Überraschende Ergebnisse der Parlamentswahlen im Irak drohen den Konflikt um die Ölstadt Kirkuk dramatisch zu verschärfen
von Birgit Cerha
Während die sich nach fast drei Wochen abzeichnenden Endergebnisse der Parlamentswahlen in Bagdad mehr Fragen aufwerfen als sie beantworten und dem Irak eine unsichere Zukunft verheißen, steht eines fest: Den Kurden, jahrzehntelang unterdrückt und brutal verfolgt, entschwinden mehr und mehr die historischen Chancen, die sich durch den von den USA geführten Krieg zum Sturz von Diktator Saddam Hussein geöffnet hatten. Sie könnten gar die Rolle als „Königsmacher“ einbüßen, die es ihnen in der Ära nach Saddam ermöglicht hatten, de facto den Regierungschef zu küren.
Die Wahlergebnisse versetzen der kurdischen Moral einen schweren Schlag. Während die Kurdische Allianz aus den beiden in den drei autonomen Provinzen des Nord-Irak dominierenden Parteien KDP (Demokratische Partei Kurdistans) und PUK (Patriotische Union Kurdistans) ihre vorherrschende Stellung vor allem auch gegenüber ihrem kurdischen Herausforderer „Goran“ behaupten konnten, erlitten sie in der heiß umstrittenen Ölprovinz Kirkuk eine schockierende Niederlage. Wider Erwarten konnten sie dort ihre führende Stellung nicht behaupten, liegen Kopf-an-Kopf mit der Liste „Irakiyya“ des säkularen schiitischen Ex-Premiers Iyad Allawi, der mit einer nationalistischen Plattform die arabisch-sunnitische und turkmenische Minderheit Kirkuks hinter sich zu scharen vermochte.
„Wir haben das Gleichgewicht in Kirkuk wieder hergestellt, frohlockt ein Sprecher des Allawi-Lagers. Kein Zweifel, die turkmenische und arabische Bevölkerung Kirkuks wird künftig weit lauter ihre Stimme erheben können, wenn es um eine Lösung des explosiven Konflikts um die Ölstadt geht. Die Positionen haben sich verhärtet und dies verheißt Irak nichts Gutes.
Die Kurden betrachten Kirkuk als das „Herz Kurdistans“ und haben im Kampf gegen Bagdad um die Kontrolle der Stadt mit ihren etwa eine Million Bewohnern in den vergangenen Jahrzehnten Tausende Menschenleben geopfert. Um den Anspruch der Zentralregierung auf die Ölstadt zu untermauern, hatte Saddam eine schon lange zuvor begonnene Arabisierungspolitik der Region dramatisch verstärkt und laut „Human Rights Watch“ fast 200.000 Kurden, sowie später auch Tausende Turkmenen verjagt und durch Araber ersetzt. Kirkuk liegt in einem zwischen Bagdad und den Kurden umstrittenen etwa 450 km langen Gebietsstreifen südlich der autonomen Region, der von Kurden, Arabern, Turkmenen, kurdischen Yeziden und Christen bewohnt ist. Die Regionalregierung Kurdistans (KRG) beharrt entschieden darauf, dass ein Großteil dieser Gebiete, insbesondere aber Kirkuk, das auf etwa 13 Prozent der nachgewiesenen irakischen Ölreserven sitzt, in die Kurdistan-Region integriert werden muss.
Die Kurden hatten gehofft, zumindest acht der zwölf für Kirkuk vorgesehenen Parlamentssitze zu erobern, um endlich ihre Ansprüche gegenüber den Arabern in Bagdad durchzusetzen, eine immer wieder aufgeschobene, nun für Oktober geplante Volkszählung in Kirkuk und schließlich eine Volksabstimmung über den Anschluss an Kurdistan, wie dies Verfassungsartikel 140 vorsieht, zu organisieren. Turkmenen und Araber der Stadt aber wollen davon nichts wissen. Sie beschuldigen die KRG, seit 2003 massive Zuwanderung durch Kurden in die Stadt gefördert zu haben, darunter auch Kurden, die keineswegs ihre familiären Wurzeln in Kirkuk nachweisen könnten. Tatsächlich fehlte jegliche unabhängige Kontrolle der Wiederansiedlung.
Die Kurdenführer tragen zweifellos einen Teil der Schuld an diesem Konflikt. Sie verstanden es nicht, in den vergangenen Jahren, nachdem sie, teilweise gemeinsam mit den Amerikanern, die Sicherheitskontrolle über Kirkuk und Teile der „umstrittenen Gebiete“ übernommen hatten, das Vertrauen der nicht-kurdischen Bevölkerung zu gewinnen, ein Mangel, den auch die sich im Vorjahr von der PUK abgespaltene Erneuerungsbewegung „Goran“ deutlich aufzeigt. Rivalitäten zwischen PUK und KDP und vielfach ausbleibende Hilfe für entwurzelte kurdische Heimkehrer haben die Kurdische Allianz in der Provinz Kirkuk wertvolle Stimmen – zugunsten von Goran – gekostet.
Wiewohl Goran zwar Korruption, Nepotismus und politische Ineffizienz von KDP und PUK heftig kritisiert, sind sich die drei Parteien doch voll über die „kurdische Identität“ Kirkuks einig.
In der Hoffnung, wieder ihre Rolle als Königsmacher in Bagdad zu spielen hat der Präsident der Region Kurdistan, KDP-Chef Massoud Barzani längst die Bedingungen für eine erneute Beteiligung an einer Koalition festgelegt. Höchsten Vorrang hat dabei die Durchsetzung von Artikel 140, Kompensation für die Vertriebenen und Rückgabe ihrer Besitzrechte
In Kirkuk prallen die gegensätzlichen Positionen derart aneinander, verstärkt durch Einflüsse von außen, wie insbesondere der Türken, die sich als „Schutzmacht“ der Turkmenen engagieren und arabischer Staaten, dass sich das Parlament im Vorjahr monatelang nicht auf eine neues Wahlgesetz einigen konnte und Provinzwahlen in den „umstrittenen Gebieten“ bisher überhaupt nicht stattfinden konnten.
Zwar ist das Werben führender Politiker um Koalitionspartner – darunter auch die Kurden – in vollem Gang. So eilte etwa Allawi in die Hauptstadt Kurdistans, Erbil. Doch ein Treffen mit Barzani zeigte nach informierten Kreisen bisher nur unvereinbare Positionen. Allawi, in Kirkuk heute so stark wie die Kurdische Allianz, wird keinen Anlaß sehen, den Kurden in der Frage des Status der Stadt entgegen zu kommen. Er setzt sich für einen „Sonderstatus“ der Stadt ein, die voll unter Bagdads Kontrolle bleiben sollte, aber einer lokalen Regierung, in der Kurden, Araber und Turkmenen gleichermaßen vertreten sind, zusätzliche Machtbefugnisse garantiert. Die Kurden lehnen diese Lösung entschieden ab. Doch heute wissen sie ihren engen amerikanischen Verbündeten nicht mehr voll hinter sich. US-Präsident Obama, so heißt es, soll Artikel 140 als unrealistisch aufgegeben haben und ebenfalls für eine Art „Sonderstatus“ optieren. Dass Premier Maliki, sollte er erneut eine Regierung zustande bringen, den Kurden mehr entgegenkommen würde, erscheint angesichts des wachsenden arabischen Nationalismus im Land und schweren Konflikten zwischen ihm und den Kurden in seiner vergangenen Amtsperiode höchst unwahrscheinlich.
Anderseits aber, so meinen unabhängige Beobachter, würde eine neue Regierung ohne Teilnahme der Kurden den Weg des Iraks zur Stabilität gefährlich blockieren. „Die Situation in Kirkuk ist sehr gefährlich“, meint der stellvertretende Polizeichef der Stadt Turhan Abdul Rahman. „Alle politischen Parteien sind bewaffnet und die US-Truppen bilden das einzige Gegengewicht.“ Vorerst können etwa 5000 amerikanische Soldaten die für relative Ruhe sorgen. Doch wie lange?
Mittwoch, 24. März 2010
IRAK/KURDEN: Verlieren die Kurden ihre Schlüsselrolle in Bagdad?
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