von Dr. Arnold Hottinger
Terrorismus ist nicht gleich Terrorismus. Wie viele andere abstrahierende Generalisationen kann der Begriff Terrorismus sich als eine Denkfalle erweisen. Wenn man derartige –ismen zu bekämpfen versucht, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, wie genau ein jeder beschaffen ist, woher er stammt, wie er in seinem Umfeld gelagert ist, welche Zwecke er primär, welche er sekundär verfolgt und ohne bemüht zu sein, zahlreiche weitere konkrete Umstände in ihren spezifischen Umfeldern und Gegebenheiten zu erkennen, - kann sich der Kampf als ein Schlag ins Leere erweisen.
Das Dauerprovisorium der Stammesgebiete
Die heutige Terorwelle in Pakistan und in Afghanistan hat eine sehr lange Vorgeschichte. Sie geht zurück auf die Gründungszeit Pakistans, ja man kann sie noch weiter zurückverfolgen auf die britische Kolonialzeit mit ihren drei afghanischen Kriegen (1839-42; 1878-80; 1918) und der Ziehung der Durand Linie (1893-94) mitten durch die pashtunischen Stammesgebiete hindurch.
Diese Linie ist eine Hinterlassenschaft der drei Kriege. Sie stellte ein Provisorium dar, das eingerichtet wurde, weil die drei Kriege weder zu einem klaren Sieg der Kolonialmacht geführt hatten noch zu einer endgültigen Niederlage. Das Provisorium verlängerte sich bis auf die heutige Zeit. Es bewirkte sozial gesehen, dass die Pashtunen auf der zunächst kolonial-indischen, später pakistanischen Seite der Linie in einem von aussen gesehen recht malerischen jedoch über die Jahrzehnte hinweg immer anachronistischer werdenden, ausgesparten Gebiet vor sich hin lebten, das sich zur eigentlichen Zeitkapsel entwickelte.
Gewiss, die Stämme durften in den sogenannten Stammesgebieten der North West Frontier „tun was sie wollten“. Doch dies lief darauf hinaus, dass sie weitgehend ausserhalb des britisch indischen und später des pakistanischen staatlichen und kulturellen Zusammenhanges lebten, ohne deren Nach- oder Vorteile und ohne an den dort ablaufenden Entwicklungen teilzuhaben. Es wurde eine geistig und materiell verarmende Existenz, je länger sie dauerte desto prekärer.
Spannungen zwischen zwei islamischen Nachbarn
Doch auch Zeitkapseln können zu Gegenständen politischer Ausbeutung werden. Diese begann mit der Gründung Pakistans. Afghanistan beanspruchte die paschtunischen Stammesgebiete jenseits der Durand Linie als seinen angestammten Besitz aus vor-kolonialer Zeit. Pakistan sah „seine“ Stammesgebiete als Teil seines politischen Erbes an, das die Nachfolge der britischen Herrschaft übernahm. Afghanistan weigerte sich, den neuen Staat Pakistan anzuerkennen, solange die Pashtunische Frage nicht geregelt sei. Beide Regierungen machten sich daran, Verbindungen zu Freunden und Klienten unter den Stammesführern der Stammeszone zu knüpfen und diese gegen ihre Gegner zu bewaffnen. Die Gegner wurden dann die ihrerseits von dem gegnerischen Staat bewaffnet.
Das schlechte Verhältnis zwischen den beiden muslimischen Staaten, Afghanistan und Pakistan, führte zu Jahren der Spannungen. Nachdem Muhammed Daud Khan 1953 zum ersten Mal(Fußnote 1) die Regierung übernommen hatte, verschlechterten sich die Beziehungen weiter, und bewirkten die Hinwendungung der afghanischen Regierung zur Sowjetunion. Sie war der einzige ausländische Partner und Verbindungsweg nach der Aussenwelt, wenn Pakistan, wie dies mehrmals geschah, die Wege von Afghanistan nach Karachi sperrte, ungeachtet der alten Verträge, die den Afghanen den Zugang zum Hafen von Karachi gerantierten. Die Sowjetunion baute die Salangstrasse durch den Hindukush zu einer auch im Winter befahrbaren Allwetterstrasse aus, solide genug gebaut, um auch als Einmarschstrasse für Tanks zu dienen. Afghanistan sah sich gezwungen, sein Erdgas von Mazar asch-Scharif nach der Sowjetunion zu exportieren und kaufte im Gegenzug sowjetische Waffen für seine Armee und Luftwaffe. Dies hatte die Ausbildung der afghanischen Soldaten und Offiziere durch die Sowjetunion zur Folge und führte schlussendlich zur Machtergreifung afghanischer, von den Russen ausgebildeter, Offiziere und deren Gesinnungsgenossen aus der kleinen und in sich gespaltenen kommunistischen Partei Afghanistans (1978) sowie wenig später zum Einmarsch der sowjetischen Truppen nach Afghanistan (Weihnachten 1979) .
ISI instrumentalisiert den Jihad
Jihad Kämpfer aus den Stammesgebieten dienten der pakistanischen Armee im Kleinkrieg gegen Indien, der sich seit 1948 um Kashmir dreht und der bis heute nicht beigelegt ist. Die pakistanische Armee unter dem Einfluss von ISI, dem Geheimdienst dieser Armee, entwickelte die These, Pakistan benötige in seiner Konfrontation mit Indien Afghanistan als „strategische Tiefe“ gegenüber seinem soviel grösseren Rivalen. Doch Kabul neigte immer mehr Delhi zu als Karachi oder später Islamabad, weil der Streit um die Stammesgebiete andauerte.
Im Kampf gegen die russische Besetzungsmacht (1980-88) verfolgte die pakistanische Armee das Doppelziel, einerseits den Russen das Leben in Afghanistan zu erschweren oder gar zu verunmöglichen; aber andrerseits auch in diesem Kampf in erster Linie jene Kampfgruppen zu bewaffnen und auszubilden, von denen ISI erwartete, sie könnten später (nach der Vertreibung der Russen) eng mit Pakistan zusammenarbeiten und so Afghanistan in der Konfrontation mit Indien auf die pakistanische Seite bringen.
ISI verteilte die amerikanischen Waffen und Gelder an die Guerrillagruppen und bevorzugte dabei jene Gruppierungen, die als besonders eng an die islamistische Ideologie gebunden galten. Denn von ihnen erhofften sich die pakistanischen Politoffiziere, dass sie sich freiwillig oder gezwungenermassen nach erreichtem Abzug der Russen auf Pakistan abstützen würden. Freiwillig, weil damals auch in Pakistan mit General Zia ul-Haq ein fundamentalistisch ausgerichteter islamischer Staat herrschte; gezwungenermassen, weil die afghanische Bevölkerung als dem engen Islamverständnis des Fundamentalismus eher abgeneigt und dem rivalisierenden Islamverständnis der Sufis zugetan galt. Die fundamentalistischen Gruppen würden daher, so erwartete ISI, auf weiter gehende Stützung durch Pakistan angewiesen sein.
Ein erster Fehlschlag der pakistanischen Strategie
Die pakistanische Rechnung ging nicht auf, weil nach dem Abzug der Russen (1989) jahrelange Kämpfe unter den Afghanen ausbrachen. Die verschiedenen War Lords, die den Guerrilla Gruppen vorstanden, rangen blutig gegeneinander um die Beherrschung des Landes. Erst in jener Periode der innerafghanischen Kämpfe (rund 1989 bis 1996) wurde Kabul zerstört, zerschossen durch die Artillerie Hikmatyars, eines der engsten Günstlinge von ISI. Die Bevölkerung wurde gezwungen (primär durch Wegzölle, die auf den importierten Lebensmitteln und anderen unentbehrlichen Waren lasteten und deren Preise erhöhten), die gegeneinander kämpfenden Milizarmeen der War Lords zu finanzieren. Opium und Heroin Export war schon damals eine andere wichtige Finanzquelle für die de facto Mächte, deren Milizen die Ueberlandstrassen beherrschten.
Die Taleban, ein zweiter Eingriff aus Pakistan
ISI und die pakistanische Armee griffen erneut in Afghanistan ein, indem sie 1994 beschlossen, die kleine in der Nähe von Kandahar operierende Gruppe der pashtunischen Taleban unter Mullah Omar zu unterstützen mit dem Ziel, sie als beherrschende Macht in Afghanistan einzusetzen. Das Projekt einer Gasrohrleitung von Turkmenistan durch Afghanistan und Pakistan an den Indischen Ozean, auf das Pakistan damals hoffte, setzte eine Befriedung Afghanistans voraus und erhöhte die Attraktivität der Taleban-Pläne Pakistans. Saudische Gelder standen damals den pakistanischen Diensten zur Verfügung, weil Saudi Arabien zusammen mit einer amerikanischen Oelfirma an den Gasleitungsplänen beteiligt war.
Die ursprünglichen Taleban aus dem Umfeld von Kandahr wurden verstärkt durch Mannschaften aus den pashtunischen Madrassas, die auf pakistanischem Gebiet lagen. Die Taleban (=Studenten) wurden von pakistanischen Offizieren ausgebildet und oft auch im Einsatz gelenkt. Sie wurden ausgerüstet mit Hilfe saudischer Gelder und mit von Saudi Arabien finanziertem Kampf- und Transportmaterial. Sie erwiesen sich als erfolgreich, gewiss wegen der pakistanischen Waffen- und Einsatzhilfe, aber auch weil die Bevölkerung damals von ihnen ein Ende des Dauerkrieges der Warlords erhoffte.
Doch die Rechnung der pakistanischen Offiziere ging wiederum nicht auf. Die Taleban beherrschten im Jahr 2001 fast das ganze Land und regierten in Kabul (es war nur noch die tajikische Widerstandsgruppe Rabbanis mit den Kämpfern unter Ahmed Shah Mas’ûd, die ihnen im Nordosten Afghanistans Widerstand leistete). Doch die Taleban erwiesen sich als wenig gewillt, eine Politik der engen Zusammenarbeit mit Pakistan zu führen. Ihnen lag vielmehr daran, ihrer Ideologie gemäss ein „islamisches Regime“ nach ihren eigenen, zutiefst konservativen, ja reaktionären Vorstellungen in Afghanistan einzuführen und durchzusetzen.
Dieses Regime war „fundamentalistisch“, jedoch von einem Fundamentalismus durchaus eigener Art, der die Züge eines pashtunischen Stammesislams kombinierte mit dem engst-möglichen Schari’a Verständnis und beides zusammen zum eisernen Gebot über ganz Afghanistan zu erheben bestrebt war.
In jener Periode waren die bevorzugten Waffen der Taleban nicht eigentlich teroristischer Art. Die Kämpfer bedienten sich leichter geländegängiger Lastwagen (sie wurden ihnen in Massen von Saudi Arabien aus zugestellt), auf die sie Maschinengewehre installierten und von denen aus sie selbst mit Maschinenpistolen schossen. Diese Geländefahrzeuge konnten zu grösseren Angriffsfronten massiert werden.
Bekanntlich wurden die Taleban, weil sie Ben Ladhen und seinen Gehilfen in Afghanistan Unterschlupf boten, von den Amerikanern mit Hilfe der Kämpfer des kurz vor dem Anschlag in New York ermordeten Ahmed Schah Mas’ûd (dies war ein Mordanschlag, der mit terroristischen Mitteln geschah, die Mörder sollen als tunesische Journalisten auftretende Selbstmordbomber gewesen sein) im Oktober und Anfang November 2001 relativ leicht nierdergekämpft und zur Flucht nach Süden gezwungen. Doch die Kader und viele der Kämpfer der Taleban fanden mit Hilfe von ISI Asyl in Belutschisten oder in den pakistanischen Stammesgebieten. Auch Ben Ladhens und seines zweiten Mannes, Zawahiris, konnten die amerikanischen Truppen seltsamerweise nicht habhaft werden.
Sechs Jahre Vernachlässigung
Der dann von Bush und seinen Beratern völlig unnötigerweise und unter gefälschten Behauptungen, die dazu dienten, den Krieg als notwendig darzustellen, im März 2003 ausgelöste Krieg im Irak und sein für die Amerikaner unerwarted ungünstiger Verlauf bewirkte dann, dass die Amerikaner sich nie bemühten, das Land Afghanistan voll zu beherrschen. Die von ihnen zugezogenen Nato Truppen, die sich weitgehend als „Friedenstruppen“ verstanden, taten es auch nicht. Stattdessen verfolgte man eine Politik der Sparflamme. Weil viel zu wenig Truppen zur Verfügung standen, um das ganze Land abzusichern, begnügten die amerikanischen und die Nato Soldaten sich damit, Kabul zu besetzen und einige Gruppen in die Landesteile zu entsenden, welche den pashtunischen Taleban ohnehin wenig zuneigten. Doch andere Landesteile verblieben in der Macht der War Lords, die nach dem Abzug der Taleban in ihre früheren Machtzentren zurückkehrten, wie etwa Ismail Khan in Herat und Dostom in Mazar-e-Scharif. Diese Warlods wurden als Scheinparlamentarier dem afghanischen Parlament einverleibt. Doch sie behielten ihre eigenen Milizen und damit auch ihre uneingeschränkte Macht in ihren separaten Machtbereichen bei.
Die Taleban sammelten sich erneut in den Stammesgebieten nah an den afghanischen Grenzen, wahrscheinlich mit Duldung der pakistanischen Armee, jedenfalls ohne dass diese gegen sie eingeschritten wäre. Ihre Rückkehr zu bewaffneten Aktivitäten in den Stammeszonen, wo sie auch auf Ueberreste von arabischen Kampfgruppen und usbekischen Jihadisten stiessen, die ebenfalls in den Stammeszonen Zuflucht gefunden hatten und sich neu organisierten, begünstigte auch die Entstehung der sogenannten pakistanischen Taleban.
All diese Bewaffneten gemeinsam, verbündet mit Stammeskriegern der Zone, brachten die zivilen Bevölkerungen der Stammesgebiete unter ihre Kontrolle. Die Stammesleute dürften ihrer islamistischen Ideologie und ihrem Schari’a Staat keineswegs zugeneigt zu haben. Doch wenn sie überleben wollten, mussten sie sich zusehends den Bewaffneten fügen, gegen die keine staatliche Gegenmacht in die Schranken trat.
Die Pakistanischen Taleban
Nachdem sie begonnen hatten in den Stammesgebieten vollendte Tatsachen zu schaffen, versuchten die „pakistanischen Taleban“ ihre Macht auf die pakistanischen Städte auszudehnen, die nahe an den Stammesgebieten lagen. Die pashtunische Stadt Peshawar und das balutchische. Quetta worden Hauptziele ihrer Infiltration. Doch es gab Zeiten, in denen sie ihren Einfluss auch in bestimmten Zonen von Islamabad geltend machten. Ihr Versuch, von der Roten Moschee in Islamabad und über die islamische Frauenschule daneben in den umliegenden Strassen die Macht zu übernehmen, indem sie die dortigen Ladenbesitzer zwingen wollten, nach ihrer fundamentalitisch verstandenen Version der Schari’a zu leben (März bis Juni 2007 ) führte zu einer der ersten blutigen Konfrontationen der pakistanischen Taleban mit der Armee. 1500 Mann der Armee umstellten die Moschee und nahmen die dortigen Kämpfer gefangen oder erschossen sie. Der damalige Anführer der pakistanischen Taleban, Baitullah Mehsûd, gelobte Rache, jedoch nicht in der Hauptsatdt sondern in den Stammesgebieten. Offensichtlich weil er sich dort in einer überlegenen Lage glaubte. Die Städte des pakistanischen Nordens jedoch, besonders jene innerhalb oder am Rande der pashtunischen Landesteile, wurden zu Zielen von Bombananschlägen (Fußnote 2).
Der Rückschlag der Taleban in der Hauptstadt führte so zum Uebergang von der Propaganda in den Moscheen zur Propaganda durch Terrorschläge. Die Anschläge waren dazu bestimmt, Unsicherheit in der Bevölkerung auszubreiten und ihr glaubhaft zu machen, dass die Regierung sie nicht wirksam verteidigen könne. Die Taleban wussten, wenn dies in den Augen grösserer Bevölkerungsteile glaubhaft würde, sähen diese sich gezwungen, das Regiment der Taleban anzuerkennen und sich ihren Geboten zu unterstellen. Wie dies in grösseren Teilen der Stammesgebiete und in mehreren Provinzen Afghanistans bereits Tatsache geworden war.
Diese Lage zwang die Armee die Herausforderung der Taleban anzunehmen und zu versuchen, gegen sie einzuschreiten. Freilich setzten die Offiziere zunächst in vielen Fällen auf Verhandlungen mit den islamistischen Kämpfern. Sie unterzeichneten Waffenstillstände, nach denen die Kämpfer ihre Waffen behielten, aber der pakistanischen Polizei eine gewisse Präsenz zusagten. Doch bald wurde deutlich, dass die Taleban solche Waffenstillstände brachen, Vorwände dafür liessen sich leicht schaffen, sobald sie sich in der Lage sahen, nach Abzug der Truppen erneut das Heft in die Hand zu nehmen. Dies war die Erfahrung, welche die pakistaniche Armee mit von ihr ausgehandelten „Waffenstillständen“ in Nord- und Südwaziristan und auch später in Swat machte.
Amerikanische Druckmaneuver
Die Amerikaner versuchten ihrerseits den Druck auf die pakistanische Armee zu erhöhen, um sie zu zwingen, den endgültigen Kampf gegen die pakistanischen Taleban aufzunehmen. Sie verwandten zweierlei Druckmittel. Ihre Unterstützung der pakistanischen Armee mit grossen geldsummen und mit Waffen wurde davon abhängig gemacht, dass die Armee energischer gegen die Taleban vorgehe.
Doch die Amerikaner schritten auch zu einem zweiten Druckmittel: sie begannen vermutete Sitze der Taleban in den Stammesgebieten mit Drohnen anzugreifen und zu zerstören. Dies führte unvermeidlich zu bedeutenden Verlusten an zivilen Menschenleben. Wieviele Kämpfer auf diesem Wege ausgeschaltet wurden, war oft unklar und manchmal umstritten. Pakistan, und in erster Linie die Sprecher der Streitkräfte, protestierten gegen diese Uebergriffe der USA auf pakistanisches Territorium. Offiziell hiess es, diese Verletzung der pakistanischen Souverainität sei „unerträglich“. Es gab aber gleichzeitig Berichte, die wissen wollten, die amerikanischen Drohnen starteten von pakistanischen Militärflugplätzen in Belutschistan.
Jedenfalls waren die Drohnenangriffe bei der Bevölkerung der Stammesgebiete, die ihnen ausgesetzt war, wenn sie gleich nicht das offizielle Ziel der Angriffe darstellte, sehr wenig beliebt. Sie steigerten den Hass auf Amerika und dienten dadurch der Rekrutierung von weiteren „Taleban“ – Kämpfern. Ganze Stämme und Stammesfraktionen der Stammesgebiete wurden so in die Arme der Taleban hineinbombardiert. In den Augen der pakistanischen Bevölkerung und besonders in denen der Stammeskrieger sank das Prestige der pakistanischen Armee. Sie sei ja nichteinaml in der Lage, so urteilten sie, pakistanisches Territorium gegen die Uebergriffe ihrer amerikanischen Verbündeten zu verteidigen. Auch dies wurde ein Grund für die Stammesleute, sich den Taleban anzuschliessen.
Rückkehr der Taleban nach Afghanistan
Die Entwicklung auf der afghanischen Seite der Pashtunen Gebiete verlief ähnlich. Die Taleban kehrten aus den Asylpositionen und den Ausbildungslagern, die sie in den pakistanischen Stammesgebieten betrieben über die Durand Linie zurück. Auch in Afghanistan gingen sie über zum Gebrauch von terroristischen Methoden. Dies war eine Lehre, die sie aus den irakischen Kämpfen gegen die amerikanische Besetzungsmacht zogen. Im Zuge ihrer vorhergehenden Machtergreifung über Afghanistan während der 90er Jahre, hatten sie Terrorrmethoden nur in seltenen Einzelfällen verwendet. Ihre Hauptwaffen waren damals Geldzahlungen an bestechbare Kampfgruppen gewesen plus Artillerie und Geländewagen mit Maschinengewehren.
Nach den jüngsten Statistiken, veröffentlicht von BBC, fielen in den ersten sechs Monaten von 2009 39 % der total 1013 zivilen Opfer des Afghanistan Krieges Selbstmordanschlägen und Bomben an den Strassen zum Opfer. 11 % kamen durch Mordanschläge um. Weitere 29 % durch „andere Aktionen der anti-Regierungskräfte“ (eine etwas unklare Kategorie). Aber weitere 20% wurde Opfer von „Luftangriffen“. Diese Luftangriffe (air strikes) können nur von amerikanischen oder europäischen Truppen ausgegangen sein. Sie stellen eine bedeutende Unterstützung der Bestreben der Taleban Kämpfer dar. Die Zunahme der Zahl der Opfer verglichen mit den ersten sechs Monaten von 2008 beträgt 24%.
Diese Statistiken müssen als unsicher angesehen werden. Sie gehen auf amerikanische und europäische Einschätzungen zurück. Sie dürften, wie dies bei allen Militärs üblich ist, zu Propagandazwecken geschönt sein. Die 20% der zivilen Opfer, welche die Luftangriffe verursachten, und die den gleichen politischen Effekt auslösten, welchen die Taleban mit ihren Mordaktionen anstreben, müssen daher als eine Minimalzahl angesehen werden.
Die Befehlshaber der amerikanischen Streitkräfte sind sich bewusst, dass der Tod von Unschuldigen den Zielen der amerikanischen Militäraktion widerspricht. Diese sind offiziell, die Zuneigung und Sympathie der Afghanen zu gewinnen. Mehrmals wurden Befehle ausgegeben, nach denen genau zu prüfen sei, ob ein Luftangriff Zivilisten gefährde, bevor er zugelassen werde. Doch es ist nicht klar, ob solche Befehle viel Wirklung zeigten. Die Kampfmethoden der amerikanischen Armee sind nicht leicht zu verändern. Diese bestehen daraus (in Afghanistan und im Irak), dass eine Patrouille, die angeschossen wird, zunächst in Deckung geht und einen Luftschlag anfordert. Der Luftangriff erfolgt, richtet sich gegen die vermuteten Quellen des feindlichen Feuers und führt nur zu leicht dazu, dass Häuser mit ihren zivilen Insassen zerstört werden. Die Taleban, falls wirklich solche vorhanden waren, können oft fliehen. Dieses Vorgehen schont das Leben der Soldaten. Jede Amee wird so handeln, dass sie ihre technische Ueberlegenheit dazu benützt, um das Leben ihrer Soldaten zu schonen. Wenn dies das Leben von Zivilisten gefährdet, düfte das den Soldaten weniger wichtig sein, als ihr eigenes Leben abzusichern. Dies gilt besonders, wenn die zivile Bevölkerung aus Menschen besteht, die den Besetzungssoldaten fremd sind und nur zu leicht von ihnen als eine geringere Menschenart angesehn werden.
Die Suche nach einem Ausweg
Mit den heute verwendeten militärischen Mitteln ist Afghanistan schwerlich zu retten. Dies geben alle Seiten zu. Der Streit beginnt mit der Frage, ist es glaubhaft, wie General McCrystal es will, dass Afghanistan stabilisert werden könnte, wenn Amerika weitere 40 000 Soldaten dorthin entsendet? - Die Gefahr ist, dass die grössere Zahl von amerikanischen Kämpfern auch eine grössere Zahl von afghanischen, auf der Seite der Taleban, mobilisiert. Die Pashtunen sehen mehr und mehr die ausländischen Truppen als Besetzungssoldaten, und diese sind umgekehrt auch mehr und mehr gezwungen, sich als solche zu verhalten, je gefährlicher das Leben für sie wird. Davon, dass sie Afghanistan helfen könnten, eine stabile und möglichst demokratische Regierung einzurichten (dies war der ursprüngliche Zweck ihrer Präsenz) kann weniger und weniger die Rede sein. Die soeben bekannt gegebene „Dislozierung“ der ausländischen UN Funktionäre aus Kabul – nach einem Selbstmordangriff auf das Gästehaus der UN – spricht eine deutliche Sprache. Die ebenfalls jüngst bekannt gegebene Ermordung fünf britischer Ausbilder durch einen Polizisten, den sie ausbilden sollten, ist ebenfalls beunruhigend.
Wie die Dinge heute stehen, ist es keineswegs sicher, ja eigentlich unwahrscheinlich, dass „mehr Stiefel“ , besonders wenn es sich um ausländische Stiefel handelt, das Land zu beruhigen vermöchten. Im benachbarten Kashmir, einem viel kleineren Gebiet mit rund fünf einhalb Millionen Einwohnern, stehen sehr viel mehr Stiefel im Einsatz als Amerika je nach Afghanistan schicken könnte. Zeitenweise sind es gegen 500 000 Mann der indischen Armee und kashmirischen Polizei. Doch Kashmir ist seit über 50 Jahren nie ganz zur Ruhe gekommen. Die Kashmiri gelten als sehr viel friedlichere Leute als die Paschtunen. Und die indischen Streitkräfte dürften um vieles weniger landesfremd sein als die Amerikaner und Europäer im Afghanistan. Doch ist unübersehbar, dass die Kashmiri heute der indischen Besetzung müde sind und am liebsten unabhängig würden.
Eine Lösung für Afghanistan und Pakistan dürfte schwer zu erreichen sein. Viele Jahre wurden vertrödelt, und heute ist es wahrscheinlich zu spät geworden für eine auf Amerika und die Nato Truppen abgestützte afghanische „Demokratie“ oder proto-Demokratie. Eine Politik, die über die enge – und ziemlich aussichtslose – militärische Terrorbekämpfung hinaus ginge, müsste einerseits die Afghanen vor ihre eigene Verantwortung stellen, etwa in dem Sinne, dass die Besetzungstruppen ihren Abzug in einer festen Zeitspanne, vielleicht zwei Jahren, festlegen, geschehe was wolle. Andrerseits müsste für eine Entspannung und gemeinsame Afghanistan-Politik sämtlicher Randstaaten gesorgt werden, die an Afghanistan angrenzen, etwa im Sinne eine internationalen Konferenz all der Staaten, denen primär daran liegt, Ruhe in Afghanistan zu schaffen, damit die Unruhe nicht zu ihnen übergreift, Das sind: Pakistan, Indien, die Staaten Zentralasiens, Russland, Iran. - Amerika und die Natostaaten könnten sich auch vertreten lassen und sollten als Animatoren, auch im finanziellen Bereich, fungieren.
Bevor eine solche Konferenz beginnen kann, müsste alles getan werden, um das Misstrauen zwischen Indien und Pakistan abzubauen und den Kashmirkonflikt endlich zu lösen. Die Spannungen zwischen Pakistan und Indien, in deren Zentrum der Kashmirkonflikt steht, wirken sich wesentlich auf die Lage in Afghanistan aus. Sie sind der Hauptgrund, der Pakistan in der Vergangenheit dazu brachte, Afghanistan als einen Schauplatz seines Ringens mit Indien anzusehen und zu behandeln sowie die islamistischen Kämpfer – die Pakistan auch in Kashmir dienen – zu hegen und zu pflegen. Die gleichen Kämpfer, die heute in Pakistan und in Afghanistan alle Sicherheit unterlaufen.
Der pakistanischen Armee geht es seit 50 Jaren nicht nur darum, in Kashmir den Topf am Kochen zu erhalten, damit die pakistanischen Forderungen nicht in Vergessenheit geraten. Sie sieht auch mit Genugtuung, dass die dortigen Spannungen, angeheizt durch die von ihnen begünstigten islamistischen Kämpfer, grosse Teile der regulären indischen Armee binden und beschäftigen. Diese Teile, so urteilt ISI, und es ist manchmal beinahe die Hälfte, „fallen aus als direkte Bedrohung unserer Grenzen“. – Eine Eingrenzung des afghanischen Konfliktherdes durch die Aussenstaaten ist nur denkbar, wenn Indien und Pakistan ein gemeinsames Interesse daran entwicklen. Nicht, solange die beiden Afghanistan als einen Einsatz in ihrem bilaterlaen Ringen verstehen.
Die beiden offenen Wunden der Region, die beide seit 1949 bluten, und die beide nur provisorisch – nicht definitv - gelöst sind, die Pashtunenfrage mit der Durand Linie und die Kashmirfrage mit ihrer „Line of Controll“, müssten angepakt werden, wenn es um echte Lösungen, nicht bloss um gewaltsame und daher wenig aussichtsreiche, weil gewaltbedingte und an Gewalt gebundene, Befriedungen gehen soll.
Worum geht es wirklich für Amerika?
Eine weitere Vorbedingung zu einer Lösung wäre wohl, dass in den amerikanischen Köpfen etwas deutlicher werde, dass die Afghanistan Frage aus humanitären Gründen, weil es um die Lebens- und Ueberlebensbedingungen der Afghanen und der afghanischen Frauen geht, von Wichtigkeit ist – aber nicht aus Gründen der „amerikanischen Sicherheit“. Das gleiche gilt für Pakistan, mit der Ergänzung, dass Pakistan als ein sehr grosser und über Atomwaffen verfügender Staat auch seine weltpolitische Bedeutung besitzt. Es war einmal so, dass New York und Washington sich von Terroristen überraschen liessen, die von der in Afghanistan situierten al-Qa’eda ferngesteuert und finanziert wurden (jedenfalls wenn man der offiziellen Version der Ereignisse des 11. Sept. 2001 Glauben schenken will). Doch seither haben keine Terroranschläge mehr aus der gleichen Quelle in den USA stattgefunden. Was nur bedeuten kann, dass die Qa’eda Leute (soweit sie noch existieren) dazu nicht in der Lage waren. Amerika kann auch künftig mit polizeilichen, diplomatischen und finanziellen Massnahmen abgesichert werden, wenn in Afghanistan die Taleban herrschen. – Wahrscheinlich ist dies vielen Verantwortlichen der Obama Regierung klar. Doch sie sagen es nicht öffentlich, weil die amerikanische Bevölkerung einem weiteren und erweiterten Krieg in Afghanistan (der zur Zeit noch erwogen wird) allerhöchstens dann zustimmen dürfte, wenn sie glaubt, sie selbst und ihr Land seien gefährdet und sie würden „in Afghanistan“ gewissermassen auf vorgelagerter Front „verteidigt“.
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1) Er übernahm die Macht ein zweites Mal im Jahr 1973, diesmal indem er mit Hilfe der in der Sowjetunion ausgebildeten Offiziere seinen Vetter, den König, absetzte und als Diktator regierte. Er beendte damit ein demokratisches Experiment, das der König begonnen hatte, nur um 5 Jahre später dem pro-kommunistischen Staatsstreich der gleichen Linksoffiziere zum Opfer zu fallen.
2) Im Oktober 2009 fanden 4 grosse Anschläge in Peschawar statt sowie je einer in Kuhat, Rawalpindi, Islamabad, Lahore und im Swat Tal.
Montag, 9. November 2009
TERROR: Terror in Pakistan und in Afganistan
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