Mittwoch, 21. Oktober 2009

ISLAM: Der Islam – ein flexibles Netz

Warum der Gesetzesislam heute, in einer Zeit der Krise und Selbstzweifel, an Einfluss und Zugkraft gewinnt

Es ist ein Irrtum, wenn man sich vorstellt, wie es in unseren Breiten oft zu hören ist: Der Islam wirke sich so auf die Menschen aus, die ihm folgen, dass man ihnen allen eine innere Verandtschaft, Aehnlichkeiten, nachsagen könnte. Es gibt die Religion des Islams, doch die Anhänger dieser Religion sind viele Arten von Menschen. Den Muslim, als festen Typus, über den sich verallgemeinernde Aussagen

Man sollte den Islam nicht als einen fest gefügten soliden Block ins Auge fassen sondern eher als ein flexibles Netz, das das Leben von vielen Völkern und Traditionen zu umfassen vermag. Die Kultur, die im Zeichen des Islams entstanden ist und eine hohe Blüte in verschiedenen Ländern erreicht hat, war aus dem Zusammenfliessen verschiedener alter Kulturen entstanden. Zu Beginn der islamischen Geschichte verschmolzen erstmals wieder seit der Zeit Alexanders des Grossen 900 Jahre zuvor, die oströmische byzantinische und persische Welt mit den kulturellen Zügen der arabischen Beduinenwelt.
Der Islam hat diese Bestandteile miteinander verschmolzen und verwoben, so dass etwas eigenes, abgerundetes daraus entstand, eine eigen Zivilisation. Er hat dabei Züge entwickelt, die ihn zu Bildung einer Weltreligion befähigten. Einerseits, eine Pflichtenlehre, die sogenannte Sharia, die versucht, eine jede Handlung der Menschen zu klassifizieren in „von Gott geboten“ oder „verboten“ mit Unterabteilungen, für „Gott wohlgefällig“, „indifferent“, „Gott missfällig“. Diese Pflichtenlehre ist unendlich komplex ausgebildet, eine Rechtswelt, die auf der Arbeit von Generationen von Gottesjuristen beruht. Ein Netzwerk mit feinen Maschen, das das Leben vieler Arten von Muslimen in seiner ganzen Breite einfängt, ausrichtet, ohne sie gleichzuschalten.

Ein Gegengewicht bildet die Mystik, das Streben des Einzelnen nach der Nähe Gottes, indem er „seine Seele poliert, bis sie den Schöpfer spiegelt“, wie die Sufis, die islamischen Mystiker, es formuliert haben. Die Frömmigkeit der Sufis kann in mancher Hinsicht als eine Gegenbewegung zur Gottesjuristerei der Sharia-Fachleute gesehen werden. Die beiden bilden zwei Flügel, mit denen der Islam sich in unterschiedlichen Sphären bewegen kann, in der Sphäre jener die geistliche Sicherheit anstreben, die nach der Leitung durch die juristischen Fachleute fragen, und einer anderen, die das Wagnis der persönlichen Suche nach Gott unternimmt. Diesen zweiten individuellen Weg geht man auch nicht alleine. Niemand kann von sich selbst aus Sufi werden, sondern kann dieses Ziel nur unter Anweisung und Aufsicht eines erfahrenen Scheichs erreichen. – Bei diesen Andeutungen muss ich es hier belassen.
Die Geschichte des Islams zeigt auf, wie die beiden Flügel sich ausgewirkt haben. Es war die Mystik, die wesentlich zur zweiten Ausbreitung des Islams beigetragen hat. Die mystischen Wanderer, Heilige Männer in den Augen der Bevölkerung, zogen ab dem 12. Jahrhundert aus nach Innerasienasien, über den Indischen Kontinent. bis nach Indonesien; quer über die Sahara nach Schwarzafrika; sie zogen über den kleinasiatischen Subkontinent und erschlossen so weitere Weltteile für den Islam, diesmal auf friedlichem Wege. Diesen äusseren Ring rund um die zentralen altislamischen Gebiete bilden jene Länder des Islams, die heute die grössten Bevölkerungszahlen aufweisen, wie etwa Indonesien.

Im Lauf der Geschichte des Islams ist manchmal der mystische Flügel führend gewesen. Er beanspruchte die grösste Aufmerksamkeit der Muslime und um ihn herum gestaltete sich ihr religiöses Leben am intensivsten. In anderen Zeiten und Regionen überwog die Pflege und Hochachtung des Gottesrechts, der Schari’a. Heute leben wir allem Anschein nach in einer Zeit, in der die Schari’a und das Schari’a Denken ins Zentrum des Glaubens rückt. Immer grössere Zahlen von Muslimen wenden sich ihren Gelehrten zu und fordern von ihnen Gutachten, Fatwas, darüber, wie sie sich in allen Details ihres Lebens Gottes Gebot entsprechend verhalten sollen.
Die Gelehrten sind sehr gelehrt, aber sie sind auch nur Menschen. Ihre Auskünfte können daher im Detail (auf das es in allen juristischen Denken ja ankommt) recht unterschiedlich ausfallen. Doch der innere Halt, den sie bieten, wird allen Erfahrungen nach heute immer intensiver gesucht.

Sheich Ali Gomaa, der Grossmufti, der dem aeyptischen Dar al-Ifta vorsteht, die offizelle Fatwa (Gutachten) Autorität Aegyptens, berichtete Neil MacFarquhar, einem amerikanischen Journalisten, der soeben ein gutes Buch über die islamische Welt veröffentlicht hat, p. 128 (das Buch hat einen etwas langen aber interessanten Titel: The Public Relations Department of Hizbollah whishes you a happy Birthday, unexpected encounters in the changing Middle East), dass seine Institution Ende des Jahres 2008 täglich 3000 Anfragen von Leuten beantwortete, die eine Fatwa suchen, das heisst eine Antwort auf Fragen ihres Lebens, die sie nach dem Religionsgesetzt suchen. Darunter können auch politische Fragen sein. 25 Theologen seien damit beschäftigt, beständig solche Antworten zu erteilen. Die Zahl der Anfragen hatte sich seit dem vorausgehenden Jahr verdreifacht. Vor nicht sehr langer Zeit seien es noch 25 per Tag gewesen und er habe sie leicht selbst beantworten können. Diese 3000 Rechtsauskünfte umfassten nicht alle die, die aus anderen Institutionen kamen, wie aus der al-Azhar Universität oder aus dem Zentrum für Islamische Forschung der Universität Kairo.

Warum wohl diese ungeheure Zunahme? - Die Leichtigkeit, zu fragen und Antworten zu erhalten ist heute sehr gross, es geht über e-mail und telephonische Linien. Auch auf dem Internet findet man Fatwa Seiten. Das Fernsehen hat Fatwa Programme, die sehr populär sind.

Doch es gibt wohl auch tiefere Gründe. Die heutige muslimische Welt steht in einer inneren Krise, die ausgelöst wurde und immer noch weiter vertieft wird, durch die übermächtige Präsenz unserer post-aufklärerischen, industrialisierten, und sich heute global ausdehnenden euro-amerikanischen Welt mit ihren Lebensformen. Eine unübersehbare, machtvoll, erfolgreiche Präsenz in allen muslimischen Ländern. Die Krise begann vor rund 200 Jahren mit der damals einsetzenden militärischen Ueberlegenheit der europäischen Mächte, die trotz allen Versuchen der Muslime von den Fremden zu lernen, um ihnen Widerstand leisten zu können, am Ende zu einer kolonialen Inbesitznahme der wichtigsten und fast aller muslimischen Staaten führte. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es Entkolonisierung.

Doch die materielle, technologische, kommerzielle, wissenschaftliche, organisatorische, industrielle, politische und immer noch militärische Überlegenheit besteht fort. Man kann sagen, in der heutigen islamischen Welt sind alle die Dinge, Methoden, Verfahrensweisen, die vom nicht- islamischen Ausland her kommen und von dort übernommen werden müssen und übernommen werden, erfolgreich. Alle die, die in der eigenen Tradition und Vergangenheit wurzeln, die man als die eigenen ansehen kann, verkommen langsam, werden unbedeutend und schwach, veraltern, scheinen irgendwie der Vergangenheit anzugehören. Was natürlich Fragen aufwirft für die Anhänger des Islams. Für sie kann die Antwort nicht in der Selbstaufgabe liegen und nicht in der Aufgabe jener wichtigsten Komponente ihres Selbst, des Islams. Eine Zeitlang in den 50er und 60 Jahren hoffte man auf die Nation. Die islamischen Völker hatten sich – nicht ohne Zwang und Zutun von aussen – in Nationalstaaten organisiert. Auch dies war eine Grundidee, die aus Europa importiert worden war. Nach der Unterjochung durch die kolonialen Mächte hoffte man auf den eigenen Staat als Befreiung aus der Lage des Machtlosen.

Doch die vielen politischen Rückschläge und Entäuschungen, durchaus auch solche gewaltsamer Natur, die von europäischen Staaten, von Israel und von Amerika aus gingen, und die tyranischen Herrschaften der eigenen Machthaber – meist sind es solche aus der Klasse der Militärs, die stets zu den konsequentesten Importeuren der ausländischen Waffentechnologie gehören und sich immer mit Gewalt an der Macht festkrallen, und die sich immer wieder von den Mächten Europas und Amerikas gestützt sehen - , hat heute dazu geführt, dass kaum jemand mehr Heilserwartungen auf den eigenen Staat setzt. Man kennt ihn als allzu korrupt. Die Hoffnungen konzentrieren sich vielmehr auf die Religion. Von ihr erwartet man Leitung, Erlösung aus der eigenen wenig befriedigenden Lage oder mindestens Sinngebung in einer wenig befriedigenden Welt.

Die Leitungsfunktion der Shari’a Gelehrten ist klar, sie strahlen Auorität aus, versprechen inneren Halt. Dies dürfte der tiefere Grund sein, warum der Gesetzesislam, der Islam der Normen, heute an Einfluss, an Zugkraft gewinnt. Er füllt das Vakuum, das die versagenden Staaten verusacht haben. Die Gottesgehrten werden nach Regeln befragt, sie erfüllen die Erwartungen und geben Antworten.


Die Neuentwicklung islamistischer Ideologie

Das Versagen der Staaten bringt neuerdings eine Versuchung für die Gläubigen und für gewisse Gottesgelehrte hervor. Wenn der Staat versagt, warum sollen sie dann den Staat nicht übernehmen? So denken jene, die von sich selbst glauben, sie könnten alles zum Besseren lenken, mit Gottes Hilfe gewiss, doch oft auch beflügelt durch einen eigenen Willen zur Macht, der sich leicht mit religiösen Argumenten begründen lässt. Es soll wieder so werden wie es zur vorbildlichen Zeit des Propheten war. Dafür würden sie sorgen, verkünden die Sprecher der politischen Lehre, die wir in Europa die radikalen Fundamentalisten nennen. Oft sind sie Amateur- Theologen ohne tiefere theologische Bildung. Sie sagen nicht wie sie diese ideale Gesellschaft erreichen wollen. Und in den wenigen Fällen, in denen sie über kurz oder lang die Macht ausgeübt haben, entwickelten sich die von ihnen durchaus gewaltsam beherrschten Gesellschaften keineswegs optimal. Iran ist das wichtigste Beispiel.
Doch ihre Lehre spricht alle jene an, die keine anderen Hoffnungen mehr für ein einigermassen menschenwürdiges Leben für sich und für ihre Kinder hegen können . Und ihre Doktrin zieht Ehrgeizige an, die in ihr einen Weg zur eigenen Machtposition erblicken. Der Islam verkommt dabei oft zum Instrument, um Macht zu erringen und auszuüben. Das Instrument greift dort am besten, wo Verzweiflung über alle anderen Wegen herrscht, aus der heutigen misslichen Lage herauszukommen.

Diese Entwicklungen haben viel mit Politik und mit politischen Entäuschungen zu tun und wenig mit Islam. Sie stellen eine Ideolgisierung der Religion des Islams dar. Eine Religion befasst sich mit dem Verhältnis Gott-Mensch, eine Ideologie ist ein Heilsrezept, das sich ein Ideologe zurecht gelegt hat und von dem er erklärt, es müsse nur ganz genau befolgt werden, dann sei der Erfolg, in dieser Welt, fest garantiert. Obwohl man die Zweck-Ideologie des Islamismus klar von der Religion des Islams trennen kann – und trennen sollte – musste ich sie hier erwähnen, weil diese ideologische Gärung über unsere Medien viel zu sehr unser Bild vom Islam dominiert und verfälscht. Sie umfasst nur einen kleinen Teil der Muslime, den Teil nämlich, der jede andere Hoffnung verloren hat, heute etwa im von den amerikanischen Truppen besetzten Irak und Afghanistan oder in anderen Gebieten, Gaza zum Beispiel, das Westjordangebiet nicht ausgenommen, in denen katastrophale Zustände herrschen.



(Entwurf eines Vortrags für eine Tagung über die schweizer Minarett-Initiative in Rohrschach in der Schweiz, am 25. Oktober 2009)

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