Donnerstag, 16. September 2010

IRAK: Gefangen im blutigen Erbe der Tyrannei

Warum der Irak die Kultur der Gewalt nicht abzuschütteln vermag – Signale für eine düstere Zukunft

von Birgit Cerha

Der Irak sollte ein Vorbild an Freiheit, Toleranz und Achtung der Menschenrechte werden, ein „Leuchtfeuer der Demokratie“ entzünden, das die gesamte Region von Despotie befreien würde. So schwärmte einst US-Präsident Bush, um die Welt für seinen Krieg gegen den Bagdader Diktator Saddam Hussein zu motivieren. Eine Bilanz mehr als sieben Jahre nach der Befreiung vom saddam’schen Regime lässt erschaudern. Humanitäre Organisationen liefern grauenvolle Beweise dafür, dass der „neue Irak“ die Menschenrechte mit Füßen trampelt, wie wenige andere Länder der Welt. Bushs Vision wurde zum Alptraum. Heute steht der Irak bei der Vollstreckung der Todesstrafe weltweit an zweiter Stelle. Allein 2009 wurden – nach offiziellen Angaben - 79 Menschen gehenkt, an die 900, darunter 17 Frauen, warten derzeit in Gefängnissen auf ihre Exekution. Die erste Übergangsregierung unter Iyad Allawi hatte 2004 rasch wieder die von der US-Verwaltung nach dem Sturz des Regimes 2003 abgeschaffte Todesstrafe wieder eingeführt und entschieden weigert sich die Regierung sie erneut zu suspendieren, um internationalen Menschenrechts-Standards gerecht zu werden. Denn den meisten Exekutionen gehen Verfahren voraus, die einem Rechtsstaat Hohn sprechen. Urteile werden meist auf durch Folter erzwungenen Geständnissen verhängt oder auf Aussagen von Geheiminformanten, fast nie jedoch auf der Basis von Beweisen.
Die Liste der Klagen von Menschenrechtsorganisationen ist lang und erschütternd: Derzeit schmachten mehr als 30.000 Gefangene in katastrophal überfüllten Anstalten unter menschenverachtenden Bedingungen, ein großer Teil davon seit Jahren ohne Gerichtsverfahren, ohne Rechtsbeistand. Besonders brutale Foltermethoden, wiederholt mit Todesfolgen zählen zur Routine, ebenso wie wiederholte Vergewaltigungen von gefangenen Frauen, aber auch Männern.

Die Aufdeckung eines Geheimgefängnisses am früheren Flughafen Muthanna, westlich von Bagdad, wo 430 arabische Sunniten aus Niniveh, einer Al-Kaida Hochburg, unter Aufsicht einer Premier Maliki unterstehenden Behörde monatelang schwerste Folterqualen durchlitten hatten, bewog Joe Stock von Human Rights Watch zu der alarmierten Feststellung: Was hier „geschehen ist, ist ein Beispiel für gerade jene grausigen Misshandlungen, die die irakische Führung hinter sich lassen wollte“. Tatsächlich: Terror durch Massenfestnahmen, Folter und Misshandlungen sind Markenzeichen des „neuen Iraks“ geworden, insbesondere unter Maliki geworden. Jene, die Untersuchungen des Missbrauchs anstreben, werden bedroht oder ermordet, dem Roten Kreuz wird der Zugang zu Gefängnissen verwehrt. Amerikanische Geheimdienstkreise schätzen, dass 70 bis 90 Prozent der irakischen Gefangenen „irrtümlich“ im Zuge von Massenverhaftungen im Netz der Justiz verstrickt werden.

Was, so fragen sich unabhängige Beobachter und viele Iraker, hat sich denn überhaupt verbessert, seit das Zweistromland von einem der brutalsten Diktatoren des vergangenen Jahrhunderts befreit wurden, seit Politiker an den Hebeln der Macht in Bagdad sitzen, die Saddams Brutalitäten am eigenen Leib erlitten, in seinen Gefängnissen geschmachtet hatten oder ihr Leben nur durch Flucht ins Ausland retten konnten?

Nach dem Sturz des Baath-Regimes 2003 hatte die US-Besatzung das alte Justizsystem systematisch zerstört und durch ein neues ersetzt, das internationalen Rechtsnormen entspricht. Richter und 50 Prozent aller Anwälte verloren ihre Posten. Bis heute fehlt es deshalb an geschultem Personal, um die Masse der Gefangenen in fairen Prozessen abzuurteilen oder freizulassen, vor allem aber fehlt es an der Bereitschaft, die neuen Regeln eines Rechtsstaates einzuhalten, die Justiz krasser politischer Manipulation zu entziehen. Das Rechtssystem des „neuen Irak“, verseucht auch durch gravierende Korruption, „funktioniert fast nicht“, stellt ein internationaler Rechtsexperte fest.

Das Land ist fatal verstrickt im grausigen Erbe der Saddam-Despotie. Der Diktator hatte bei seinen Bemühungen, die irakische Gesellschaft und Kultur nach seinen Vorstellungen zu gestalten, Gewalt glorifiziert und zudem während der 12-jährigen internationalen Sanktionen zu deren Umgehung Kriminalität massiv gefördert. Seit dem ersten Militärputsch General Bakr Sidqis 1936 in Bagdad spielte Gewalt in der politischen Kultur des Landes eine entscheidende Rolle. Sie erhielt in dem Chaos, das dem Sturz der Baath vor sieben Jahren folgte, u.a. auch durch eine Verstärkung der Rolle der Stämme und deren Traditionen von Blutrache und Intoleranz gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen eine neue Dimension. Der bürgerkrieg hat die Kultur der Gewalt noch tiefer in die Gesellschaft eingebettet.

Die politisch Verantwortlichen schafften es nicht, einen dringend nötigen nationalen Versöhnungsprozess einzuleiten, um die Basis für ein friedliches Zusammenleben zu bereiten.

In den staatlichen Institutionen, insbesondere in den Sicherheitskräften fehlen Gefühle nationaler Identität fast vollends. Loyalitäten richten sich nach ethnischen Kriterien, Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft oder politischen Gruppe.

Die Gefängnisse wurden zu Brutstätten neuen Extremismus. Unter den misshandelten, meist unschuldig festgehaltenen Häftlingen findet al-Kaidas radikale Botschaft fruchtbaren Boden. Der Haß auf die Herrscher im neuen Irak wächst, je unerträglicher die Qual der Gefangenen wird. Und viele der Mächtigen, die ihre Hände mit dem Blut Unschuldiger befleckt haben, sitzen ungeschoren weiterhin an den Schalthebeln. Niemand wagt es, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Kann der „neue Irak“ so den Weg zu Stabilität, zum Frieden finden, von Demokratie, Toleranz und Achtung der Menschenrechte ganz zu schweigen? Fällt das Land zurück in eine neue Despotie? Das sind die Fragen, die den Menschen heute nach hunderttausenden Toten auf der Seele lasten.

Bildquelle: AFP

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