Donnerstag, 29. Oktober 2009

ISLAM: Wann lernen die Religionen?

Können Religionenen lernen? Die europäische Geschichte und die der christlichen Bekenntnisse lehren uns, ja! Man kann dies etwa an der Geschichte der Reform und Gegenreform der Katholischen Kirche ablesen, oder auch an den gegenwärtigen Bestreben, die Kirchen für die heutigen Christen relevanter zu machen.–Jedoch sie lernen nicht leicht! Neu entstehende Religionen tragen eine neue Botschaft in die Welt. Sie wirken daher umwälzend auf die bisherige Gesellschaft. Doch einmal eingerichtete Religionen (established, heissen sie auf englisch) werden unvermeidlich konservativ. Sie haben ein Erbe zu vertreten und zu verteidigen; sie haben eine, in ihren Augen absolute, Wahrheit aufrecht zu erhalten. Deshalb fällt es ihnen schwer, angesichts veränderter Lebensumstände ihrer Gemeinden, neue Antworten auf deren neue Fragen zu geben.

Die religiösen Spezialisten halten sich am liebsten an das alt-überlieferte und altbewährte. Im klassischen Islam ist der Begriff „bid’a“ , Neuerung, etwas durchaus negatives. Ein Gottesgelehrter kann gegen einen anderen den Vorwurf erheben, der andere habe eine „bid’a“ in der Religion gefördert. Das impliziert, er sei abgewichen vom wahren Standart und den seit alters bekannten Wahrheiten. Wenn er das tut, ist es schon fast Ketzerei.

In heutigen islamischen Gesellschaften jedoch erscheint „bid’a“ nur noch im hochtechnischen Sinne innerhalb einer theologischen Diskussion als etwas anrüchiges und verpöntes. Die Gesellschaften als ganze haben sich in den letzten 150 Jahren auf einen Weg beständig weiter um sich greifender Neuerungen begeben. Dies war notwendig, um überhaupt als eigenständige Gesellschaften überleben zu können. „Reformen“ werden deshalb nicht mehr in einem jeden Lebensbereich als negativ und unzulässig gesehen, „Fortschritt“ gilt heute in der islamischen Welt als notwendig und begehrenswert, wie in Europa, woher dieser Begriff übernommen wurde. Nur noch im Rahmen der Theologie und ihrer Fachsprache verbleibt dem Begriff „Neuerung“ nach wie vor ein negativer Anstrich.

Vielleicht kann man allgemein formulieren: Religionen, die sich eingerichtet haben, lernen nur noch dazu, wenn sie in echter Gefahr schweben. Und zwar in Gefahr, ihre eigenen Anhänger zu verlieren. Nicht bloss in Gefahr von irgendwelchen Feinden und Gegnern angegriffen und niedergehalten zu werden. Wenn dies zweite geschieht, kann eine Religion daraus Stärke ziehen. Sie sieht sich einer Bewährungsprobe ausgesetzt. Leiden in ihrem Namen kann für ihre Anhängerschaft zur Bestätigung ihrer Bedeutung dienen. Misserfolge auf dieser Welt sind vorgesehen und können als Prüfung gedeutet werden, welche die Anhänger in ihrem Glauben bestärkten werde.

Anders ist es, wenn die Anhänger beginnen, sich von ihrer bisherigen Relgion abzuwenden. Diese droht dadurch irrelevant zu werden, und ihre Fachleute fangen an zu fragen, ob sie sich anders als bisher verhalten müssten, um dem Dahinschwinden ihrer Anhängerschaft entgegenzuwirken. Dies führt zu einem Lernprozess. Man sucht nach den Gründen, welche die Wirkungskraft der Religion reduzierten, und ist bemüht, Wege finden, um den Vorgang zu bremsen oder rückgängig zu machen.

Innerhalb einer Religion kann es auch vorkommen, dass neue Träger des Glaubens auftreten und ihre Religion in neuer Weise verstehen und vertreten. Die traditionellen Religionsspezialisten versuchen fast immer zuerst, solche Neuerer zu marginalisieren, zu verleumden und auszugrenzen. Nur wenn sie dennoch erfolgreich sind und Wirkung auf die Gläubigen ausüben, kann dies ebenfalls einen Lernprozess bei den Vertretern der bisherigen Ausrichtungen und Traditionen auslösen. Im wesentlichen aus dem gleichen Grund: die Gläubigen beginnen sich von ihnen abzuwenden, weil der neue Träger des Glaubens sie wirksamer anspricht.Dies kann dann zum Lernen von neuen Ideen, neuen Aspekten des Religionsverständnisses sogar durch die traditionellen Religionsautoritäten führen. Der zuerst bekämpfte und abgelehnte Erneuerungsträger wird dann inkorporiert und in Person und Sendung zu einem der „Heiligen“ der bestehenden Religion erhoben.


Bildungsdifferenzen
Im gegenwärtigen Islam ist die Lage dadurch kompliziert, dass die Geistlichen, Ulemâ’, in anderen, meist traditionelleren Lebenszusammenhängen aufwachsen als viele ihrer Gläubigen. Der Unterschied ist am grössten und daher der Graben am tiefsten im Falle der gebildeteren und daher auch meist einflussreicheren und wohlhabenderen unter den „Laien“.

Es gibt zwei unterschiedliche Bildungssysteme. Das „moderne“ wurde im Verlauf der letzten beiden Jahrhunderte von den Staaten schrittweise eingeführt und wird von ihnen kontrolliert oder beaufsichtigt. Es geht auf europäische Vorbilder zurück, wie die französische Volksschule und den dazu gehörigen Oberbau von Gymansien und Universitäten. Daneben gibt es ein viel ältereres und von Beginn an einheimisches, traditionelles Bildungssystem, das der Staat mancherorts leicht modifiziert hat, um es seinem Standart anzugleichen, das jedoch im wesentlichen die Hauptzüge eines theozentrischen, von der traditionellen Religion getragenen und auf sie hin ausgerichteten Unterrichts- und Bildungswesens beibehalten hat. Das erste System bringt die weltlichen Eliten der Moderne hervor; es durchlaufen zu haben ist eine wichtige Vobedingung für späteren Erfolg im Berufs- und sogar im politischen Leben. Das zweite ist immer enger beschränkt auf die Ausbildung von Geistlichen, deren gegenwärtige und wohl auch künftige Rolle beinahe ausschliesslich auf jene von Fachspezialisten in religiösen Fragen hinausläuft.


Die Beratungsfunktion der Gottesgelehrten
Seit alters werden im Islam die Geistlichen von den nicht als Theologen ausgebildeten „Laien“ in allen Fragen zu Rate gezogen, die ihre Religionsausübung und ihr Religionsverständnis angehen. Sie sind die Autoritäten, welche den nicht Fachleuten, den Ungelehrten, erklären, was der Islam sei und wie man sich in allen konkreten Einzelfragen dem islamischen Religionsgesetz, der Scharî’a, gemäss zu verhalten habe.

Die Fragen kommen heute von Gläubigen, die mitten in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess ihrer Lebensbedingungen und Lebensauffassungen stehen. Dieser ist durch den gewaltigen Anpassungsdruck verursacht, dem alle muslimischen Gesellschaften, gestern im Zeichen des Kolonialismus und heute im Zeichen der Globalisierung, ausgesetzt waren und bleiben. Doch die Antworten werden erteilt von Fachleuten der Religion, die selbst von diesem Anpassungsdruck viel weniger berührt werden als ihre nicht theologisch ausgebildeten Mitmuslime. Sie leben, lernten und lehren in Nischen der Tradition, abgeschirmt von vielen Aspekten der durch die Moderne erzwungenen Neuerungen.


Verbindungen zwischen Staat und Gottesgelehrten
Nicht nur ihre Bildung und ihre Berufsausichten bewirken die Sonderstellung der Ulemâ’, sondern auch ihre Stellung im Staat. Sie dienen den Machthabern zu deren Legitimierung, und diese ernennen sie (genauer die ihnen Zustimmenden unter ihnen) für die zur Verfügung stehenden, weitgehend vom Staat finanzierten, beruflichen Positionen.

Der Staat, der sich normalerweise in der Hand eines einzigen Machthabers befindet, ist ebenso konservativ wie die durchschnittlichen Religionsautoritäten. Der Machthaber vermeidet alle wesentlichen Veränderungen der Hierarchie, die er krönt. Denn Veränderungen würden seine Stellung an der Spitze der Pyramide erschüttern. Von den vom ihm abhängigen und auf ihn abgestützten Gottesgelehrten erwarten daher die Machthaber des Staates, dass sie alle Neuerungen ablehnen, mindestens alle jene, die nicht für militärische, für Sicherheitsbelange und für das wirtschaftliche Fortkommen als unentbehrlich erscheinen. Die Gottesgelehrten in führenden (fast immer vom Staat abhängigen) Positionen pflegen sich diesen Vorgaben des Staates zu fügen. Die moderne Technologie, so erklären viele der politisch und sozial engagierten Gottesgelehrten, sei durchaus willkommen, sie beeinträchtige „den Islam“ nicht. Doch zeitgemässe humanitäre, menschenrechtliche, künstlerische, sozialkritische, politische, geistige Erneuerungsanliegen und Reformforderungen, stossen in ihren Augen leicht auf „islamische“ Schranken.


Definitionsgewalt
Es sind die in dieser Sonderstellung verankerten Gottesgelehrten, denen in ihren eigenen und in den Augen der grossen Menge der Gläubigen die Aufgabe zufällt „den Islam“ zu definieren. Die heutige Lage ist dermassen, dass immer wachsende Zahlen von Gläubigen an die Gottesgelehrten gelangen, um sie um Fatwas zu bitten. Das heisst um Gutachten nach der Scharî’a über bestimmte Fragen, die ihr Leben betreffen und die sie den Gottesgelehrten stellen. Nach den Aussagen des offziellen Obermufti von Kairo, Scheich Ali Gomaa, der vom Staat dazu ernannt wurde, den Gläubigen derartige Fatwas zu erteilen, beantwortet sein Bureau, heute bemannt von 12 vollamtlichen Mitarbeitern, im Tag gegen 3000 Anfragen in 8 Sprachen. Vor wenigen Jahren seien es noch einige Dutzend gewesen, die er leicht alleine beantworten konnte. Zwischen 2007 und 2008 habe sich die Zahl der Antwort Suchenden verdreifacht. (Siehe: Neil MacFarquhar: The Media Relations Department of Hizbollah wishes you a Happy Birthday, Unexpected Encounters in the Middle East, Public Affairs, New York 2009 p.128)

Der Obermufti selbst bedauert diese Flut von Anfragen, weil sie sich notgedrungen auf die Qualität der Antworten auswirke. Er führt die gewaltige Zunahme auf die grossen Erleichterungen zurück, die heute für Anfragen gelten. Sie erfolgen über Telephonanrufe und e-mails. Doch dürfte auch ein tieferer Beweggrund vorliegen. Die muslimischen Völker leben immer intensiver umbrandet von Neuerungen, die aus der globalisierten Welt westlicher Wurzel eindringen. Dies sind nicht Bestandteile ihrer eigenen, angestammten Kultur und Umwelt, sondern kommen von aussen. Dadurch dürfte das Bedürfnis wachsen, Auskunft darüber zu erlangen, wie diese neuen, dem Ursprung nach fremden, Lebensbereiche, Ansichten, Lebens- und Ueberlebensbedingungen in den Islam einzufügen seien.


Schlechte Lernbedingungen
Wahrscheinlich trägt die Zunahme des Interesses am Islam, die heute in allen islamisch geprägten Gesellschaften zu verspüren ist, nicht dazu bei, die Selbstkritik der Ulemâ’ zu mobilisieren. Sie dürfte im Gegenteil auf sie selbstbestätigend wirken. „Wir werden immer öfter befragt, also sind wir weiterhin, ja zunehmend, relevant,“ dürfte vielmehr, mehr oder weniger bewusst formuliert, die typische Reaktion der Religionsspezialisten sein. Sie haben recht; objektiv gesehen, steigt seit rund 1967 der Wunsch nach Islam in der Arabischen und in der weiteren Islamischen Welt.


Normaltheologen und gewaltbereite Aktivisten
Dieser Wunsch nach Islam steigert allerdings nicht nur die Relevanz der traditionellen, mit dem Staat in Einklang handelnden Ulemâ’. Er fördert auch die Extremisten und sogar die zum Blutvergiesen aufrufenden radikalen, sich selbst als Muslime bezeichnenden, islamistischen Terroristen und Revolutionäre. Je gefährlicher diese „Jihadisten“ , „Takfîri“, „gewalttätigen Islamisten“ , „radikalen Fundamentalisten“, „Terroristen“ werden (wie genau sie genannt werden sollen, ist immernoch Gegenstand einer Diskussion), desto entschiedener lehnen die offiziellen Gotttesgelehrten sie ab und erklären, sie stünden ausserhalb des Islams. Doch sie brauchten geraume Zeit, um ihre Stellungnahmen so entschieden und laut vorzubringen, dass sie in der muslimischen Allgemeinheit ein Echo fanden.
(Man findet Fatwas gegen die gewaltbereiten Islamisten zum Beispiel bei Juan Cole, Informed Comment, July 9, 2005 Muslim Denunciations of al-Qaeda and Terrorism, und The Quran on Peace. - Vgl auch: Al-Mujabah’s Islamic pages (www.al-Mujabah.com). Dort „Special Focus, Muslims condemn Terrorism » mit über 200 Einträgen)
In Saudi Arabien haben erst die Mordangriffe innerhalb Saudi Arabiens zu einer deutlichen Reaktion des Staates und der Gottesgelehrten geführt, die sich nun entschieden und laut vernehmbar gegen die gewalttätigen Islamisten absetzten.

Wie zahlreiche Fachleute immerwieder betont haben, liegt der Grund einer weitreichenden Beliebtheit Ben Ladens und seiner Artgenossen bei den einfachen Leuten in den islamischen Ländern primär darin, dass die sich als islamisch bezeichnenden Aktivisten gegen die Machthaber der unter imperial amerikanischen Vorzeichen globalisierten heutigen Welt auftreten und sich blutig gegen sie zu wehren scheinen – und nicht in dem Umstand, dass sie behaupten, dies im Namen eines misgedeuteten Islams zu tun. Auch die Sprecher des traditionellen Islams standen zunächst, als die Schläge der Terroristen sich gegen „Amerika“ richteten (sowie noch zuvor gegen die gottlosen Kommunisten in Afghanistan, dann gegen die „Knechte Amerikas“ im eigenen Land), ähnlich wie weite Teile ihrer Bevölkerungen, unter dem Eindruck des anti-imperialistischen Auftrittes der Gewalttätigen. Ihn allzu laut zu verurteilen, fiel ihnen schwer, weil sie sich selbst auch als natürliche Gegner der als imperialistisch empfundenen globalisierenden Amerikanisierung der Welt ansahen. Sie billigten anfänglich nicht die angeblich „islamischen“ Motive ihrer Aktionen sondern ihre Stossrichtung. Dies nicht so sehr als islamische Fachleute sondern vielmehr in ihrer Eigenschaft als Betroffene dessen, was sie, nicht ganz zu unrecht, als amerikanischen Imperialismus ansahen.


Sind die Radikalen eine wirkliche Konkurrenz?
Von aussen gesehen können die Islamisten und die gewaltbereiten Randgruppen von ihnen heute durchaus als eine Konkurrenz zu den traditionellen Islamfachleuten, den Ulemâ’ erscheinen. Doch kann man bezweifeln, dass die Gottesgelehrten selbst die Lage gleichermassen einschätzen. Schliesslich geniessen sie wachsenden Zulauf aus der grossen Hauptmasse der Muslime; demgegenüber dürfte der Umstand, dass es viel geringere Zahlen von einigen Irregeleiteten gibt, die den jenseits des Islams angesiedelten Extremisten folgen, nicht übermässig schwer wiegen. Irregeleitete hat es immer gegeben; die Hauptsache ist, dass jene zunehmen, die sich von den rechtmässigen Religionsfachleuten recht leiten lassen.

Anlass zu echtem Alarm (innerhalb des religiösen Bereiches, nicht innerhalb jenes der staatlichen Sicherheit) würden die Extremisten erst bieten, wenn die Zahl ihrer Anhänger so rasch zunähme, dass dies zu einer spürbaren Abnahme der Gefolgsleute der Ulemâ’ führte. Das Gegenteil ist der Fall; alle Zeichen sprechen dafür, dass der Einfluss der traditionellen und orthodoxen Gottesgelehrten wächst, nicht abnimmt. Also braucht man die Konkurrenzversuche der Radikalen nicht wirklich zu fürchten. Es genügt, sie mehr oder weniger energisch auszugrenzen. Ihre Aktivitäten und Lehren werden schwerlich einen Lerneffekt bei den Vertretern der religiösen Tradition provozieren.


Die überholten Aspekte der Scharî’a
Dennoch ist eigentlich klar, dass für den Islam, so wie er heute von der Mehrheit der Gottesgelehrten unter Berufung auf die Sharî’a vertreten wird, Wandlungen notwendig wären. In vielen Einzelheiten passt er nicht mehr zu den Lebensumständen, die heute für die grossen Mehrheiten der gegenwärtigen, städtischen Muslime gelten. Auch die angeblich auf der Sharî’a beruhenden offziell vertretenen Moralvorstellungen decken sich nicht mehr voll damit, was ein durchschnittlicher und durchschnittlich gebildeter heutiger Muslim als recht und unrecht empfindet. Es gibt „moderne“ Muslime, die sich darum bemühen, ein Religionsverständnis zu entwickeln, das in besserem Einklang stünde mit den heutigen Lebensbedingungen und den in der Gegenwart weitgehend geltenden Massen von Gut und Böse. Doch dies sind selten die Fachleute, das heisst die traditionell geschulten und in traditionellen Rollen agierenden Gottesgelehrten, sondern vielmehr „modern“ ausgebildete Muslime, oder solche, die sich über eine traditionelle Schulung hinaus, moderneren Lebens- und Wertvorstellungen zugewandt haben, ohne ihren Islam aufgeben zu wollen.
In der Frauenfrage, jener der koranischen Hudûd Strafen (Körperstrafen), Fragen der Toleranz gegenüber anderen Religionen, kann man eine weitgehende Uebereinstimmung der modernen und modern gebildeten Muslime erkennen, die keineswegs deckungsgleich ist mit den Geboten der islamischen Tradition, so wie sie von den Gottesgelehrten mehrheitlich als im Islam obligatorisch ausgelegt werden. Es ist natürlich diese Differenz, welche die Sucher nach einem modernen Islamverständnis dazu bewegt, die traditionellen Interpretationen, wie sie seit dem Frühmittelalter feststehen und als permanent gelten (das „geschlossene Tor“ des Ijtihad), zu hinterfragen und sich um neue Verständnisse der heiligen Texte und und der Grundlagen des Glaubens zu bemühen.

Immernoch ist es nicht ungefährlich, die offiziellen Meinungen zu hinterfragen. Der autoritär regierte Staat pflegt sich aus den oben erwähnten Gründen hinter die traditionellen Gottesgelehrten zu stellen und stellt ihnen nicht selten seine Vollzugsgewalt in Fragen zur Verfügung, die von ihnen und von ihren Anhängern, den in der mittelalterlichen Tradition verwurzelten Muslimen, als durch die Sharî’a endgültig bestimmt und festgelegt gelten. Die Einmannregime selbst stehen heute unter Druck durch die traditionell rechtgläubigen Kreise und suchen diesen elastisch nachzugeben, schon um den gewalttätigen Extremisten (die sie wahrscheinlich mehr als die Geistlichen fürchten) möglichst geringe Blössen zu bieten.


Die Muslime als Minderheiten
Die in Europa lebenden Muslime und vielleicht auch jene in anderen Staaten, in denen sie eine Minderheit bilden (Indien ist der weitaus wichtigste, doch auch Russland, China und die USA zählen dazu) dürften eher die Voraussetzungen erfüllen, welche für einen Lernprozess notwendig sind. Sie und die Gottesgelehrten, die sie in Europa und in anderen Ländern muslimischer Minoritäten anleiten, stehen nicht überall unter dem Druck von absolutistischen Staaten, mit ihren Zensurbehörden, welche die traditionellen Formen der Religion aus Machtgründen aufrecht erhalten. Sie stehen dafür in täglichem Kontakt mit Gemeinschaften, deren Positionen gerade in den besonders umstrittenen Bereichen, Frauenfrage, Hudud Strafen, Heiliger Krieg, Toleranz gegen andere Religionen usw. kritische sind, und sie werden immerwieder vor die Notwendigkeit gestellt, gerade in diesen kritisierten Bereichen Rede und Antwort zu stehen. Sie können sich entweder auf den traditionellen Positionen versteifen; oder aber versuchen, sie auf muslimischer Basis, das heisst primär durch Neuverstehen der Religionsgrundlagen ihres Islams, zu hinterfragen. Solche Versuche werden gemacht, und sie dürften in Zukunft weiter zunehmen.


Iran, ein Beweis des Versagens islamistischer Ideologie
Auch Iran kann als ein Gelände gelten, das beginnt günstigere Voraussetzungen für ein „Lernen“ der Muslime im Sinne eines „aggiornamento“ der Religion zu zeitigen. Der dortige Gottesstaat hat seine Unfähigkeit, das Versprechen der Islamisten zu erfüllen, praktisch erwiesen. Der Slogan „Islam ist die Lösung“ hat sich nicht erfüllt. Es gibt eine grosse Zahl von jungen und gebildeten Iranern, die heute „den Islam“ nicht als „die Lösung“ ansehen sondern vielmehr als eines der „Grundprobleme“. Ob dies die Mehrheit aller Iraner sind, wie die protestierenden Massen seit den Demonstrationen gegen die manipulierte Wahl Präsident Ahmedinejads offensichtlich glauben, oder nur eine weit ausgedehnte, gebildete und junge Elite, kann man nicht mit Sicherheit ausmachen. Doch dass die Islamische Republik, objektiv gesehen, nicht optimal funktioniert, ist deutlich geworden. Wirtschaftsverluste, Korruptionsanschuldigungen und Arbeitslosigkeit, Meinungszensur, Gewalteingriffe der Machthaber ohne irgendwelche legale Basis, stark eingeschränkte „gelenkte“ Demokratie, sprechen eine deutliche Sprache.

Man kann vermuten, dass die Grosszahl der iranischen Geistlichen, die nicht an der Regierung beteiligt sind, viele der Schönheitsfehler der Islamischen Republik kennen und sich Gedanken darüber machen, was das Regiment ihrer Brüder, die sich an der Macht befinden, für das Ansehen ihres Glaubens bedeutet. Wir wissen, einige von ihnen gehen darüber hinaus und suchen nach einem Islamverständnis, das den heutigen politischen und sozialen Notwendigkeiten entspricht.

Vorläufig gibt es auch die Gegentendenz jener Geistlichen, die sich an der Macht befinden und unbedingt daran festhalten wollen, indem sie behaupten, sie handelten im Namen des Islams. Vorläufig können sie darauf zählen, dass sie über bewaffnete Gruppen verfügen (in erster Linie die Revolutionswächter und deren Unterstellte, die Bassij Freiwilligen), die bereit sind, ihre Version der Islamischen Republik mit menschenverachtender Gewalt aufrecht zu erhalten. Allerdings zeichnet sich heute schon ab, dass sie dies nicht alleine tun „um des Islams willen“ (so wie sie ihn verstehen wollen), sondern dass sie auch darauf ausgehen, ihre eigene Macht und ihre eigenen Wirtschaftsinteressen als einen Staat im Staate auszubauen. Sie scheinen sich schon unterwegs zu befinden, um sich als Neo-Mamluken, an der Spitze der Islamischen Republik zu formieren.

Wie immer die heute flüssig gewordene Lage zwischen kritischen Oppositionellen, bisherigen Machthabern unter den Geistlichen und den erwähnten neo-mamlukischen Machtaspiranten künftig weiter entwickeln mag, es steht zu erwarten, dass die Entwicklung auf mittlere Frist jenen traditionell-fundamentalistischen Gottesgelehrten Prestigeverluste bringt, welche die Islamische Republik installiert haben und sie vorläufig weiter beherrschen. In ihren eigenen Reihen ist bereits heute Streit ausgebrochen. Eine Mehrheit der jungen und gebildeten Iranerinnen und Iraner will heute nichts mehr von ihnen wissen. Die oben erwähnten Voraussetzungen für einen Lernprozess der Geistlichen selbst scheinen näher zu rücken, denn die gebildetsten, jüngsten und in der Zukunft noch weiter zunehmenden Teile der persischen Bevölkerung haben ihnen die Gefolgschaft bereits gekündigt.

In den Augen der Machthaber unter den Geistlichen verbirgt möglicherweise die eigene, durch die bewaffenten Gruppen gestützte, Präsenz an der Macht noch die bereits de facto bestehende Aushöhlung des Prestiges ihres Regimes und des von ihm instrumentalisierten traditionellen Schiitentums. Doch je länger ihre Machtausübung dauert, desto sicherer wird sie bewirken, dass ein schlussendlich unvermeidlicher Zusammenbruch der bestehenden Macht den Prozess der Aushöhlung Allen sichtbar an Tageslicht bringt. Dies wird dann ein Umlernen der schtiischen Geistlichen zu einer überlebensnotwendigen Aufgabe machen.


Das alte Modell von „Thron und Alter“ lebt weiter

Dort, wo die Geistlichen nicht selbst die Macht ausüben, sondern sich auf den Staat stützen, der sie seinerseits stützt (dies ist in allen muslimischen Staaten in mehr oder weniger ausgeprägter Form der Fall mit der einen Ausnahme Irans), sind die Geistlichen solange nicht gezwungen, zu einem „aggiornamento“ des Islams überzugehen, als sie weiterhin wachsenden Zulauf der Gläubigen geniessen. Dort wo sie nicht stützen sondern herrschen, zeichnet sich bereits ab, dass die wichtigsten Teile ihrer Bevölkerung drohen, sich von ihnen abzuwenden. Dort werden sie daher über kurz oder lange gezwungen sein, ihren Islam neu, das heisst in einer zeitgemässeren Form, zu verstehen und auszubreiten.

Doch in Bezug auf die grosse Mehrheit der islamischen Staaten darf nicht übersehen werden, dass der Zulauf, den heute die Geistlichen geniessen, schwerlich immer andauern kann. Präsident Bush und seine real existierende und auch als solche von den Muslimen empfundene Anti-Islam Politik hat viel dazu beigetragen, dass die Muslime sich in der ihnen von Amerika zubereiteten Welt unwohl, unsicher und in ihrer Identität in Frage gestellt fühlen. Die gegenwärtige „Re-Islamisierung“ (wie man einst in ihren frühen Jahren die Wiederhinwendung zum Islam nach der vorausgehenden Periode des überwiegenden Nationalismus nannte) geht weitgehend auf Identitiätsprobleme der Muslime zurück. Dass der traditionelle Islam diese Identitätsfragen auf längere Frist zu lösen vermag, ist unwahrscheinlich. Denn sie gründen auf Ueberfremdungserscheinungen, die in der Form der Globalisierung beständig weiter um sich greifen. Durch einen Rückgriff auf eine idealisierte Vergangenheit (jene der weitgehend ahistorisch gesehenen Zeit des Propheten), werden sie schwerlich zu lösen sein. Weil die Zeitströmungen dafür sorgen werden, dass die Identitätsfrage der Muslime gestellt bleibt und sich weiter verschärfen dürfte, solange sie ihre muslimische Identität abstützen auf als geheiligt geltende Ueberlieferungen und deren in der mittelalterlichen Tradition verankerte Auslegungen. Diese Abstützung widerspricht in wesentlichen Bestandteilen (sie sind oben erwähnt) den reisssenden Strömungen einer globalisierten Moderne.

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