Nach dem Rückzug der US-Kampftruppen, können die irakischen Sicherheitskräfte ihr zerrüttetes Land selbst stabilisieren?
von Birgit Cerha
„Ich mache mir große Sorgen. Sie haben uns viel zu früh den Rücken gekehrt und uns voll unseren Problemen überlassen.“ Alarmiert fasst eine irakische Intellektuelle weit verbreitete Gefühle zusammen: Enttäuschung über den Rückzug der US-Kampftruppen, Bitterkeit und Angst vor einem neuen Trauma. Manche halten gar den nun vollzogenen Rückzug der US-Kampftruppen aus dem Zweistromland „für unverantwortlich“, motiviert ausschließlich durch interne politische Erwägungen und „nicht die Entwicklungen vor Ort“, klagt etwa der kurdische Abgeordnete Mahmud Othman.
Immerhin, so sinniert der Künstler Ghalib al-Mansuri düster, „die Iraker schmachten weiterhin in der Hölle“. Er meint damit nicht nur die jüngste Serie von Anschlägen, die 500 Toten, die der erneut aufgeflammte Terror allein im Juli forderte. Er meint auch die anhaltende Unfähigkeit des Staates, lebenswichtigen Dienstleistungen zu liefern: ausreichend Strom, sauberes Wasser, Müllabfuhr.
Die totale politische Paralyse (sechs Monate nach den Parlamentswahlen immer noch keine Regierung) verstärkt die weit verbreiteten Gefühle der Unsicherheit, vertieft die Kluft zwischen der politischen Elite und dem Volk, das sich des Eindrucks kaum noch entziehen kann, seine demokratisch gewählten Führer sorgten sich nur um ihre eigene Macht und ihre Privilegien. Je länger diese Situation anhält, desto mehr droht dieser Staat seine Legitimität zu verlieren.
Ein Beispiel mag die enormen Gefahren dieser politischen Paralyse eindrucksvoll zu illustrieren. „Nun herrscht hier das Gesetz des Rechts“, triumphierte ein hoher Regierungsvertreter jüngst, als die Amerikaner in einer feierlichen Zeremonie der irakischen Führung die Kontrolle über die letzten von ihnen festgehaltenen Gefangenen übergaben. Fünf Tage später entkamen vier der gefährlichsten Häftlinge. Und mit ihnen, Terroristen des irakischen Al-Kaida Zweiges „Islamischer Staat des Iraks“, verschwand auch der Gefängnisaufseher.
David Kilcullen, einst Berater der US-Kontra-Guerilla im Irak, stimmt dennoch der politischen Führung in Bagdad zu: Die von den USA aufgebauten „Regierungstruppen sind heute in der Lage, für die Sicherheit des Landes zu sorgen“. Immerhin hätten sie dies seit Juni 2009 bewiesen, seit sich die US-Truppen aus den Städten zurückzogen. Hatten sie nicht im Februar für ruhige Parlamentswahlen gesorgt? Waren ihnen nicht jüngst auch triumphale Schläge gegen den Widerstand gelungen? So wurde im April ein Komplott zur Kamikaze-Attacke der heiligsten schiitischen Stätten in Kerbala und Nadschaf mit gekaperten Flugzeugen vereitelt. Wenig später stärkte die Tötung von drei irakischen Al-Kaida Führern mit Hilfe von US-Einheiten das Selbstbewusstsein der heimischen Sicherheitskräfte.
Doch Skepsis ist angebracht. Fast 20 Mrd. Dollar hatten die Amerikaner zum Aufbau der Armee- und Polizeieinheiten von 400.000 Mann investiert. Training und Ausrüstung geben Hoffnung. Nicht aber die Loyalität zum irakischen Staat. Die Sicherheitskräfte seien trotz massiver Säuberungen „immer noch durchsetzt von Terroristen“, klagt Ex-Premier Iyad Allawi. Die Loyalität zu diversen nach Religionszugehörigkeit orientierten Bewegungen oder gewalttätigen Widerstandsgruppen ist überwältigend stark.
Um den enormen Herausforderungen gewachsen zu sein, will das Verteidigungsministerium die Streitkräfte von derzeit 260.000 auf 300.000 aufstocken. An interessierte Rekruten fehlt es in einem Land mit einer Jugendarbeitslosigkeit von fast 50 Prozent nicht. Doch wie andere staatliche Institutionen ist auch die Führung der Sicherheitskräfte von Korruption und Nepotismus verseucht. Der parlamentarische Sicherheitsexperte Ammar Tohme wird nicht müde, die Missstände anzuprangern, allen voran die Praxis von „Schmiergeldzahlungen von Soldaten an ihre Offiziere, um militärischen Verpflichtungen, insbesondere in Fällen verstärkter Gewalt, zu entgehen“.
Das offene Eingeständnis des Generalstabschefs Babaker Zebari, dass seine Einheiten aus eigener Kraft derzeit die Sicherheit nicht garantieren könnten („die US-Armee muss bis 2020“ bleiben) gibt Anlass zu heftigen Diskussionen. Hat der General nur die Verteidigung des Iraks gegenüber Feinden von außen gemeint? Kein Zweifel, die Lufthoheit werden die Iraker noch jahrelang nur mit Hilfe der Amerikaner, die mit 50.000 Mann bis 2011 weiterhin als „Berater“ bereitstehen, sichern können, da sie vorerst keine eigene Luftwaffe besitzen. Hier zeigt sich ein gravierendes Hemmnis beim Aufbau einer schlagkräftigen Streitkraft. Abdul Karim al-Samaraei, Vizepräsident des parlamentarischen Sicherheitskomitees, bestätigt Behauptungen aus Militärkreisen, dass „mächtige politische Parteien“ den Aufbau einer starken Streitkraft zu verhindern suchten. Gemeint sind die Kurden, jahrzehntelang Opfer genozidartiger Kampagnen durch die irakische Armee, aber auch pro-iranische Schiiten, die sich an der Sorge des einstigen Kriegsgegners vor einem militärisch erstarkenden Irak orientieren. Nationale Versöhnung hat im Irak nicht einmal begonnen. Im Gegenteil: Hass und Misstrauen wachsen.
Die Gefahren für Iraks Stabilität sind vielfältig. Al-Kaida ist zwar empfindlich geschwächt, doch – so US-General Patrick Higgins – „ihre Zellenstruktur ist weiterhin intakt“ und sie umwirbt eifrig frustrierte arabisch-sunnitische „Söhne des Iraks“, die von den USA für den Anti-Terror-Kampf engagiert worden waren und nun, verzweifelt um Existenz ringend, vielfach vergeblich auf die versprochene Anstellung und Bezahlung durch den Staat warten.
Ungelöst und potentiell höchst explosiv sind die Konflikte zwischen Kurden und irakischen Arabern. Durch gemeinsame Patrouillen mit kurdischen Peschmergas und Regierungssoldaten versuchen US-Einheiten auch weiterhin Zusammenstöße in den von Kurden beanspruchten „umstrittenen Gebieten“ südlich des autonomen Kurdistan, insbesondere in der Ölstadt Kirkuk, zu verhindern. Auch nach sieben Jahren liegt eine politische Lösung in weiter Ferne. Der Streit um Kirkuk verhindert auch die Verabschiedung eines für ausländische Investitionen entscheidenden Ölgesetzes, wie eine Regelung des Verfassungsstreits: Die Kurden beharren auf einer Föderation mit einer schwachen Zentralregierung. Die arabischen Sunniten und viele Schiiten lehnen dies ab.
Instabilität und der Streit um ein Ölgesetz haben die Sanierung der Ölfelder und Ausweitung der Produktion mit Hilfe internationaler Konzerne verzögert. Während die Kurdische Regionalregierung sich schon vor Jahren zum Alleingang entschloss, hat Bagdad Ende 2009 ebenfalls Service-Verträge für die Produktion im Süden abgeschlossen. Dennoch rechnen Experten nicht damit, dass der Irak seine Ölförderung vor 2013 entscheidend über den Vorkriegsstand von etwas mehr als zwei Mio.Barrel im Tag steigern kann. Eine internationale Auktion für die Ausbeutung von zwei Gasfeldern ist für den 1. Oktober angesetzt.
Öl und Gas liefern 90 Prozent der staatlichen Einkünfte. Dank eines Rückgangs der Gewalt in der ersten Jahreshälfte konnten in anderen Bereichen, Einzelhandel und Kleinindustrie, schwache Fortschritte erzielt werden. Insgesamt wuchs die Wirtschaft im vergangenen Jahr um fünf Prozent. Dramatisch ist aber der Kollaps der Landwirtschaft, teilweise bedingt durch gravierende Trockenheit, die Tausenden Bauern ihre Existenz raubt. Insgesamt leben schon jetzt 23 Prozent der Bevölkerung – etwa sieben Millionen Menschen – unter der Armutsgrenze von 2,2 Dollar pro Tag.
Iraks Gesellschaft ist von Kriegen und Sanktionen schwer gezeichnet. Die Jugend – fast 50 Prozent der Bevölkerung ist unter 19 Jahre alt – hat nur Chaos kennen gelernt. Der Irak, der sich einst des höchsten Bildungsniveaus in der arabischen Welt rühmen konnte, weist heute die höchste Analphabetenrate (26 Prozent) unter Frauen in der Region auf. 300.000 der Zehn- bis 18-Jährigen ging niemals zur Schule. 65 Prozent der Jugend steht Computern ratlos gegenüber. „Ein großer Teil der männlichen Bevölkerung kann nur mit Waffen arbeiten. Sie können sehr gut töten“, klagt Yanar Mohammed von der Organisation „Frauen-Freiheit im Irak“.
Höchst alarmiert stellt auch die US-Botschaft in Bagdad fest: Wenn der Staat das Bildungssystem nicht endlich neu aufbaue, werde sich die heranwachsende Generation als das größte Hindernis für Frieden, Stabilität und Wirtschaftswachstum erweisen.
Bildquelle: Atlantic Council
Montag, 23. August 2010
IRAK: „Sie überlassen uns voll unseren Problemen“
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