Donnerstag, 15. Oktober 2009

Arnold Hottinger: Langfristige Entwicklungen im Nahen Osten seit 50 Jahren - Triumpf und Krisis der Nationalstaaten


Es gibt im Nahen Osten immer viele politische Sensationen:
Umstürze; Revolutionen; Kriege; Niederlagen; Abspaltungsversuche von bestehenden Staaten; Zusammenschlussbemühungen von anderen; innere Unruhen aller Art; Erdbeben; Wassermangel; Ueberschwemmungen und andere Naturkatastrophen; Religionszwiste und –Kriege; Terrorakte und Terrordrohungen; Guerilla Aktionen; Druck- und Strafmassnahmen durch mächtige Aussenstaaten; Invasionen durch die gleichen Aussenkräfte; Staatstreiche, die durch sie gefördert werden; Tyrannen mit Caesarenwahn; Massaker, die sie durchführen lassen; Geheimdienste aller Art und deren Maneuver und Grausamkeiten; religiöse Sekten und Extremisten mit ihrer politischen und gesellschaftlichen Agenda; Erdölquellen, die Geld sprudeln lassen, aber auch die Begehrlichkeit vieler Aussenstehender wecken; soziale Probleme aller Art, die durch Korruption und gewaltige Ungleichheiten in Reichtum und Vorzugsstellungen, sowie durch ein unbändiges Bevölkerungswachstum gegeben sind; Rivalitäten zwischen Staaten und Gruppen; Minderheiten religiöser aber auch ethnischer Art; umstrittene Fragen der Bildung und Religion.

Die Aufzählung ist keineswegs vollständig. All diese Probleme und Sensationen halten sowohl die Bewohner der Region wie auch die Beobachter von aussen unter beständigem Druck. Eine Streitfrage hetzt die andere, ein Blutvergiessen das andere. Wahrscheinlich kommt es daher, dass selten die Frage gestellt wird: wie verändert sich diese Region grundlegend? – Bleibt sie sich immer gleich, indem sie sich im Kreis um sich selbst dreht? Oder gibt es doch Entwicklungen in bestimmte Richtungen? Die hochgehenden Wellen an der Oberfläche versperren die Sicht auf die langsfristigen Entwicklungen, obwohl man vermuten kann, dass gerade sie dem Wellengang an der Oberfläche letztlich zugrunde liegen.

Hier sei daher versucht im Rückblick auf die letzten 50 Jahre der Geschichte des Nahen Osten einige der langfristigen Grundentwicklungen politischer Art zu beschreiben, die man beobachten kann.

In den 50 er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde in der islamischen und besonders in der Arabischen Welt der Nationalstaat gross geschrieben. Das war nicht verwunderlich. Der Begriff des Nationalstaates, den es zuvor in den islamischen Kulturen nicht gegeben hatte, war im Verlauf des 19. Jahrhunderts in kleinen aber unaufhaltsamen Schritten aus Europa (wo er entstanden war) in die Region eingedrungen. Er hatte zur Auflösung der bestehenden Vielvölkerstaaten geführt, besonders des Osmanischen Reiches. Auch das Persische Reich re-formierte sich in Richtung auf einen Nationalstaat mit einer nationalen Armee, einem nationalen Schulsystem, einer zentralen Bureaukratie, einem nationalen Transportsystem, von der Zentrale gesteuerter Industrialisierung usw. unter Reza Khan. Der ganze Indische Subkontinent wurde unter britischer Kolonialherrschaft seit 1857 (dem Jahr des „indian Mutiny, das auch als der erste Indische Befreiungskampf angesprochen wird) zu einem zentralisierten Staat ausgebaut, wenngleich Ueberreste von früheren Herrschaftsbereichen, die Rajas des „indirect rule“, unter Kontrolle der kolonialen Zentralmacht zunächst noch bestehen blieben. Die Trennung des Subkontinentes in die späteren Nationalstaaten Indien, Pakistan, Bagladesh, Sri Lanka, Nepal, Sikkim,. Bhutan, bereitete sich vor.- Im arabischen Bereich, Nahost und Nordafrika, waren es die Kolonialmächte, die „Nationalstaaten“ schufen, ein jeder mit seiner Hauptstadt, zentralen Verwaltung und Bureaukratie, Armee (die zunächst aus Hilfskräften der Kolonialarmeen bestand), Bureaukratie, Polizei, Schulpflicht.

Die erst nach dem Ersten Weltkreg vom Osmanischen Reich abgetrennten meist arabischen Territorien wurden zu Nationen proklamiert. Nach dem System der Mandate sollten sie von den kolonialen Herrschern allmählich zur nationalen Reife geführt und dann in die Unabhängigkeit entlassen werden. Wie lange sie de facto Kolonien geblieben wären, wenn nicht der Zweite Weltkrieg ausgebrochen wäre, bleibe dahingestellt. Er bewirkte, dass die Kolonialmächte ihre Machtposition liquiderten (Frankreich versuchte vergebens die seine in Nordafrika zu erhalten). Den unter Mandat gestellten Völkern wurde klar gemacht, dass sie sich nur von der Fremdherrschaft der Kolonialmächte befreien könnten, wenn sie „Nationen“ würden. Sie übernahmen diese Regelung, die dem Geist der Zeit entsprach, umso williger als auch die wenigen, keiner direkten Fremdherrschaft unterstellten muslimischen Staaten: - die moderne Türkei unter Atatürk allen voran; Iran unter Reza Khan, der zu Reza Shah wurde; Afghanistan unter seinen Königen; Saudi Arabien unter den seinen - sich ebenfalls als Nationen verstanden und zu konstituieren suchten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Eintritt in die Vereinten Nationen zum Symbol dafür, dass die Nationenbildung gelungen war. Sie war mit dem Abzug der kolonialen Heere verbunden, Jelà, Evakuation, war ein, heute verklungenes, Schlagwort der Epoche. Dieser Abzug bedeutete „Freiheit“ für die über eine oder viele Generationen hinweg der arbiträren Macht der Fremden und ihrer kolonialen Armeen und Polizeikräfte unterstellten Bevölkerungen. Ein eigener, nationaler, Staat wurde so zum Instrument und zum Sinnbild der Identität und der politischen Volljährigkeit – er bedeutete, dass die betreffenden Völker, nun zu Nationen re-formiert, als vollgültige Mitglieder der Völkergemeinschaft und der modernen Zeit auftreten und handeln konnten. Sie hatten die unterlegene Position von im eigenen Land fremder und fremdartiger Macht Unterstellten überwunden! So schien es ihnen. Dies war der Grund der Freudenausbrüche nach der Entkolonisierung, der begeisterten Feste und späteren Nationalfeiertage der Evakuation. Es war auch die Quelle der Loyalität und der auf sie gestützten Machtposition, die die verschiedenen „Väter der Unabhängigkeit“ genossen. Sie waren Kämpfer gegen die Kolonialmächte, Atatürk in einer ersten Generation nach dem Ersten Weltkrieg; aus der gleichen Epoche Zaghlul Psha in Aegypten; und Abdul-Aziz Ibn Saud in Arabien. Nach dem Zweiten Weltkrieg, Bourguiba, später Ben Bella und Boumediene; Muhamed V von Marokko; Riad Solh und Bschara al-Khoury in Libanon; andere weniger allgemein anerkannte „Väter der Nation“ in Syrien, Jordanien, im Irak, in Iran und Afghanistan; Jinnah in Pakistan, Soekarno in Indonesien.


Die abgewürgte Nation Palästina
Die Nationenbildung fand nicht statt in Palästina; statt Palästina wurde –dank britischer und später amerikanischer Hilfe und auch durch eigene zionistische Durchsetzungskraft – Israel Mitglied der Vereinten Nationen. In den 50 er Jahren wurden die Palästinenser nur als Palästina-Flüchtlinge wahrgenommen. Eine palästinensische Nation gab es höchstens insofern als die neu entstandenden arabischen Staaten gelobten, sie würden „Palästina befreien“. Die Nachbarstaaten Israels gerieten alle in den Strudel der Ereignisse, die sich um die verfehlte Entstehung der im Mandat versprochenen Palästinensischen Nation drehten.


Entäuschung über den eigenen Staat
Die erste und lange fortschwärende Entäuschung der arabischen Völker über ihre neuen Nationen entstand dadurch, dass diese sich als unfähig erwiesen, ihre Versprechen zu verwirklichen. Das gewichtigste und lauteste all dieser Versprechen war, sie würden die „Befreiung Palästinas“ und damit die Entstehung eines Palästinensischen Nationalstaates erwirken. Doch gab es noch viele andere unerfüllte Versprechen und Erwartungen. Die Entäuschung, darüber, dass sie nicht erfüllt wurden, führte dazu, dass sich vielerorts die Militärs an die Macht putschen konnten. In Syrien begannen die Staatstreiche schon 1948, Aegypten kam später 1952; in Jordanien konnte König Hussein seine aufsässigen Offiziere 1957 knapp bändigen; im Irak verspätete sich der zu erwartende erste Staatsstreich der Nachkriegszeit (seit der Unabhängigkeit von 1932 hatte es aber schon viele gegeben) bis 1958. Im Sudan kam er im gleichen Jahr, nur zwei Jahre nach der Unabhängigeit von 1956. In Libyen 1969.
Den Offizieren traute man damals zu, dass sie ihre Nationen auf Draht bringen könnten. Die politischen Parteien wurden als als egoistische und streitsüchtige Selbstbeförderer und die zivilen Politker als unfähig, der Nation zu dienen, verurteilt.
Der Glauben an die Nation dauerte an, ja er wurde weiter bestärkt. Die Armee wurde zum wichtigsten Symbol, der Nation. Offiziere meldeten sich selbst als die neuen Retter der Nationen und fanden Glauben. Waren sie doch die Fachkräfte, die dafür zuständig waren, dass „die Scharte gegenüber Israel ausgewetzt werde“.- Offizere, die charismatische Züge entwickelten, Nasser vor allen anderen, wurden Idole. Man sah sie als die Führer ihrer Nation in eine blühende Zukunft.
- Doch welcher Nation? Im arabischen Raum erreichte die Idee einer grossen arabischen Einheit gewaltige Zugkraft. Als „die Nation“ wurden in weiten Kreisen die arabischen Staaten alle zusammen, „vereint“ , angesprochen; die einzelnen Staaten galten den Arabischen Nationalisten, wie sie damals genannt wurden, nur als „Regionen“ (aqâlîm).
Zwei politische Grundströmungen lebten von dieser pan-arabischen Ideologie. Sie waren beide erfolgreicher als all ihre Konkurrenten: der Nasserismus und der Baathismus.


Die Macht des Faktischen
Doch die Zusammenschlüsse kamen nicht zustande. Der einzige, der verwirklicht wurde, der zwischen Syrien und Aegypten, 1958 bis 1961, ging nach knappen drei Jahren in die Brüche. Es gab viele weitere Projekte, die unter Propaganda Posaunen lanciert wurden, doch stets nur Worte blieben oder halbgeboren zusammenbrachen, solange bis die ganze Bewegung ihre Glaubhaftigkeit verlor..
Die Zusammenschlüsse, die eigentlich sehr populär gewesen wären, scheiterten stets an der gleichen Klippe: die Eigeninteressen der Machthaber und aller ihrer Gefolgsleute in einem jeden Staate wollten nicht zulassen, dass ihre eigene Machtposition durch eine Verschmelzung mit Bruderstaaten überflüssig, geschwächt oder eliminiert werden könnte.


Israel als Prüfung
Was die Erfolgsversprechen betrifft, diente Israel immer als Lakmustest. Wenn auch die von Militärdiktatoren geführten Staaten nicht mit Erfolg gegen Israel antreten konnten, verlor ihre Führung entscheidend an Autorität und Legimtimität. War sie doch mit der Behauptung zur Macht gekommen, dass ihr neues Regime die „Scharte“ gegenüber Israel „auswetzen“ werde.
Der Umstand, dass alle Militärdiktatoren dazu neigten, die Geheimdienste als ihr bevorzugtes Regierungsinstrument zu gebrauchen, trug zu ihrer Diskreditierung bei, und der Zusammenbruch all der grossarabischen Pläne dokumentierte desgleichen, dass die „neue Führung“ durch politische Offziere, ihre Versprechungen und Visionen nicht zu verwirklichen wusste. Die begeisterten Hoffnungen, die die Bevölkerung zuerst in die Militärs investierte, sanken und brachen schliesslich zusammen, als Nasser 1967 seine grosse Niederlage durch Israel erlitt.
Weitere Stücke arabischen Landes wurden besetzt, und die militärischen Machthaber schworen erneut, sie würden das Rad der Geschichte zurückdrehen. Was sie schliesslich erreichten, wurde – nach einem weiteren von Aegypten bewusst mit beschränkten Zielen geführtem Krieg (1973) - ein Separatfrieden Aegyptens mit Israel und ein Boykott Aegyptens durch all seine arabischen Brüder....


Suche nach neuen Hoffnungsträgern

Nach der Niederlage von 1967 sank die Begeisterung für die arabische Nation und der Glauben an ihre Führung stark ab, sowohl in der panarabischen wie auch in der engeren auf die bestehenden Staaten und Regime beschränkten Version. Gleichzeitig wuchs rapide die Hoffnung, welche die Araber zum ersten Mal auf nicht-staatliche politische Kräfte setzten. Die PLO, nicht die Staaten, so glaubten die Massen, immernoch sehr begeisterungsfähig, werde als Guerilla nach dem Vorbld der Vietnamesen mit Israel abrechnen und den Palästinensern zu ihrer Nation verhelfen. Den Regierungen war es recht, der Guerilla die Rolle des Befreiers zu überlassen. Dies entband sie der früher eingegangenen Pflichten. Doch die Loyalität der Bevölkerungen gegenüber ihren Regierungen nahm ab. Diese hielten sich unvermeilich mehr und mehr mit Gewalt und durch den bewaffneten Arm der Polzei-, Geheim-, und Sicherheitsdienste an der Macht.

Das wirtschaftliche Wachstum war wenig befriedigend. Die Freiheiten der Bevölkerungen wurden zunehmend eigeschränkt, sowohl im politschen wie im persönlichen Bereich. Für weite Kreise der Unterschichten wurde das blosse Ueberleben für sich und ihre Familien zu wichtigsten Sorge. Die wirtschaftliche Liberalisierung nach amerikanischem Vorbild kombiniert mit Günstlingswirtschaft führte später dazu, das die sozialen Gegensätze rapide anwuchsen. Es gab nun sehr reiche Kreise, darunter sehr viele Gruppen und Personen, welche gestützt auf die Regierungen, mit denen sie eng verbunden, oftmals verschwägert, waren, auf Ausbeutung ihrer Mitbürger abzielten. Die Zusammenarbeit mit den Industriestaaten der westlichen Welt, etwa als Vertreter ihrer Produkte in ihren Ländern oder als Nutzer ihrers technischen Fortschritts, war in vielen Fällen die Quelle von geschäftlichem Erfolg und von Reichtum.


„Zurück zum wahren Islam“
Ein zweiter nicht staatlicher Acteur trat in den Fordergrund: die Muslim Brüder und später ihre verschiedenen Tochter- und Zweigorganisationen, die alle die neue Lehre vom Schari’a Staat, der das Heil bringen werde, verkündeten. Diese Ideologie war zuerst unter der britischen Kolonialmacht von 1928 an von den Brüdern entwickelt worden. Sie war als Konkurrenzideologie zum Nasserismus aufgetreten und war deshalb von den ägyptischen Machthabern mit schwerer Hand niedergehalten worden. Doch die Ideologie liess sich – im Gegensatz zu ihren Ideologen -, nicht in die Gefängnisse und Konzentrationslager einschliessen. Sie wirkte in erster Linie unter den neuen Bildungsschichten, die vom Land über die staatlichen Schulen zu ersten Kontakten mit den in den Oberschichten seit langem verbreiteten, teilweise verwestlichten Lebensformen vorrückten. Diese Wanderer zwischen zwei Welten und deren Kulturen suchten mehr Halt und Gewissheit. Sie fanden sie bei einer Lehre, die das eigene islamische Erbe in einer weitgehend auf die Schari’a beschränkten Form zur Grundlage der Erfüllung aller Verheissungen erhob, denen der weltliche und nach westlichen Vorbildern errichtete Staat nicht hatte nachkommen können. Die Brüder erblickten nicht mehr in der Nation das Heil für ihre Gemeinschaft sondern in einem erhofften Kalifat, das sie sich nach den hoch theoretischen Vorgaben der Schari’a vorstellten.
Als der Staat seine Bürger entäuschte, standen die Brüder und radikal ausgerichtete andere Kleingruppen gleicher Grundorientierung bereit, um das entstehende Vacuum auszufüllen. Nicht jedermann liess sich von ihnen beeinflussen. Doch ihre Wirksamkeit wuchs sprungartig an, als Abdel Nasser 1967 in der Prüfung durch Israel schmählich durchfiel.


Neue nicht-staatliche Hoffnungsträger
Die alten Hoffnungsträger verblassten. Es waren einerseits die Islamisten mit ihrer Heilsideologie und andrerseits die Palästinenser Guerilla mit ihren verheissenen Heldentaten und wirksamen Propaganda Coups in der Art der Flugzeugentführungen, welche neue Hoffnungen weckten. Die Staaten sanken ab zu Machtorganismen und Betreuern ihrer eigenen Klientelen, von denen die Normalbürger, wie es schon seit jeher gewesen war, eher Ausbeutung als Inspiration oder Unterstützung erwarteten.
Die jeweiligen Machthaber lernten sich immer solider zu schützen und abzusichern, je intensiver sie erfuhren, dass es Gruppen in der Bevölkerung gab, die beabsichtigten, sie im Namen ihrer Schari’a Ideologie abzusetzen oder aus dem Wege zu räumen.


Rückgriff auf traditionelle Netzwerke
Das Absterben der Nation durch Umwandlung in einen Machtapparat der jeweiligen Herrscher bewirkte auch, dass die Bevölkerung auf ältere Solidaritätsmuster zurückgriff, die aus der Zeit der islamischen Vielvölkerreiche überdauert hatten: Familienbande, Gruppen und Stämme, Klans, Klientelgruppen, die sich um neue und alte Anführer und Interessenvertreter scharten. Alte Spaltungen lebten auf, etwa zwischen Muslimen und Angehörigen der Minoritätsreligionen, oder auch zwischen sprachlichen Gruppen. Der Staat vermochte sie immer weniger zu überbrücken.


Mehr Islam für die gesamte Gemeinschaft
Nicht nur bei den Anhängern des Schari’a Staates, sondern auch bei vielen Normalbürgern begann der Islam eine wachsende Rolle zu spielen. Die Regierungen unterstützten die Islamisierung des öffentlichen Lebens, um den Vorwurf der Islamisten entgegenzutreten, sie leiteten einen „heidnischen“ Staat. Der Islam als ein wichtiger Bestandteil der Identität und äusserliche Merkmale, die eine islamische Identität Allen sichtbar dokumentieren sollten, gewannen wachsende Bedeutung und Volkstümlichkeit, während die Staatlichkeit, auf die man nur sehr beschränkt stolz sein konnte, an ideeller Bedeutung verlor. Obwohl die Verwaltung natürlich in der täglichen Lebenspraxis unausweichlich, vordringlich und lästig vorhanden war.
Ueberall wo sich Gruppen nicht staatlicher Art bildeten, im islamischen wie auch im sozialen Bereich, stellten sich auch Anführer ein, die beanspruchten, die betreffende Gruppe zu leiten, und sobald es zu Spannungen mit anderen Gruppierungen kam, auch zu verteidigen, oder gar offensiv anzuführen, weil solche Aktivitäten Möglichkeiten boten, die eigene Person auf die Stufe eines Gruppenoberhauptes zu heben.
Gegenüber all diesen zentrifugalen Kräften entwickelte der Staat eine Kontroll- und Beherrschungsaktivität, die ihn und seine Organe der Bevölkerung noch mehr enfremdeten und die staatlichen Machthaber vor die Alternative stellte, entweder ihrem langsamen Untergang zuzusehen oder sich mit Gewalt und wachsender Brutalität durch systematische Verbreitung von Furcht an der Macht zu verschanzen. Natürlich wurde immer die zweite Alternative gewählt.

Wenn es dann geschah, dass der gewaltsame Machthaber schlussendlich von der Macht weichen musste, weil er starb, einem Coup zum Opfer fiel, oder weil äussere Mächte ihn stürzten, konnte es zu „failed states“ kommen. Wie im Irak nach der Beseitigung des Tyrannen Saddam, in Somalia nach dem Ende des Diktators Ziyad Barre, in Pakistan ansatzweise nach dem Ende Musharrafs und in Afghanistan nach der Vertreibung der Russen (1988) und später des neuen Machtzentrums der Taleban (2001). In Libanon kämpften 15 Jahre lang bewaffnete Banden auf religionspolitischer Grundlage.

Oft traten bewaffnete Gruppen ganz oder teilweise an die Stelle der früheren Machthaber, weil diese zur Zeit ihrer Macht alle lokalen und alle rivalisierenden Machtstrukturen im Zentrum aus Angst vor eigener Liquidation erstickt hatten und nun die überlebenden Kleingruppen gemeinsam, aber gegeneinander kämpfend, die Machtvacuen füllten. Wobei sich die brutalsten und jene die sich auf ausländische Waffenlieferungen zu stützen vermochten, am besten durchsetzten. Die Gegenwart fremder Truppen als vorübergehende Besetzer oder als international organisierte Friedenstruppen, pflegt nur wenig zu helfen und oft zu schaden. Weil es mehr Truppenmacht brauchte, als eingesetzt werden kann (sogar im Falle der Amerikaner), um die Vielfalt der zu Gewaltmassnahmen übergegangenen Gruppen landesweit niederzuhalten.


Endprodukt der „failed state“?
Solche „failed states“ sind vorläufig noch Ausnahmeerscheinungen. Noch halten sich in den meisten Fällen und oft mit Unterstützung der westlichen Vormacht, Amerika, altbewährte Tyrannen mit mehr oder weniger blutigen Machtmethoden am Ruder. Die grössten aber passiven Teile der Bevölkerungen finden sich mit ihnen ab, weil sie erkennen, dass volles Chaos noch verderblicher wäre als die schwere Hand der alternden „Präsidenten“ und ihrer Schergen. Doch manchen Orts wachsen die Teile der Bevölkerungen, die alle Hoffnung auf eine Besserung der bestehenden Verhältnisse für sich selbst und für ihre Familien im Rahmen einer nationalstaatlichen Ordnung westlicher Prägung verloren haben. Sie stehen den Verheissungen der Heilsideologen offen, die ihnen vorsagen, der Schari’a Staat, und nur dieser, werde „die Lösung“ bringen. Wobei sie sich hüten, diesen Schari’a Staat genauer zu umschreiben, wenn sie gleich klar machen, dass sie ihn anzuführen gedenken.


Khomeini als Wegbereiter
Die Bildung eines solchen Schari’a Staates, allerdings unter schiitischen Vorzeichen, ist Khomeini 1978-79 gelungen. Dies bildete natürlich einen gewaltigen Antrieb für alle anderen islamistischen Gruppen, seinen Spuren zu folgen. In den nächsten zehn Jahren kam es auch zur praktischen Ausbildung von Schari’a Staat Kämpfern in Afghanistan unterstützt von amerikanischen Geldern und mit pakistanischen Offizieren als Drahtziehern. Sie dienten zuerst zuerst als Kampfgruppen gegen die Sowjetunion, und später in einer neuen Welle, jener der Taleban, als verlängerte Finger der pakistanischen Macht. Finger, die sich dann freilich über Erwarten energisch eigenständig machten.

Gruppen von schiitischen Kämpfern wurden in Libanon gebildet. Iran finanziertsie, sorgte für ihre Bewaffnung und Ausbildung durch über Syrien einreisende Revolutionswächter. Diese Ausbildung wurde später ergänzt und vollendet durch 18 Jahre der Kleinkämpfe gegen isrealische Truppen und deren lokale Söldner, die einen Streifen Südlibanons diese ganze Zeit hindurch weiter besetzt hielten. Dies ist Hizbullah, das sich zu einer zwar nicht voll dominierenden aber auch nicht übergehbaren und schwerlich noch zu verdrängenden politisch-militärischen Macht in Libanon auswuchs.
In Gaza waren es in direkter Nachfolge der Muslim Brüder Befürworter des Schari’a Staates, die eine staatsbeherrschende Rolle übernahmen, ohne dass die Israeli sie ausschalten konnten oder wollten. Wenn das zweite zutrifft, dürfte dies durch den Wunsch der israelischen Strategen bedingt sein, eine Spaltung der Palästinenser in säkuläre PLO Anhänger und radikalisierte Islamisten so tief und so lange wie möglich aufrecht zu erhalten. Wobei Israel wahrscheinlich kurzsichtig handelt, denn die Möglichkeit zeichnet sich immer deutlicher ab, dass Hamas sich schlussendlich als erste oder als einzige Kraft unter den Palästinensern durchsetzen könnte.


Afghanistan auch ein zerbrochener Staat?
Afghanistan droht, trotz der Gegenwart amerikanischer und Nato-Truppen zum neuesten „failed state“ zu werden, weil die Taleban die amerikanische Eroberung überlebten, gerettet durch den schützenden Arm der pakistanischen Geheimdienste, ISI, aber auch durch die Ablenkung der amerikanischen Militärmacht auf den Schauplatz Irak und ihre siebenjährige Vernachlässigung der afghanischen Fronten.
Heute scheinen die Taleban, die längst nicht mehr bloss ehemalige Madrasa Absolventen sind, weitgehende Unterstützung bei den pashtunischen Stämmen zu geniessen, während auch viele nicht-pashtunische Afghanen gezwungen sind, mit ihnen zu kollaborieren, wenn sie überleben wollen. Weder die amerikanischen noch die Nato Truppen sind in der Lage, die afghanische Zivilbevölkerung wirksam gegen die Anschläge der Taleban, über das weite Land hin, abzusichern. Ob die von den amerikanischen Einsatzkommandanten zur Zeit geforderten Truppenverstärkungen genügen würden, eine ausreichende Zahl von „Stiefeln“ in das Land zu bringen ist ebenfalls fraglich.

Die von den Amerikanern eingesetzte Regierung von Kabul, die nur gerade in Kabul zu regieren versucht, scheint mehr daran interessiert, selbst Geld zu machen als daran, wirksam gegen die Taleban vorzugehen. Soweit man sehen kann, gilt dies auch von der afghanischen Polizei und Armee, auf deren Ausbildung und künftige Leistungen die landesfremden Truppen in Afghanistan ihre letzten strategischen Hoffnungen setzen.


Dunkle Fragezeichen über dem Irak
Ob auch der Irak nach dem Abzug der Amerikaner zum „failed state“ werden muss, ist noch offen. Doch die Gefahr besteht angesichts der verschiedenen über Waffen verfügenden Gruppen, die sich in dem Land konfrontieren. Sie versuchen schon gegenwärtig, ihre Stärke durch Terroranschläge zu demonstrieren, und die Gefahr zeichnet sich ab, dass sie einander nach dem Abzug der amerikanischen Streitmacht offen bekämpfen. Ein Willen der irakischen Bevölkerung, einen funktionierenden irakischen Staat wiederherzustellen, lässt sich erkennen. Doch der Willen der politischen Chefs, sich selbst und die eigenen Mitläufer gegenüber allen Rivalen- und Gegengruppen finanziell und politisch mit allen Mitteln durchzusetzen, weckt die Befürchtung, dass die Bevölkerung ihre Bereitschaft, in einem geamt-irakischen Rahmen zu koexistieren, nicht verwirklichen könnte.


Wie funktionieren „failed states“?
Wenn der Staat an Gewicht verliert oder gänzlich verschwindet, leben die Gesellschaften fort. Aeltere Solidaritätsgruppen, die schon vor dem Staat existierten und in seinem Rahmen, solange er die Hauptmacht ausübte, mehr oder weniger verdeckt fortlebten, treten hervor und bilden bewaffnete Gruppen („Milizen“), die ihre Art Ordnung durchsetzen. Dies ist ein chaotischerer Zustand als die Herrschaft des Staates, weil es zahlreiche rivalisierende Gruppen gibt. Sie sind meist tribaler, religiöser oder ethnischer Natur und eine sie überwölbende Macht fehlt, die unter ihnen als Schiedsrichter und Ordnungsmacht dienen könnte. Deshalb werden die betroffenen Gesellschaften arm und ihre Mitglieder müssen unsicher leben.

Nach dem Einsturz des Staates treten die Stämme oder deren urbaner Ersatz, die Klientelgruppen, als erste hervor und bilden Kampfgruppen (was in ihrer Tradition liegt und daher relativ rasch zustande kommen kann). Doch nach einiger Zeit zeigt sich, dass die Solidaritätsgruppen religiöser Wurzel an Einfluss und Macht gewinnen. Unter günstigen Umständen stellen sie Stammes- und Klientelkräfte in ihren Dienst. Dies geschieht, weil die Bevölkerungen, des Chaos der Stammes- und Klientelkämpfe müde, nach übergeordneten Kräften suchen, deren Macht die Stammesspaltungen überwinden kann. Solche waren in den Jahrhunderten vor der Bildung von Nationalstaaten in erster Linie immer die religiös islamischen Kräfte.


Die islamischen Kräfte
Im heutigen Islam ergeben sich meist zwei Arten von Religionsgruppierungen, die traditionellen, die den Mystikern, Sufi, nahestehen und die mehr zeitgemässen der sogenannten Salafiya („Nachfolge“, gemeint ist des Propheten und seiner Gemeinschaft). Diese können fundamentalistische Züge entwickeln und radikale Flügel bilden, die einen Shari’a Staat anstreben und ihn zu ihrem Kampfziel erheben. In einem chaotischen und veramenden Umfeld ergibt sich ziemlich regelmässig, dass die Gruppen der zweiten Art – Salafiya und radikale Randgruppen derselben – nicht zahlenmässig aber machtmässig mehr Einfluss gewinnen und ihre Rivalen marginalisieren oder ausschalten können. Dies, weil die der Mystik nahestehenden islamischen Kreise sich nicht in erster Linie für Macht interessieren und auch, weil in einem chaotischen Umfeld die zielsicherste, brutalste und rücksichtsloseste Kraft sich am ehesten durchzusetzen kann.



Zum Beispiel: Somalia
In Somalia kämpften lange Jahre, seit dem Ende der Diktatur des Militärs Zyad Barre von 1969 die Stämme untereinander. Doch mit der Zeit meldeten sich auch religiöse Milizen zum Wort. Sie nannten sich zuerst die Bewegung für Schari’a Gerichte. Eine nicht religiöse, auf den Staat gestützte Rechtssprechung war schon seit vielen Jahren verschwunden. Sie erwiesen sich als erfolgreich, weil die Bevölkerung ihnen zuneigte. Diese war der Stammesführer und ihrer Machtspiele müde geworden. Die religiösen Kräfte und ihre Milizen schieden sich bald in mehr traditionelle, die den mystischen Orden nahe standen und in „salafitische“, sich selbst als moderner ansehende Gruppen, die fundamentalistische Fügel hervorbrachten. Unter diesen gab es „islamistische Radikale“, die den Schari’a Staat unter ihrer Führung durch Kampf- und Terrorakte anstreben. Sie bezeichneten sich als „Shabâb“, die „Jungen“, ergänze „Kämpfer“, und erwiesen sich als eine Gruppe überlegener Durchschlagskraft, obgleich die amerikanische Aussenmacht versuchte, ihre Anführer durch Raketenschläge aus der Luft zu töten und auch die Erbfeinde der Somali, die Aethiopier, mit ihren regulären Truppen, zum Eingreifen gegen sie ermutigte.


Der Bürgerkrieg in Libanon
In Libanon gab es keine Stämme, doch die Klientelgruppen unter ihren verschiedenen „Zu’amâ“, traten an ihre Stelle. Sie bildeten die ersten Milizen unter Führung der „Zu’amâ“. Weil diese Gruppen stets einer spezifischen Religionsgemeinschaft angehörten, maronitisch, orthodox, sunnitisch, schiitisch, drusisch, bildeten sich breitere Fronten, die gegeneinander kämpften oder sich miteinander verbündeten. Die Fronten konnten aus mehreren Klientelgruppen der gleichen Religionszugehörigkeit zusammengesetzt sein. Im Verlaufe des 15 jährigen Bürgerkrieges kam es aber auch vor, dass rivalisierende Milizen der gleichen Religonsgemeinschaft gegeneinander kämpften. In solchen Fällen ging es einer jeden der streitenden Kampfgruppen darum, möglichst alleine die Bevölkerung der betreffenden Religion zu „beschützen“, was auch zu beherrschen und finanziell auszubeuten bedeutete.


Ein amerikanischer Staat im Irak?
Im Irak herrschen zur Zeit noch besondere Umstände durch die Präsenz der amerikanischen Armee. Sie hatte zuerst den Staat zerschlagen, doch dann wenig Erfolg gezeigt bei der Wiederaufrichtung eines Nachfolgestaates. Ein „Widerstand“ gegen die Amerikaner bildete sich. Er bestand zuerst aus sunnitischen Aktivisten. Seine Anschläge richteten sich sowohl gegen die Amerikaner wie auch gegen die schiitische Gemeinschaft, die –mindestens teilweise – versucht hatte, mit der Besetzugnsmacht zu kooperieren, um einen neuen irakischen Staat unter ihrer eigenen Führung auzubauen. Der „Widerstand“ bestand aus religiös motivierten „Glaubenskämpfern“, die einen Schari’a Staat unter ihrer Führung anstrebten, aus sunnitschen Stammesgruppen und aus überlebenden Politikern und Aktivsten der „baathistischen“ Staatspartei Saddam Husseins.

Im Falle Irak konnten sich die religiösen Kampfgruppen nicht durchsetzen. Sie verloren zuerst den von ihnen in erster Linie entfachten Bürgerkrieg gegen die Schiiten, welche ihrerseits von Verbindungen zur –schiitischen – Regierung und deren neuausgehobenen Sicherheitskräften profitierten. Hinter diesen standen die Amerikaner mit ihren Waffen, Truppen und ihrem Monopol in der Luft. Sie konnten aber auch einige Unterstützung durch die iranischen Revolutionswächter geniessen. Beides bewirkte, dass die Sunniten den Bürgerkrieg gegen die Schiiten verloren. Viel mehr Sunniten wurden in den gemischten Gebieten, zu denen auch Bagdad gehört, aus ihren Wohnungen vertrieben als Schiiten. Bagdad wurde auf diesem Wege aus einer beinahe gleich stark gemischten zu einer 63 % schiitischen Stadt.

Der ungünstige Ausgang dieses, sehr blutigen und grausamen Untergrundkrieges, der sich versteckt von den Amerikanern des nachts abspielte, bewirkte wahrscheinlich zu einem bedeutendem Masse, dass die sunnitischen Stammeskräfte der Nordwestregionen des Iraks unter ihren angestammten Stammesführern ihre Haltung revidierten. Verlockungen der Amerikaner mit Geldzahlungen für jeden Milizionär und Waffen für sie, halfen bei diesem Frontwechsel mit, und die wachsende Abneigung der Stammesleute gegen die besonders fanatisch und eng auftretenden islamistischen Radikalen vom Schlage Zarkawis wirkte sich ebenfalls aus. Die Stämme traten in amerikanische Dienste (ihre mindestens 80 000 Kämpfer wurden Sahwa „Erwachen“ genannt) und erwiesen sich bei der Bekämpfung der verbleibenden Guerrilla aus Baathisten und religiösen Fanatikern, als sehr viel wirksamer denn die Amerikaner. Sie kannten die Sprache, das Gelände und die personalen Gegebenheiten in den Regionen, wo sich der Widerstand festgesetzt hatte. Sie waren in der Lage, nicht nur die feindlichen Kämpfer aufzuspüren sondern auch Kämpfer und Bevölkerung zu unterscheiden und durch ihre Präsenz der Bevölkerung Sicherheit gegen die Rückkehr der sunnitischen Guerilla in ihre Ortschaften zu gewähren. Dies war natürlich entscheidend für die Haltung der Masse der Bevölkerung.

Wie die Entwicklung ohne das Zutun der Amerikaner als Finanz- und Waffenquelle verlaufen wäre, kann man sich fragen. Wahrscheinlich hätten die religiösen Kampfgruppen einen leichteren Stand gehabt. Man muss allerdings auch erkennen, dass diese fundamentalistischen Kämpfer sich durch eine ungewöhnlich weit gehende Grausamkeit und fanatische Enge auszeichneten. Bei besserer Führung durch weniger rein fanatische Kräfte, wären ihre Aussichten gewiss besser gewesen.


Was tun in Afghanistan?
In Afghanistan ist bis jetzt keine „Sahwa“ nach irakischem Vorbild zustande gekommen, obwohl kein Zweifel besteht, dass die amerikanischen Strategen eine solche anstrebten und und wahrscheinlich immernoch zu bewerkstelligen hoffen. Auch in Afghanistan finden sich die typischen Komponenten der Macht in zusammengebrochenen Staaten: Gruppen religiöser und stammesorientierter Solidarität. Doch die Unterschiede zum Irak liegen auf der Hand. Stammes- und religiöse Guerilla sind viel tiefer ineinander verstrickt und mit dem Lande verbunden als im Irak. Dort bildeten sich die Widerstandsgruppen beider Art erst nach der amerikanischen Invasion.In Afghanistan gibt es die 20 jährige Vorgeschichte zuerst des Kampfes der Guerilla gegen die Sowjet Armee (1978 bis 1988) und dann der darauf folgenden Kämpfe der afghanischen War Lords untereinander, schliesslich der Taleban gegen die ihnen feindlichen War Lords, sowie der Amerikaner gegen die Taleban zur Zeit der amerikanischen Invasion von 2001. Während all diesen Jahren gab es enge Verbindungen zwischen den pashtunischen Stämmen und den religiös motivierten Kämpfern, die sich auf ihrer Seite schlugen. Die Widerstandsgruppe Hizb al-Islami, (gegründet von Studenten der islamischen Theologie in Kabul - heute würden wir sie als Taleban ansprechen – schon vor dem russischen Einmarsch von Weihnachten 1979), teilte sich früh in zwei Rivalen Parteien, Hizb al-Islami , Yunes, und Hizb al-Islami, Hikmatiyar. Der Unterschied war, dass die zweiten Pashtunen waren, die ersten Tajiken. Beide waren sie radikale Fundamentalisten (und beide erhielten damals reiche Millionengelder und Waffen aus Amerika).

Die Pashtunen, die auch südlich der pakistanischen Grenze (genauer der Durand Line) zu hause sind, vor allem in den half-autonomen Stammesgebieten, verfügten stets über Landsleute jenseits der Grenze, bei denen sie Zuflucht und Hilfe fanden. Dies umsomehr als sie auch die Unterstützung von ISI genossen, dem pakistanischen Geheimdienst, der seit vielen Jahren, beginnend 1948, Kämpfer im Heiligen Krieg als inoffizielle Waffe in Kashmir einsetzte und auch die Idee pflegte, nach welcher Pakistan in Afghanistan „seine strategische Tiefe“ gegenüber Indien erlangen sollte. ISI verteilte die Waffen an die afghanischen Widerstandsgruppen seiner Auswahl, nachdem sie aus Amerika nach Pakistan eingeflogen worden waren.

Eine zweite Welle von überwiegend pashtunischen Jihad-Kämpfern, die von 1996 ab von Pakistan aus lanciert, ewaffnet und ferngesteuert wurden, waren die Taleban. Schüler der pashtunischen Madares im pakstanischen Grenzraum, in dem fast zwei Millionen afghanischer Flüchtlinge, viele von ihnen ebenfalls Pashtunen, Zuflucht gefunden hatten. Sie kämpften erfolgreich für einen Schari’a Staat Afghanistan. Anfänglich mit Zustimmung der Bevölkerung, besonders der pashtunischen, die schon immer das Staatsvolk des Landes gestellt hatte. Sie erhoffte von ihnen eine solide Regierung für das ganze Land und damit ein Ende der endlosen Kämpfe unter den War Lords, die seit der Entfernung der Russen tobten. Die War Lords waren fast alle ethnisch basiert, ein jeder der wichtigeren führte seine Ethnie in den Bandenkrieg, Pashtunen Pashtunen, Tadjiken Tadjiken, Hazara Hazara, Uzbeken Uzbeken etc.

Mit pakistanischer Hilfe und saudischem Geld gelang es den Taleban, fast das ganze Land unter ihre Herrschaft zu bringen. Ihre standhaftesten Gegner waren die tajikischen Kämpfer des Warlords und Freiheitskämpfers Ahmed Schah Mas’ud. Die siegreichen Taleban entäuschten die Erwartungen von ISI insofern, als sie sich bald nachdem sie Kabul erobert hatten, nach ihren eigenen Interessen ausrichteten, so wie sie sie wahrnahmen. Sie enttäuschten auch die afghanische Bevölkerung, indem sie dazu übergingen, mit roher Gewalt ihre enge und sektiererische Version des Islams den vier Fünfteln aller Aghanen aufzuzwingen, die sie in ihre Gewalt gebracht hatten.

Doch die sieben Jahre amerikanischer Präsenz, in denen das Land vernachlässigt wurde, die Korruption der Zentralregierung unter Karzai um sich griff und die wichtigsten War Lords zurückkehrten, um mit dem Segen der Amerikaner ihre lokalen Herrschaften neu aufzurichten und ihre Milizen „Steuern“ einziehen zu lassen, liessen die Zeit der Taleban in den Augen vieler Afghanen als das kleinere Uebel erscheinen. Was diesen zugute kam, als sie begannen, sich in den pakistanischen Grenzgebieten mit dem Segen von ISI neu zu formieren und nach Afghanistan einzufallen.


Die Verbindung mit ISI
Nach dem Sieg der Amerikaner in Afghanistan von 2001 hatte ISI dafür gesorgt, dass die nach Süden fliehenden Taleban Führer auf der pakistanischen Seite der durchlässigen Grenze diskretes Asyl erhielten. - Seither haben die neo-Taleban, eine neue Generation von ihnen, die vor allem die Waffe der Bomben und Selbstmordanschläge zu handhaben lernte, in Afghanistan grosse Fortschritte gemacht.

In den pashtunischen Gebieten haben sie ohnehin viele Freunde und Gesinnungsgenossen, in den nicht-pashtunischen erzwingen sie Gehorsam durch Terror. Den lokalen Bevölkerungen bleibt nicht viel anderes übrig, als sich ihnen zu fügen, solange sie wissen: die Taleban können jederzeit wieder in unsere Dörfer einfallen, auch wenn vorübergehend einige Nato- oder amerikanische Truppen sich bei uns aufhalten, aber früher oder später wieder abziehen, weil sie nicht alle Dörfer und Täler des weiten Berglandes besetzt halten können. Die Regierungstruppen von Kabul zählen kaum als ein Schutz. Sie nehmen nur Geld von den best Bezahlenden.
Dazu kommt die wachsende Wut – und Rachepflicht – über die vielen zivilen Opfer, welche die amerikanischen Luft- und Raketenangriffe verursachen. Die amerikanischen Militärs geben vor, die Taleban von der Luft aus zu jagen, töten dabei jedoch immer wieder grössre Zahlen von Zivilen , auch Frauen und Kinder. Kriegshandlungen, die zur Tötung von Frauen und Kindern führen, gelten nach dem afghanischen Ehrenkodex als Verbrechen, die nur durch Blut gesühnt werden können.


Bisher keine „Sahwa“
Diese Vorgeschichte und die sich aus ihr ergebende
Gesamtlage haben bewirkt, dass es bisher nicht gelungen ist, grössere Gruppen von Pashtunen von den Taleban abzuspalten und sie dazu zu veranlassen, auf der Seite der Amerikaner, der Nato und der Regierung zu kämpfen. Es waren besonders günstige Umstände (nämlich die Verbitterung über Zarkawi und Seinesgleichen; alte Rivalitäten zwischen Stammeschefs und den Baathisten, die auf die Zeit Saddams zurückgehen; der Teilsieg der Schiiten über die Sunniten im unterirdischen Bürgerkrieg der Jahre 2006 bis 2008 ), die den Amerikanern die Bildung der Sahwa im Irak gestatteten.


Die pakistanischen Taleban in der Offensive
In Pakistan haben parallel zu den Taleban in Afghanistan die „Pakistanischen Taleban“ die Initiative gegen die pakistanische Regierung ergriffen, die teils unter Präsident Zardaris Leitung steht, teils aber immernoch nach den Weisungen oder unter dem Druck der Armee handeln muss. Die Bewegung der pakistanischen Taleban setzt sich aus zahlreichen Gruppen fundamentalistischer Radikaler zusammen, die Sympathie finden bei einem weiteren Spektrum ebenfalls fundamentalistisch ausgerichteter aber nicht gewaltbereiter Schari’a Aktivisten.. Die meisten dieser Gruppen besassen bisher und besitzen wohl immernoch Verbindungen zu den pakistanischen Streitkräften, weil sie von deren politischem Gehirn, ISI, als Menschenreserve für die Bildung von nicht legalen und daher abstreitbaren “Jihad Kämpfern“ genutzt wurden. Diese dienten dem Einsatz in Kashmir und in Afghanistan.

Die Amerikaner üben Druck auf die pakistanische Armee aus, um diese Zusammenarbeit zu unterbinden und sie umzukehren in eine Bekämpfung der islamistischen Aktivisten. Die pakistanische Armee kann diesen Druck nicht ignorieren, weil für sie unentbehrliche Gelder und Waffen aus Amerika kommen. Sie sucht ihm offenbar elastisch nachzugeben. Die grosse Armeeoffensive in Swat war wohl eine Folge der amerikanischen Druckmaneuver. Diese bestehen nicht nur aus Drohungen, die Zahlungen und Waffenlieferungen zu reduzieren sondern auch daraus, dass die Amerikaner zu grenzüberschreitenden Drohnenangriffen über die afghanische Grenze hinweg auf die pakistanischen Stammesgebiete übergegangen sind und diese trotz der anfänglich lauten Proteste der pakistanischen Regierung und Presse gegen die „illegale Verletzung der pakistanischen Souverainität“ bisher unentwegt fortsetzen. Diese Attacken sind gegen vermutete Standorte und Konzentrationen von Taleban gerichtet, die nach den amerikanischen Informationen den Krieg in Afghanistan nähren. Doch dabei werden soviele Zivile getötet, dass die Bitterkeit der Grenzstämme sowohl gegen die amerikanischen Verbündeten Pakistans wie auch gegen die eigenen pakistanischen Truppen mit jeden Drohnen- und Raketenangriff zunimmt.


Wächst die Zahl der „failed states“?
Die zusammengebrochenen Staaten im Nahen Osten sind bisher nur eine kleine Minderzahl. Unter den grossen steht zur Zeit wohl nur Pakistan in einiger Gefahr sich ihnen zuzugesellen. Natürlich gibt es auch immer die Möglichkeit, dass die Zusammenbrüche wieder ganz oder zu Teilen geheilt werden können, wie Libanon zeigte und auch in seiner Art Indonesien. Zusammengebrochene Staaten gibt es zur Zeit mehr in Afrika als im Nahen Osten. Man findet sie auch in Südamerika.

Doch dass die islamische Staatenwelt in einer Krise steht, lässt sich nicht bezweifeln. Diese kann erst als überwunden gelten, wenn Wege gefunden werden, um Mitspracherechte für die Bevölkerungen einzuführen, denen heute deutlich geworden ist, dass ihre Einmannregime für sie schwere Hindernisse auf dem Weg in eine fruchtbare Zukunft darstellen.

Der Umstand, dass der Weg in die islamistische Sackgasse immernoch neue Anhänger findet, ist auf die vielen existentiellen und politischen Krisen zurückzuführen, die auf den Bevölkerungen lasten.Diese Krisen wurden und werden zu guten Teilen durch die Aussenwelt, in den letzten Jahren durch die Amerikaner und den von ihnen beschützten Staat Israel gefördert oder hervorgerufen.

Doch den gebildeten Mittelschichten in den islamischen Staaten wird langsam deutlich dass der gewalttätige Islamismus die erhoffte „Lösung“ nicht bringen kann. Die Iraner haben dies durch die jüngsten Demonstrationen unübersehbar zum Ausdruck gebracht. Sie haben es sehr direkt erfahren. Was das dortige Islamisten Regime an der Macht hält, ist im wesentlichen nur noch die bewaffnete Macht der am Regime interessierten Religionswächter und ihrer Bassij Hilfstruppen. Zur Zeit Khomeinis war dies ganz anders.

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