Dienstag, 27. Oktober 2009

Birgit Cerha: Terror drängt Iraks Parlamentarier zu Kompromiss


Chancen auf ein neues Wahlgesetz zur Stabilisierung des politischen Prozesses steigen - Doch der Hauptstreitpunkt Kirkuk bleibt ungelöst


Der Schock des Blutbades, das vergangenen Sonntag 156 Menschen im Herzen von Bagdad das Leben kostete, hat Iraks tief zerstrittene Politiker aufgerüttelt. Der Terroranschlag, zu dem sich Dienstag der „Islamische Staat des Iraks“, eine mit dem Al-Kaida Netzwerk verknüpfte irakische Terrorgruppe, bekannte, war gegen die politischen Zentren des Landes gerichtet - das Justizministerium und das Büro des Gouverneurs von Bagdad wurden schwer beschädigt – und ist Teil einer Strategie radikaler arabisch-sunnitischer Kräfte, den von den Amerikanern eingeleiteten politischen Stabilisierungsprozess im Irak zu stoppen. Das Ausmaß der Gewalt, die auch mehr als 500 Menschen, darunter einige Politiker, verletzte, hat Iraks politische Führer Montag abend nach monatelangem Streit zu einem Kompromiss über ein neues Gesetz gedrängt, das die für 16. Januar 2010 angesetzten Parlamentswahlen regeln soll.

Ein Änderungsvorschlag zu dem so lange heftig umstrittenen Gesetzesvorschlag wurde nun der Parlamentsleitung präsentiert, bevor die Abgeordneten schließlich darüber abstimmen sollen. An dem entscheidenden Treffen hatten Präsident Talabani (Kurde), Ministerpräsident Maliki (Schiit), sowie deren Stellvertreter und der Parlamentspräsident Samarrai (arabischer Sunnit) teilgenommen. Damit waren die Hauptgruppierungen des Landes vertreten.

Der Durchbruch kam in letzter Minute, nachdem das Parlament bereits die von der UNO auf den 15. Oktober gesetzte Frist für den Beginn der Wahlvorbereitungen versäumt hatte. Laut Verfassung müssen die Iraker bis Ende Januar 2009 ein neues Parlament wählen. Gelingt dies nicht oder nur auf Basis des alten in wichtigen Aspekten problematischen Wahlgesetzes, verliert der politische Prozess zur Stabilisierung des Landes empfindlich an Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung und Extremisten erhielten erneut Auftrieb, während die USA ihre Truppenpräsenz graduell verringern sollte. Genau dies soll der Terror militanter Kräfte erreichen.

Einzelheiten über den Kompromiss für das Wahlgesetz wurden bisher nicht bekannt. Es sind mehrere Aspekte, an denen sich der Streit zwischen Schiiten, Kurden, arabischen Sunniten, Vertreter der großen und kleiner Parteien seit Monaten entzündete. Da geht es zunächst um die Frage der „offenen Listen“, die den Wählern ermöglichen, nicht nur für eine Partei, sondern für einzelne Kandidaten zu stimmen. Um einzelne Kandidaten in der gewaltgeladenen Atmosphäre vor vier Jahren nicht zur Zielscheibe von Terroristen zu machen, hatte man in das die Wahlen 2005 regelnde Gesetz nur ein „geschlossenes“ System vorgesehen, ohne individuelle Kandidaturen. Vor allem die kleineren Parteien, darunter auch jene unter Führung von Maliki, favorisieren das „offene System“, da sie sich dadurch einen größeren Stimmenzuwachs aufkosten der „Großen“ erhoffen. Genau aus diesem Grund blockierten die großen Parteien diese Regelung und damit das gesamte Gesetz, in der Hoffnung, man würde sich im letzten Moment auf die bisherigen Bestimmungen einigen, um einen Wahlaufschub mit unabsehbaren Folgen zu vermeiden.

Viele Iraker sind der diskreditierten, vielfach korrupten politischen Führer müde und unterstützen deshalb die „offenen Listen“. Auf diese, so informierte Kreise, dürften man sich nun geeinigt haben.

Der weit schwierigere Streitpunkt aber ist die Ölstadt Kirkuk, der schon vor einem Jahr die Verschiebung der Regionalwahlen auf Ende Januar 2009 erzwungen hatte. Die Wahlen waren schließlich überhaupt nur möglich geworden, weil man die Provinz Kirkuk und die drei autonomen Provinzen Kurdistans von den Wahlen unter der Bedingung ausgeschlossen hatte, dass man ein eigenes Wahlgesetz für Kirkuk erarbeite und die Wahlen bis spätestens Mai 2009 nachhole. Dies geschah nicht. Der Streit bleibt ungelöst. Dabei geht es um den Status der Ölstadt und einiger – zwischen Kurden und Bagdad – „umstrittenen Gebiete“.

Seit Jahrzehnten betrachten die Kurden Kirkuk als das „Herz Kurdistans“. Die herrschende Baath-Partei hatte insbesondere unter Saddam Hussein in einer brutalen „Arabisierungskampagne“ Zehntausende Kurden, später auch Turkmenen, aus Kirkuk und anderen ölreichen Regionen verjagt, Tausende ermordet, und Araber angesiedelt. Einige tausend Vertriebene kehrten nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 heim. Die Kurden bilden heute in der Stadt vermutlich die Mehrheit, genau weiß dies aber niemand. Eine in der neuen irakischen Verfassung vorgesehene Volkszählung wurde nie durchgeführt, ebenso wenig eine Volksabstimmung und ein „Normalisierungs-Prozeß“, der den Vertriebenen die Rückkehr und Rückgabe des verlorenen Besitzes ermöglichte, blieb in den Anfängen stecken. Turmenen und Araber in der Stadt wehren sich heftig gegen die neue kurdische Dominanz. Die führenden kurdischen Parteien haben bisher einen Boykott der Parlamentswahlen angedroht, sollte das neue Wahlgesetz durch eine Sonderregelung für Kirkuk die Macht der Kurden beschneiden. Ob man in dieser Frage nun einen realistischen Kompromiß fand, ist vorerst unklar.

Ebenso ungewiss ist, ob der dritte wichtige Streitpunkt – die Möglichkeit für etwa vier Millionen Exil-Iraker, sich an den Wahlen zu beteiligen – gelöst werden kann. Zudem steht zu befürchten, dass der Streit erneut ausbricht, wenn die Parlamentsführung den Kompromiss den Abgeordneten zur Abstimmung präsentiert.

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