von Dr. Arnold Hottinger
Im Iraq hat die Wahlkampagne für die nun auf den 7. März angesetzten Parlamentswahlen begonnen. Dies geschah, obgleich noch nicht alle Kandidaten feststehen. Ein Streit dauert an über die Streichung von Wahlkandidaten aus den Listen, denen zu enge Verbindungen zu der einstigen Staatspartei Saddams, der Baathpartei, vorgeworfen werden. Eine Reinigungskommission, welche die „de-Baathierung“ der irakischen Politik betreibt, hatte anfänglich 500 Kandidaten von rund 6000 von den Listen getrichen. Dann hatte ein Gericht die Wiedereinsetzung dieser 500 befohlen. Doch die gegenwärtige Regierung unter Nuri al-Maleki hatte den Gerichtsentscheid zurückgewiesen, unter anderen mit dem Argument, es handle sich um politische Massnahmen, die dem Parlament unterstünden, nicht den Gerichten.
Eine Sondersitzung des Parlaments war einberufen worden, gleichzeitig hatten viele der betroffenen Rekurs beim Obergericht eingelegt. Die Wahlvorbereitungen waren eingestellt worden, und der Wahltermin wurde zum zweiten Mal verschoben. Ursprünglich war der 7. Januar festgelegt worden, später der 7. Februar und nun der 7. März. Von den 500 Ausgeschlossenen blieben 145 Kandidaturen definitiv ausgeschlossen. Die Rekurse von Anderen sind noch fällig.
Unter den ausgeschlossenen Kandidaten befinden sich Schiiten und Sunniten. Doch die grösste Zahl und die bekanntesten Kandidaten unter den Ausgeschlossenen sind Sunniten. Die Diskussionen über die Ausschliessungen wühlten heftige Leidenschaften auf. Sunnitische Politiker beklagten sich über Diskrimination und erblickten in den Reinigungsschritten einen Versuch, das gegenwärtige Machtgleichgewicht im Iraq, das zu Gunsten der Schiiten besteht, festzuschreiben, indem wichtige sunnitische Politiker ausgeschlossen würden.In den Wahlen von 2005 hatten die Schiiten einen leichten Sieg davongetragen, weil die Sunniten die Wahlen weitgehend boykottierten. Seither regieren sie in Bagdad. Die Sunniten bilden nur eine kleine Minderheit im Parlament, und die Regierungen unterstanden immer Schiiten.
Doch in den südlichen Landesteilen mit starken schiitischen Bevölkerungsmehrheiten kam es gleichzeitig zu Demonstrationen der ehemaligen Opfer der Baath Partei, die deutlich machten, dass bis heute viele Schiiten den Baathisten unversöhnt gegenüberstehen. Dies ist sowohl auf die Massaker von Schiiten in der Saddam Periode zurückzuführen wie auch auf die heutigen Bombenanschläge, die sich oft gegen Schiiten richten und von denen angenommen wird, sie würden von radikalen Islamisten verübt („al-Qa’eda“ sagen die Amerikaner), die mit den abgesetzten Baathisten, besonders aus den ehemaligen Geheimdiensten Saddams, zusammenarbeiten. Beobachter in Basra glauben, dass die beiden in den Wahlen konkurrierenden mehrheitlich schiitischen Parteiallianzen einander in ihrer Wahlpropaganda mit Hinweisen darauf überbieten, dass die Gefahr einer „Rückkehr der Baatpartei“ abgewendet werden müsse.
Die amerikanischen Militärs und Diplomaten, die immernoch einen bedeutenden Machtfaktor im Iraq darstellen, treten dafür ein, dass die Sunniten so weit möglich zu den Wahlen zugelassen werden, damit eine ausgewogenere Volksvertretung als bisher zustande komme. Wenn die Sunniten sich weiter als ausgeschlossen ansehen, steigert dies die Gefahr, dass der gegenwärtige Terror fortdauert oder gar wieder anwächst. Wenn die Sunniten in das politische Spiel miteinbezogen werden, kann man hoffen, dass der „Widerstand“ der Bombenleger abklingen könnte.
Die amerikanischen Pläne sehen vor, dass im August dieses Jahres der Abzug der Kampftruppen beginnen soll. Im August 2011 sollen nur noch Ausbildungstruppen im Iraq bleiben. Die bevorstehenden Wahlen jedoch wollen die Amerikaner mit all ihren Truppen absichern, bevor sie den Rückzug antreten.
Die Interessen der irakischen Regierung unter Maleki sind etwas anders gelagert. Ihr geht es heute primär darum, die Wahlen zu gewinnen und sich ein weiteres Mandat sicher zu stellen. Maleki hat sich entschlossen, diesmal nicht wie 2005 im grossen Verband aller schiitischen Parteien in die Wahlen zu ziehen. Er hat eine Koalition aufgestellt, die sich „Rechtsstaat“ (State of Law) nennt. Neben seiner eigenen schiitisch religiösen Partei „ad-Da’wa“ umfasst sie mehrere Gruppen von sunnitischen Politikern. Ihr gemeinsames Anliegen ist, den irakischen Staat ungeteilt zu bewahren.
Zwei grosse Schiitenparteien haben eine Gegenallianz gebildet, die „Nationale Irakische Koalition“ heisst. Sie versteht sich in erster Linie als Vertreterin der Interessen der schiitischen Bevölkerung des Südens, und sie gilt als immernoch eng mit Iran verbunden. Die Bildung eines schiitischen Gliedstaates im irakischen Süden, parallel zur bereits bestehenden kurdischen Autonomie, wird von manchen der Gruppierungen der schiitischen Allianz befürwortet. Alle Mitglieder der Allianz streben einen Staat an, in dem die schiitische Version des Islams eine führende Rolle zu spielen hätte.
Im Gegensatz zu 2005 als ihre Allianz alle schiitischen Gruppen umfasste, ziehen die Schiiten diesmal getrennt in zwei rivalisierenden Gruppierungen in die Wahlen. Der Regierungschef hatte schon im Januar 2009 mit seiner eigenen Formation die Lokalwahlen bestritten und war dabei erfolgreich gewesen. Er rechnet sich daher Erfolgschancen in den Parlamentswahlen aus. Die Möglichkeit, nach den Wahlen mit seinen schiitischen Konkurrenten eventuell eine Koalition zu bilden, dürfte er sich für den Fall, dass er keine absolute Mehrheit erhält, offen halten.
Als alternativer Koalitionspartner stünden ihm möglicherweise auch die Kurden zur Verfügung.
Der laizistisch orientierte schitische Politiker Iyad Allawi, den die Amerikaner zum ersten Provisorischen Regierungschef des Iraq ernannt hatten, und der gegenwärtig einen kleinen Block von 15 Abgeordneten im Parlament anführt, hat seinerseits auch eine Wahlallianz aus Sunniten und Schiiten sekulärer oder gemässigt religiöser Ausrichtung gebildet. Er vertritt die Vision eines sekulären Regimes für ganz Irak ohne starke Autonomie-Aufteilungen. Damit stellt seine Formation, die sich Irakische Nationale Bewegung nennt, eine sekuläre Alternative auch pan-irakischer nationaler Ausrichtung zur pan-irakisch nationalen aber eher im Schiismus verankerten Tendenz des Regierungschefs dar.
Manche Beobachter glauben, dass Allawi mit seinen Verbündeten eventuell eine Chance haben könnte, eine relative Mehrheit von Abgeordneten zu erhalten, nämlich dann, wenn die Schiiten sich aufteilen zwischen den beiden rivalisierenden Blöcken und falls Allawi relativ viele Stimmen von regierungskritischen Schiiten und Sunniten auf seine Liste vereinigen könnte.
Unter den Schiiten hat Maleki sich die einstigen Anhänger von Muqtada as-Sadr zu Feinden gemacht, welche die grossen schiitischen Armenviertel von Bagdad bevölkern, weil er ihre Macht mit Gewalt gebrochen hat und viele ihrer Anführer einkerkern liess. Unter den Sunniten hat sich der wichtigste Sprecher für die Sunniten im nun abtretenden Parlament, Saleh Mutlaq, der Allianz Allawis angeschlossen., sowie der als Sprachrohr der Muslim Brüder geltende stark sunnitisch orientierte Tariq Hashemi, ebenfalls ein bisheriger Abgeordneter. Doch Mutalq und der zweite Mann der Formation Hashemis, al-Ani, gehören zu den wegen Baathismus nun anscheinend endgültig ausgeschlossenen Kandidaten.
Weitere Gegener al-Malekis unter den Sunniten dürften die in grossen Zahlen immernoch nicht von der Regierung eingestellten sogenannten „Erwachungskämpfer“ (Sahwa) sein. Dies sind sunnitische Stämme mit ihren Führern und Kämpfern, die seit 2008 den Widertand verliessen und in den Dienst der Amerikaner traten, sich von ihnen bewaffnen und bezahlen liessen, um den Kampf gegen die Islamistischen Fanatiker („al-Qa’eda“ für die Amerikaner) aufzunehmen. Es dürfte sich um fast 100 000 Mann handeln, mit ihren Angehörigen und Verwandten leicht eine Halbe Million Personen. Die Amerikaner hatten ihnen die Aufnahme in die irakischen Streitkräfte und Polizei versprochen. Doch Maleki sträubte sich dagegen. Offenbar weil er eine „Sunnitisierung“ der heute weitgehend schiitischen Sicherheits- und Ordnungskräfte befürchtet. Dies ist vor dem Hintergrund zahlloser Staaatsstreiche zu verstehen, die in der Vergangenheit, seit der Unabhängigkeit von 1932, sunnitische Offiziere der damals meist sunnitschen Offizieren untrstehenden irakischen Armee durchgeführt hatten, um die Macht zu ergreifen.
Die relativ wenigen Sahwa–Leute, die von der Regierung eingestellt wurden, erhielten nicht mehr als kleine Beamtenstellen. Viele nichteinmal dies. Sie sind deshalb mit der Regierung unzufrieden.
Ob die Allawi Allianz wirklich die Möglichkeit gehabt hätte, den Regierungschef und seine Gruppierung zu schlagen, ist sehr ungewiss. Doch viele Iraker scheinen zu glauben, dass die Ausschliessungen mit dem Zweck durchgeführt wurden, Allawis Chancen zu reduzieren. Da Maleki sich vehement für die Ausschliessungen eingesetzt hat und seine Anhänger gerne vor einem Wiederaufleben der Baathpartei warnen, um ihre Wahlchancen zu steigern, gewinnen solche Vermutungen zusätzliches Gewicht.
Maleki und Allawi sprechen beide jene Wähler an, die einen zentral regierten „vereinigten Iraq“ anstreben. Maleki als gemässigter Schiite mit guten Beziehungen zu Iran, Allawi als säkular ausgerichteter Politiker. Die grosse Masse der Sunniten wird von beiden umworben. Eine Schwächung der Allianz Allawis liegt deshalb durchaus im Interesse des Regierungschefs.
Die Kommission, welche über die Ausschliessung der Baathisten befand und dabei gegen wichtige Mitglieder der Allianz Allawis einschritt, steht unter dem Vorsitz von Ahmed Chalabi. Dieser ist seit der Vorkiegszeit ein bitterer Rivale von Allawi. Er arbeitete für Informationsdienste Vizepräsident Cheneys und Rumsfelds und stand den „Neocoms“ nahe, während Allawi der „Mann der CIA“ im Iraq war. Chalabi hoffte 2003 von den Amerikanern zum ersten Regierungsvorsitzenden des Iraqs ernannt zu werden, doch das Amt fiel im letzten Augenblick seinem Rivalen Allawi zu. Auch diese Rivalität, die allen Irakern wohlbekannt ist, trägt dazu bei, hinter den Aussschliessungen politische Absichten und Intriguen zu erblicken.
Die bevorstehenden Wahlen sind für die Zukunft des Iraks von entscheidendem Gewicht. Die heute geltende Verfassung ist nicht endgültig und sollte von dem zu wählenden Parlament revidiert werden. Dabei geht es vor allem um die Frage der Zentralgewalt oder der Autonomie von verschiedenen Landesteilen. Maleki tritt als ein Mann der Zentrale auf. Den Kurden ist Autonomie zugesagt, doch die genauen Grenzen dieser Autonomie müssen noch festgelegt werden, sowohl in Bezug auf die Abgrenzung des kurdischen Autonomiegebietes (Kirkuk als die brennendste Frage), wie auch in Bezug auf die Autonomiekompetenzen (wer bestimmt über die Erdölförderung in „Iraqi Kurdistan“?).
Unter den Schiiten des Südens gibt es auch Autonomiebestrebungen. Sie dürften umso deutlicher hervortreten je weiter die Kurden ihre Autonomie auszudehnen vermögen. Die Lage der sunnitischen Bevölkerungsteile ist ebenfalls ungewiss und ungelöst. Aufstandsbewegungen unter sunnitischen Irakern sind immernoch präsent sowohl in der Form von Terrorbomben, deren Zweck sein dürfte, die Stabilität der bestehenden Demokratie zu untergraben, wie auch in der von bewaffneten Auseinandersetzungen in Nordirak, vor allem in Mosul und Umgebung, wo Kurden und sunnitische Araber einander bewaffnet gegenüberstehen, sowie auch in einigen der gemischten Provinzen des Zentrums, wo das Ringen zwischen Schiiten und Sunniten, das seinen Höhepunkt in Bagdad im Jahre 2007 erreichte, noch immer nachklingt.
In Bagdad hat dieses Ringen zum Vorteil der Schiiten geendet. Die Hauptstadt, einst gleichmässig zwischen beiden Konfessionen geteilt, ist nun eine überwiegend schiitische Stadt geworden. Ganze Quartiere von Sunniten wurden „ethnisch gesäubert“, ihre Bewohner, soweit sie ihr Leben retteten, wurden Flüchtlinge im Ausland oder „displaced persons“ im Inland. In ihre Häuser zogen Schiiten ein, die aus den gemischten Quartieren hatten weichen müssen. Natürlich dauern die Ressentiments unter den betroffenen Familien und Gruppierungen an.
Die amerikanischen Besetzungstruppen werden alles daran setzen, dass trotz diesen Spannungen die vorgesehenen Wahlen ruhig verlaufen. Man hat zu erwarten, dass sie am Wahltag alle Städte und Stadtquartiere abriegeln und so gut wie allen privaten Autoverkehr stillegen werden, um Selbstmordbomben zu vermeiden. Doch ist heute schon klar, dass nach den Wahlen der Rückzug der amerikanischen Truppen mit Nachdruck vorangetrieben werden soll. Wie schnell dies geschehen kann, dürfte natürlich von der Sicherheitslage abhängen. Die Hoffnung ist, dass die irakischen Truppen und Polizisten möglichst selbstständig die Sicherheitsverantwortung übernehmen können.
Es gibt auch eine schattenhafte irakische Sondertruppe, die von amerikanischen Sondertruppenoffizieren nach dem Vorbild der eigenen Einheiten (Iraq Special Operational Forces, ISOF) ausgebildet wurde.Die Uebergabe dieser Spezialtrupen von der amerikanischen an die irakische Autorität soll vollzogen sein. Doch hat sie noch immer amerikanische Ausbilder. Oft sind dies Offiziere der Spezialeinheiten, die früher in Südamerika wirkten. Diese Spezialtruppe gilt als ebenso schlagkräftig wie brutal. Bisher hat sie in erster Linie der Niederhaltung der „Sadr Armee“ in den grossen Slums von Bagdad gedient. Dunkle Gerüchte gehen um, nach denen sie auch politische Feinde des Ministerpräsidenten „ausgeschaltet habe“. Es gibt eine „graue Zone“, welche sunnitische Politiker umfasst, die „dem Widerstand“ nahe stehen. Diese Sondertruppen unterstehen nicht den regulären irakischen Ministerien sondern einem eigenen Büro, das seine Anordnungen direkt vom Regierungschef, zur Zeit Nuri al-Maleki, entgegennimmt. (Vgl. The Nation, June 22, 2009, ausführlicher Bericht von Shane Bauer)
Dienstag, 16. Februar 2010
IRAK: Der Iraq vor entscheidenden Wahlen
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen