch abgekürzt AKP) und den starren aber immer noch mächtigen Institutionen aus der Atatürk Zeit, vor allem Armee und Gerichtlichkeit, auf einen entscheidenden Höhepunkt gebracht. Wenn der Regierungschef das Referendum verliert, was nicht ausgeschlossen werden kann, die Umfragen lassen alles offen, besteht eine ernste Gefahr, dass die Türkei in eine gelenkte Demokratie zurückfallen könnte, ähnlich wie sie vor 87 Jahren zu Atatürks Zeiten begann,. Die Möglichkeiten eines Anschlusses an die EG, zur Zeit wohl ohnehin eher beschränkt, würden damit, so gut wie zu Ende sein. Doch für die Türkei selbst wären die Folgen noch schwerwiegender. Eine echte Demokratie wäre auf diesem Wege nicht aufzubauen, und damit wären die Aussichten auf eine wirtschaftliche und kulturelle Moderne für die Türkei so ziemlich versperrt. Die Entwicklung in der Türkei ist auch für die gesamte islamische Welt von Bedeutung, denn der Türkei ist es seit dem ersten Wahlsieg von Erdogan im Jahre 2002 gelungen, als einer von wenigen islamischen Staaten und fast der einzige im Nahen Osten, Islam und Demokratie zu vereinbaren. Eine echte Demokratie schien zu entstehen, welche die Wünsche und Anliegen der muslimischen Mehrheit in ihre Politk einbezog.

Bildquelle: DPA

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