von Dr. Arnold Hottinger
Um die Hindernisse zu begreifen, die einer rationalen Lösung der nun schon über ein Jahrhundert alten Palästina-Israel Frage entgegenstehen, ist es nützlich, auf die tief sitzenden Selbstbilder hinzuweisen, welche sich beide Seiten von sich selbst und von einander machen. Aus diesen Selbstbildern geht eine eigene Sicht der jüngsten Geschichte hervor, welche beide Seiten leidenschaftlich aufbauen, verteidigen und fortentwickeln. Man kann diese doppelte Sicht als zwei einander völlig widersprechende „Erzählungen“ des vergangenen Jahrhunderts und der heute bestehenden Gegenwart beschreiben.
Beide „Erzählungen“ sind natürlich geprägt und geformt durch die Erfahrungen, welche beide Seiten, eine jede für sich, in der nun schon über drei Generationen lang andauerden Auseinadersetzung gemacht haben - oder genauer, glauben gemacht zu haben. Sie haben aber zugleich auch tiefere Wurzeln in der Geschichte der beiden Gegner. Sie gehen auf beiden Seiten auf die Zeiten vor ihrer Auseinandersetzung um Palästina zurück, - wobei auf beiden Seiten sowohl die reale, faktisch nachweisbare Vergangenheit wie auch, und dies in einem viel stärkeren Masse, volkstümliche, mythische und religiös bestimmte Geschichtsversionen und Geschichtsperversionen die Selbstsicht bestimmen.
Die Sicht aus Israel
Die israelische „Erzählung“ umfasst Grundelemente wie:
1) die permanente Verfolgung der Juden sowohl in alten Zeiten wie auch in der jüngsten Vergangenheit, wobei der Holocaust als zentrale Figur und Essenz aller Leiden und alles Unrechtes steht, die den Juden von nicht-Juden angetan wurden.
2) Ein anderes Grundelement ist die enge Verbindung, die immer zwischen dem Heiligen Land und dem Judentum bestanden habe, wobei bewusst oder unbewusst die historische Ebene von, kurzfristiger, realer Herrschaft über das Land und die, ganz andere, seiner religiösen Bedeutung für das Judentum während Jahrhunderten später, miteinander vermischt werden. So dass aus der religiösen Bedeutung auch eine Art von Herschaftsanspruch konstruiert werden kann.
3) Zur dieser Erzählung gehören auch „Auslassungen“, das heisst Dinge, die nicht in die Erzählung passen und daher ausgelassen oder stark unterbetont werden; etwa die guten 1700 Jahre nicht jüdischer Geschichte, welche sich in Palästina abwickelten.
4) Weiter werden spezifisch zionistische Mythen einbezogen, so jener vom „Land ohne Volk“, das „leer und unbebaut“ auf „sein Volk“ warte; der verwandte von der Begrünung der Wüste durch die zionistischen Siedler; der vom Kampf Davids gegen Goliath, welcher wunderbarerweise für David erfolgreich zu Ende ging. Der von der „Notwendigkeit eines Staates“ für das „jüdische Volk“, und besonders der von der beständigen „Existenziellen Bedrohung“, der dieser Staat von jeher und bis heute ausgesetzt war und weiterhin sei.
5) Auch negative Stereotypen gehören zu dieser Gesamterzählung, jener vom „übelwollenden Araber“, der oft mit Hitler verglichen und mit dem Holokaust in Verbindungen gebracht wird. Der gleiche negative Stereotyp erscheint auch ausgeweitet auf die ganze nicht-jüdische Welt, die „uns immer übel gesonnen ist“, „oder es jedenfalls bisher immer, oder fast immer war“.
Mythos und Realität
Als „Mythos“ bezeichnen wir hier eine Erzählung, die für wahr gehalten wird, obwohl sie –in vielen Fällen nachweisbar – weitgehend oder total aus Phantasiegebilden besteht; jedenfalls nicht nur aus nachprüfbaren Tatsachen. Eine mythische Erzählung wird für wahr gehalten, weil sie symbolischen Wert aufweist, das heisst von den ihr zustimmenden Bevölkerungsgruppen als bedeutungsvoll erkannt wird – etwa für ihre Lage, für ihr Erleben, für ihr Empfinden, für ihre Hoffnungen – und daher eine Art von „Wahrheit“ zu fassen scheint.
Dabei wird oft, bewusst oder unbewusst, diese symbolische Wahrheit mit der kontrollierbaren „objektiven“ Wirklichkeit verwechselt. Das subjektiv Wahrgenommene und subjektiv Erwünschte wird als objektiv geschehen und objektiv notwendig angesehen und verteidigt.
Wenn solche Vermischungen bewusst vorgenommen werden, handelt es sich um Propaganda, die bestimmten politischen oder religiösen Zwecken dient. Wenn sie unbewusst oder halbbewusst geschehen, wirken sie als motivierende Kräfte, die das Empfinden und Handeln von Einzelnen und von Gruppen in bestimmte Richtungen lenken und sogar ihre Begriffe von Recht und Unrecht weitgehend beeinflussen oder entstellen können.
Die „Erzählung“ mit all ihren mythischen Elementen, Beigaben und Ausschmückungen wirkt sowohl nach innen wie nach aussen. Ihre innenpolitische Wirkung dient dem Zusammenhalt der israelitischen Bevölkerung Israels, aber auch der diskriminierenden Ausschliessung des nicht jüdischen Fünftels derselben. Sie dient auch als Argument gegen alle Israeli, die sich gegen die heutige Landnahmepolitik der gegenwärtigen israelischen Rechtsregierungen sträuben. Sie wird eingesetzt nicht nur zur Rechtfertigung vergangener Landnahmen und Vertreibungen sondern auch um gegenwärtige gewaltsame Ausschliessungsmassnahmen und Landraub zu „begründen“ und als „notwenig“ oder gar „rechtlich“ zu verteidigen.
Vom Sicherheitsbedürfnis zum Sicherheitsmythos
Dabei spielt das Sicherheitselement eine grosse Rolle. Die realen Notwendigkeiten der Absicherung, die ein jeder Staat zu bewältigen hat, der Israelische aber in besonderem Masse, werden vermischt mit den mythischen Themen der Böswilligkeit aller Anderen und der bisher ewigen Verfolgung durch die Aussenseiter, um eine expansive „Sicherheitspolitik„ zu betreiben, die objektiv auf Landraub, Enteignung und Verknechtung der einheimischen, palästinensischen Bevölkerung hinausläuft. Diese wird als „feindlich“ eingestuft und verhält sich auch - primär wegen dieser Einstufung und Behandlung - fast notwenigerweise feindlich.
Einige der wichtigsten Mythen, auf denen diese Selbstschilderung aufgebaut ist, besassen vor 60 Jahren, als der Staat Israel gegründet wurde, mehr Realitätsgehalt als sie heute aufweisen. Zum Beispiel der zentrale Sicherheitsmythos. Es gab Zeiten, in denen die Israeli mit einem gewissen Recht fürchten konnten, ihr Staat befinde sich in Gefahr, von seinen Feinden in der umliegenden arabischen Welt übermannt und zerschlagen zu werden. Die arabischen Staaten rings um Israel herum gelobten lauthals, sie würden die Schmach der Niederlage von 1948 auswetzen und den Staat der Juden zum Verschwinden bringen. Die beiden mächtigsten der arabischen Gegner Israels, Aegypten und Syrien, erhielten eine gewisse Unterstützung im Ausrüstungs- und im diplomatischen Bereich durch die Sowjetunion. Israel musste mit der Gefahr eines gleichzeitigen Angriffes von zwei oder drei Seiten rechnen, und mehrfronten Kriege waren für das kleine Land immer ein Risiko.
Diese Zeit kam endgültig zu Ende mit dem Friedensschluss mit Aegypten von 1979. Später gab es nur noch Infiltrationsversuche der PLO über die libanesische Grenze, die sich störend auswirken konnten, jedoch nicht mehr eine existenzielle Gefahr darstellten – und Anschläge von Aktivisten des palästinensischen Widerstandes im Landesinneren, die blutig und opferreich verlaufen konnten, jedoch den Staat Israel als solchen nicht wirklich erschütterten oder schwächten – eher alarmierten, vereinten und dadurch sträkten.
Die Hilfe der Sowjetunion für die Gegner Israels fiel aus, als die Sowjet Union zusammenbrach; es gab nur noch eine einzige Supermacht, und diese war der erklärte Freund und Beschützer der Israeli. Diese Entwicklung veränderte die Machtverhältnisse im Nahen Osten ebensosehr wie die mit amerikanischer Hilfe zunehmend in den Bereich der Hochtechnologie aufrückende Rüstung der israelischen Armee, einschliesslich des Besitzes von Atomwaffen.
Die realen Machtverhältnisse verschoben sich weit zu Gunsten Israels, doch der Mythos von der Gefahr und von der Notwendigkeit, sich mit allen denkbaren Mitteln abzusichern, wuchs dennoch weiter und wurde auch systematisch weiter gepflegt und ausgebaut. Viele schmerzliche Erfahrungen der Juden in der Vergangenheit bildeten einen reichen Nährboden für ihn. Der Mythos erhielt ein politisches Ziel. Er wurde geflegt und eingesetzt, um eine höchst brutale Niederhaltung der Palästinanser in den Besetzten Gebieten und den immer weiter um sich greifeden Landraub durch isrealische Siedlungen in diesen Gebieten zu rechtfertigen. Dies in den Augen der eigenen Bevölkerung wie gegenüber dem Ausland.
Provokationen fanden statt, die den Zweck verfolgten, die palästinensische Seite zu erbittern und zu Blutaktionen zu verführen, um dann unter Anrufung der angeblichen Sicherheitsnotwendigkeit umso brutaler auf sie zurückzuschlagen und sie dadurch weiter zurückzudrängen und zu schwächen.
Die Bekannteste dieser Provokationen war der „Spaziergang“ unter bewaffneter Begleitung des Generals und Politikers Ariel Sharon auf dem al-Aqsa Areal von September 2000. Dieser und die darauf folgenden Schiessereien dienten dem Zweck, Sharon selbst ins Amt des Ministerpräsidenten zu katapultieren und einen Aufstand der Palästinenser auszulösen, dessen Niederschlagung durch Sharon der Beendigung des damals noch knapp überlebenden Friedensprozesses diente. Der Friedensprozess war Sharon besonders verhasst, weil er auf eine Zweistaatenlösung abzielte, welche der General und Politiker als eine „Katastrophe für Israel“ ansah, die es unbedingt zu vermeiden gelte.
Es gab aber auch zahlreiche andere Provokationen auf niedrigerer, militärischer Ebene: Dinge wie Brüche von Waffenstillständen und „Nicht Gerichtliche Tötungen“ in Augenblicken, die Entspannung versprachen. Alle dienten sie dem Zweck, Unruhen auszulösen, die dann den Vorwand abgaben, erneut „mit allen Mitteln“ für Sicherheit sorgen zu müssen und die Palästinenser niederzuhalten. Man kann deshalb sagen, auch Provokationen dienten dem Zweck, den Sicherheitsmythos zu verstärken und den Sicherheitsvorwand erneut zu aktualisieren, mit dem politisch-militärischen Ziel, die israelische Herrschaft über die besetzten palästinensischen Gebiete und Wohnstätten abzusichern und auszubauen.
Vom Selbstbild der Palästinenser
Der Abstand zwischen mythologischer Selbstsicht und den realen Gegebenheiten ist bei den Palästinensern ebenfalls vorhanden, jedoch dürften bei ihnen „Erzählung“ und „Realität“ nicht gleich weit auseinanderklaffen. Vermutlich ist dies nicht dadurch gegeben, dass die Palästinenser weniger zur Mythenbildung neigen. Eher durch den Umstand, dass sie, die bis heute als die Verlierer im Machtringen dastehen, immer erneut auf die Realität ihrer Leiden und Verluste zurückgeworfen werden. Sie werden dadurch gezwungen, ihre Mythen nicht für die Gegenwart zu entwickeln, sondern sie eher in einer erträumten Vergangenheit und in einer erhofften Zukunft anzusiedeln.
Ein Hauptmythos der unter den Palästinensern wirkt, ist jener der Fremdbestimmung. Schuld an all den Übeln, die sie erlitten und weiter erleiden sind zwar in ihren Augen die Israeli. Doch, so besagt der Mythos, diese wären eigentlich schwach und für die Palästinenser und ihre arabischen Freunde leicht überwindbar, wenn nicht die Amerikaner und die Völker Europas hinter Israel stünden.
Dieser Mythos besitzt eine reale Grundlage. Die ersten zionistischen Siedler in Palästina genossen den Schutz der britischen Kolonialmacht und konnten unter ihrem Schutzschirm schrittweise eigene Macht entwickeln. Später wurden es die europäischen Staaten, etwa Frankreich und England, die Israel bewaffneten. Dann trat Amerika als die weitaus wichtigste Schutzmacht für Israel auf den Plan, und Amerika hat diese Rolle bis heute nicht aufgegeben.
Verstellte Quellen der Selbstkritik
Doch der Blick auf die „fremden Hände“ verdeckt in palästinensischen Augen weitgehend die Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeiten. Wenn an allem, was geschieht, die Israeli und hinter ihnen die westlichen Mächte, besondes die USA „schuld sind“, fällt es schwer, je wird es unmöglich, zu erkennen, dass auch eigene Fehler, Fehlrechnungen, Unterlassungen, ja Untaten, vorliegen, die ebenfalls zur heutigen verhängisvollen Lage der Palästinenser beitrugen.
Trotz allen Niederlagen und Fehlschlägen wird so gut wie nie eine echte Selbstkritik laut. Zum gängigen Selbstbild gehört die Behauptung: „Wir tun was wir können, um uns zur Wehr zu setzen. Gegen „die Besetzung“ sind alle Kampfmethoden erlaubt, ja geboten. Wenn wir uns nicht zur Wehr setzten, würden die Israeli uns umso schneller und leichter liquidieren“. Dies schliesst aus, ja verhindert, dass die Taktik und Strategie, die angewandt wurden und werden, einer rationalen Kritik und Analyse unterzogen werden. Angesichts der langen Kette von Niederlagen und Misserfolgen in ihrem Ringen mit den Israeli und deren verbündeten Mächten, wäre Selbstkritik, die darauf ausginge, die Schwachstellen der verwendeten Strategie und Taktik zu erkennen und das eigene Vorgehen dementsprechend zu verändern, eigentlich zu erwarten und bestimmt eine Notwendigkeit.
Über die bisher fehlgeschlagenen Schritte, Massnahmen, Strategien und die Gründe ihrer Misserfolge, sowie über alternative Wege und Methoden, die man vorschlagen und versuchen könnte, liessen sich Bände schreiben. Hier mag es genügen, auf einen der zentralen Schwachpunkte hinzuweisen, der sich vielfältig auswirkt, aber nicht wirklich als Schwachpunkt erkannt zu sein scheint.
Unkenntnis der Aussenwelt
Im Gegensatz zu den Israeli, die ihre politische Umwelt sehr genau kennen und sie aus diesem Grunde immerwieder entscheidend beeinflussen können, scheinen die Palästinenser nur sich selbst und ihre eigene Welt zu kennen und zu verstehen. Weshalb es ihnen schwer fällt, ihre Anliegen wirksam nach aussen zu tragen, oder sich nützliche Verbündete zu schaffen, die in der Machtbalance wiegen. Man muss einräumen, dass es heute, nach Jahrzehnten der Wirkungslosigkeit in diesem Bereich, sehr schwierig sein dürfte, das Rad zurückzudrehen. Gerade in diesem Bereich besitzen die Israeli machtvolle Positionen, aus denen sie sich natürlich nicht verdrängen lassen wollen, und die sie daher nach Kräften weiter ausbauen und verteidigen. Man denke an ihr Bündnis mit den USA und an AIPAC, das wohl organisierte, schwerreiche und äusserst aktive jüdisch-amerikanische Lobby, das beständig und intensiv am Ausbau des israelischen Einflusses auf die amerikanische Nahostpolitik arbeitet.
Doch die starke Position der Israeli sollte ihre Gegenspieler nicht daran hindern, zuerst einmal kühl und umsichtig zu analysieren, worauf diese beruht, wie sie zustande kam und weiter ausgebaut wurde, wo ihre Schwächen liegen und wo ihre Stärken. Zu dieser Analyse gehörte auch die Frage, wieweit des Verhalten der Palästinenser selbst und mancher ihrer Verbündeten dazu beitrug oder Handhabe bot, um die politischen Positionen des Gegners zu stützen; - auch ob und wieweit dieses Verhalten für die palästinensische Seite Nutzen hervorbrachte, welcher den Schaden, den es verursachte, überwog. Alternative Strategien würden aus derartigen Analysen hervorgehen und möglicherweise bessere Resultate erbringen.
Was von den äusseren Verbündeten der Israeli gilt, gilt auch von der Wirkung, welche die Taten und Untaten der Palästinenser auf die Israeli selbst ausübten und weiter auszuüben drohen. Auch in diesem Bereich wäre eine Kosten-Nutzen Analyse notwendig, etwa in der Frage: wieweit trugen Anschläge auf israelische Zivilisten zur Festigung des Sicherheitsmythos in Israel bei und damit auch zur Ausnützung dieses Mythos durch jene Gruppen unter den Israeli, die heute regieren, um ihre Politik der „präventiven Landnahme“ ihrer eigenen Bevölkerungglaubhaft zu machen und sie als eine angebliche Sicherheits-Notwendigkeit darzustellen.
Eigenverklärung als Flucht vor der Realität
Die Palästinensische Unfähigkeit zur Selbstkritik geht auch auf die „positiven“ Selbstschilderungen zurück, welche als Gegenstück zu den Mythen der Fremdbestimmung auftreten. Zurückgreifend auf viel ältere Selbstbilder und Selbstideale steht der Klage über die Macht der Fremden unvermittelt und kontrapunktuell eine Selbsteinschätzung und an die eigene Person und Gemeinschaft gerichtete Selbstanforderung gegenüber, sich selbst als „Helden“ zu sehen und zu betragen. „Wir sind doch Helden; wollen solche sein, sehen uns als solche an, betragen uns daher als solche“.. Dies ist ein mythisches Motiv, das direkt aus der arabisch-beduinischen Tradition stammt und später in Verbindung getreten ist mit islamischen Selbstsichten und Selbstanforderungen aus der Zeit der erfolgreichen arabisch-islamischen Eroberungen. Diese liegen zwar sehr weit zurück, sind aber in der Form von Stammesstolz und Eigenanforderung bis heute erhalten.
Allzuleicht und unkritisch wird alles bewaffnete Handeln und Auftreten in diese Atmosphäre des Stammes- und Mannesstolzes aufgenommen und wird dadurch der sachlichen Kritik, und sogar der moralischen Kritik entzogen. Dabei kann die bittere Enttäuschung über die eigene Lage und die eigenen Möglichkeiten gegenüber den übermächtigen Fremden umschlagen in eine hyperbolische Selbstsicht des eigenen Heldentumes, - „umsomehr muss ich mich als Held bewähren, aufopfern, durchsetzen, ohne Rücksicht auf mein eigenes Blut und auf das aller Anderen!“ Oder noch einfacher und verzweifelter: „die Selbstmordbombe bleibt meine letzte Handlungs- und (heldische) Selbstaufopferungsoption!“ Was dabei aus dem Gesichtsfeld rückt, sind die sachlichen Belange: Land-, Bürgerrecht, Selbstbestimmung, die es eigentlich nach Möglichkeit zu bewahren gälte.
Eine islamistische Variante
Der „arabisch-nationalistischen“ Variante dieser kontrapunktuell schwankenden Doppelselbstsicht (dominierend in der PLO und deren radikalen Randgruppen) steht neuerdings als Konkurrenz eine islamistische gegenüber (wie sie von Hamas gepflegt wird). Sie ist jüngeren Alters und daher ( heute noch?) radikaler gestimmt als jene der etwas müde gewordenen PLO. Doch sie besteht aus vergleichbaren Elementen (auch:Heldentum gegen Fremdbestimmung), nur dass die „islamische“ Identität an Stelle der „nationalen“ als die wichtigste Identitätskomponente gesetzt wird, die es unter allen Umständen abzusichern und hochzuhalten gelte. Weil es sich dabei um ein religiöses Handlungsmotiv handelt, das an die Stelle des früheren politisch-nationalitären tritt, dürfte das auf seiner Einwirkung beruhende Handeln noch weniger der kritischen Einsicht einer realistischen Gewinn- und Verlustrechnung ausgesetzt sein als im Falle des Nationalismus.
Mythologie gegen Realismus
Beide Selbstbilder, das israelische wie das (heute in zwei einander feindliche Varianten gespaltene) palästinensische, wirken gegen Kompromisslösungen. Die heute schon weitgehend überholte und kaum mehr realistisch denkbare Zweistaatenlösung, wäre ein derartiger Kompromiss, zu dem beide Seiten das ihrige beitragen müssten. 1994, als der sogenannte Friedensprozess mit der Formel „Jericho, Gaza first“ seinen praktischen Anfang nahm, meinte die PLO, sie sei einen derartigen Kompromiss mit den Israeli unter amerikanischem Zuspruch und moralischer Garantie der amerikanischen Vermittler eingegangen. Doch es sollte sich herausstellen, dass die israelischen Regierungen nicht der gleichen Ansicht waren. Die (widerrechtliche) Ansiedlung israelischer Siedler unter dem Schutz der israelischen Besatzungsarmee dauerte an und sollte sogar nach der Ermordung Rabins ( vom 11. Nov. 1995) beschleunigt werden. Ihre grosse Konzession an den Friedensplan war in Augen der Palästinenser die endgültige Anerkennung Israels als des rechtmässigen Besitzers der im Krieg von 1948-9 eroberten Gebiete. Doch in israelischen Augen war dies längst „Israel“ (allerdings, wie sie heute sagen, „ein Land ohne feste Grenzen“). Die israelische forderte von der palästinensischen Seite „weitere Konzessionen“, und sie erblickte in den Verhandlungen über die Durchführung des „Friedensprozesses“, die nun über Jahre hin folgten, in erster Linie eine Gelegenheit, solche weiteren Konzessionen von den Palästinensern einzufordern.
Die oben geschilderten Selbstsichten traten in Funktion: „mehr Land“ musste den Palästinensern entrissen werden, um die Sicherheit der Israeli zu gewährleisten. Der Sicherheitsmythos besagte, nie befänden sich die Israeli in wirklicher Sicherheit vor ihren äusseren Feinden. In Wirklichkeit war dies nur ein – angesichts der bestehenden Mythologie glaubwürdig klingender - Vorwand, um immer mehr Land widerrechtlich in Besitz zu nehmen.
Auf der Gegenseite gewann Hamas zuerst die palästinensischen Wahlen und setzte sich dann im Gazastreifen mit Gewalt gegen die PLO durch, als diese versuchte, trotz der Wahlniederlage das Heft in der Hand zu behalten. Dies geschah teilweise gewiss, weil der PLO Korruption und Unfähigkeit vorgeworfen wurde; jedoch auch weil die Lenker von Hamas ihrem Mythos Gehör verschafften, nach welchem „der Islam“ so wie sie ihn auslegten, den Palästinensern endlich zu ihrem von Gott verbürgten Sieg verhelfen werde. So werde sich die bitter beklagte Fremdbestimmung in erhoffte und zuversichtlich erwartete heldenhaft-magische Selbsterlösung verwandeln.
Mythologie gegen Frieden
Es gehört zu den Eigenschaften mythischen Beschreibens, Empfindens und „Denkens“, dass die Tatsachen geringen Einfluss auf mythische Sichten nehmen. Diese entstehen ja, indem Wünsche, Absichten, Hoffnungen, Erklärungsversuche des Unerklärlichen Ausdruck suchen und finden. Umgekehrt aber beeinflussen mythische Sichten, in der Art der hier angesprochenen „Erzählungen“ in starkem Masse das politische Geschehen, besonders, wenn die Lenker dieses Geschehens selbst unter ihrem Einfluss stehen und darüber hinaus daran arbeiten, diesen Einfluss auf die von ihnen Gelenkten zu steigern.
Die Friedensaussichten zwischen Israel und Palästina sind aus diesem Grunde heute geringer als je geworden. Dass für beide Seiten annehmbare Lösungen der realen Probleme gefunden werden können, hat unter anderem der Vertragsentwurf von Genf aus dem Jahr 2003 vorgeführt, den Realisten, nicht Mythologen (die auf beiden Seiten unter dem durchaus mythologischen Namen von „Tauben“ gehen) mit Hilfe einiger schweizer Diplomaten ausgehandelt haben. Doch die Posaunen der Mythologen, allen voran der israelischen Ex-Generäle Ehud Barak und Ariel Sharon, sahen sich in der Lage, die Stimmen der Vernunft weitgehend zu übertönen. Die ideologischen Mythologen konnten auf beiden Seiten, eine jede bei ihrer Gemeinschaft, auf ihre über lange Zeiträume hin erarbeitete und daher tief verwurzelte, mythische Erzählung zurückgreifen. Sie verlieh ihnen ein Echo, das alle sachlichen Belange schlicht überging.
Sonntag, 28. März 2010
ISRAEL/PALÄSTINA: Haupthinderniss für den Frieden: die Selbstsicht der Israeli und der Palästinenser
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