Dienstag, 23. Juni 2009

Iran: Die Angst ist verflogen

von Birgit Cerha und Wulf Wilde

Noch haben die Iraner keine Revolution begonnen – Hinter den Kulissen tobt der eigentliche Machtkampf

Wenn sich die Finsternis über Teheran senkt, dann beginnt über der scheinbar schlafenden Metropole eine ganz neue Form der Aktivität. Von Dächern erschallt der Ruf „Allah-u Akbar“ (Gott ist groß). Religiöse Slogans durchdringen am Fuße des mächtigen Albruz-Gebirges die Nacht. Iraner der älteren Generation fühlen sich um drei Jahrzehnte zurückversetzt. Damals setzten solche Schreie den Auftakt zum Sturz des mächtigsten Militärherrschers im Orient. Die islamische Welle, gelenkt vom charismatischen Geistlichen Khomeini, überrollte die persische Monarchie.
Es entspringt besonders geschicktem Kalkül, dass sich 30 Jahre später eine neue Massenbewegung, die sich gegen die Entartung der von Khomeini mit quasi-demokratischen Elementen versehenen „Islamischen Republik“ zur brutalen Tyrannei erhebt, der selben vom herrschenden Establishment und Teilen des Volkes bis heute so geliebten, hoch politisch eingesetzten Slogans bedient. Jeder versteht, was in Wahrheit gemeint ist und jene, die unter dem Deckmantel des Islams im Auftrag des „Geistlichen Führers“ und Khomeini-Erben Ayatollah Khamenei mit aller Brutalität das aufmuckende Volk zum Schweigen bringen wollen, können es nicht wagen, tödliche Kugeln auf Betende abzufeuern. Viele Iraner, die ihre Angst überwanden, dem drohenden Khamenei und dem massiven Aufgebot der Sicherheitskräfte trotzen und immer noch in den Straßen Teherans ihren Frustrationen Luft machen, pressen den Koran gleich einem undurchdringlichen Schutzschild an ihre Brust. Kein Polizist, selbst keiner der brutale Gewalt gegen friedliche Zivilisten nicht scheuenden, von Khamenei aufgehetzten Bassidsch, der feurig-fundamentalistischen Miliz, sollte das ungeheuerliche Sakrileg wagen, seine Waffe gegen einen Gläubigen zu richten, der das heilige Buch in seinen Armen hält.

Besonders beliebt ist unter den Demonstranten der ersten Teil des islamischen Glaubensbekenntnisses: „Es gibt keinen Gott außer Gott“, in der heutigen spannungsgeladenen Atmosphäre von jedem klar als direkte Attacke gegen Khamenei verstanden, der wie nie zuvor entschlossen ist, seine unumschränkte Macht gnadenlos durchzusetzen.

Dennoch gibt es Opfer zu beklagen. Niemand kennt die Zahl der Toten, die ihr Leben lassen mussten, als sie friedlich ein in der Verfassung der „Islamischen Republik“ verbrieftes Recht – freie, faire, unmanipulierte Wahlen – einforderten. Niemand kennt die Zahl der Verwundeten, der Gefangenen. Mindestens 3000 sollen nach Informationen iranischer Journalisten bereits in Haftanstalten abgeschleppt worden sein, darunter prominente Intellektuelle, politische Aktivisten, Journalisten und ein großer Teil der engsten Mitstreiter der offiziell bei den Wahlen gegen Präsident Ahmadinedschad unterlegenen Herausforderer Mir Hussein Mussawi und Mehdi Karrubi.

Und dennoch wagen sich immer noch Menschen in die Straßen. Die Proteste haben längst das ganze Land erfasst. Dieses dramatische Aufbäumen von Millionen, die sich um ihre Wählerstimme, um den Sieg ihres neuen Idols Mussawi betrogen fühlen, hat die seit langem verdeckte Kluft in der iranischen Gesellschaft weit aufgerissen. Gespräche mit Menschen am Rande des Geschehens in Teheran und in den Provinzen belegen dies deutlich. „Es ist doch immer so: Diejenigen, die verloren haben, fühlen sich betrogen“, kommentiert etwa ein Schaulustiger in der als eher konservativ geltenden Wüstenstadt Yazd, 400 km von Teheran entfernt, mit süffisantem Lächeln den Protestmarsch von Mussawi-Anhängern. „Sie sollten das Wahlergebnis einfach anerkennen“, meint ein anderer der Umstehenden.

Ein 23-jähriger Student und Sympathisant Mussawis verhehlt seine bittere Enttäuschung, ja gar Wut über die eklatante Wahlfälschung durch das Regime nicht. „Wir sind alle einfach nur traurig“, fasst ein Bankangestellter resigniert die Stimmung zusammen. „Wir haben alles versucht, um eine Wiederwahl Ahmadinedschads zu verhindern. Aber sie haben uns wieder betrogen, wie sie uns schon vor vier Jahren (als Ahmadinedschad erstmals Präsident wurde) betrogen haben.“

Das Gefühl des Betrugs, des Verrats, der Täuschung und der immer und immer wiederkehrenden Enttäuschung ist es, das die Menschen in solch überwältigenden Zahlen auf die Straßen trieb und so viele heute zur Entschlossenheit, unter keinen Umständen ihren Protest, in welcher Form auch immer, aufzugeben. Khomeini hatte ihnen einst die Freiheit vom kaiserlichen Despoten verheißen, seit den Anfängen des vorigen Jahrhunderts kämpfen Iraner um politische Mitbestimmung, die, kaum errungen, ihnen immer wieder geraubt wurde. Die „Islamische Republik“ setzte dieses Muster fort, oft mit der berühmten persischen Diplomatie, mit gigantischen Täuschungsmanövern, oft mit blanker Gewalt. So zerstoben die Hoffnungen, die Millionen in den Reform-Präsidenten Mohammed Khatami (1997 bis 2005) gesetzt hatten. Das freiheitshungrige Volk versank in tiefste politische Apathie, aus die sie so unerwartet in schier explosivem Tempo Mussawi riss, der in den vergangenen Wochen alle Hoffnungen auf Veränderung, auf einen Ausbruch aus dem unerträglich freud-, perspektivlosen und repressiven Alltag bündelte. Und wieder erwies sich der Traum als Illusion. Wie nie zuvor ignorierte der „Führer“ die Stimme, den Willen des Volkes. Doch iranische Langmut hat ihre Grenzen überschritten. Die Protestbewegung zieht – im Gegensatz etwa zu den rasch niedergeschlagenen Studentendemonstrationen 1999 und 2003 – Menschen aller Altersgruppen, aller Gesellschaftsschichten an. Alte Männer auf Krücken quälten sich unter die Protestierenden, Frauen, Männer, Reiche und Arme, Gebildete und Analphabeten, Gläubige und Skeptiker. Sie folgen den Symbolen der islamischen Revolution, die sie an die Macht erinnern, die diesem Volk erstmals zum Sieg verhalf und sie werden immer wieder von mutigen Frauen angetrieben.

Manche freilich, vor allem zermürbte Angehörige der älteren Generation, vermögen die dramatischen Ereignisse der vergangenen Tage nicht aus ihrem Fatalismus zu reißen. „Was habt ihr denn erwartet, wir leben im Iran. Das hier ist eine Diktatur und keine Demokratie“, doziert etwa ein 50-jähriger Betreiber eines Internetcafes. Auch er habe für Mussawi gestimmt, aber so sei das eben im Iran. Andere, wie der Taxifahrer in Yazd, machen ihrem Ärger hemmungslos Luft: „Ahmadinedschad ist nicht gut für unser Land. Er ist ein Lügner und ein Dieb.

Doch auch die Anhänger Ahmadinedschads, und davon gibt es zweifellos Millionen, erheben ihre Stimme: Es gäbe keinen besseren Präsidenten, meint ein 17-jähriger Schüler. „Er sagt immer was er denkt und läßt sich von niemandem etwas gefallen, weder von mächtigen Männern hier im Iran, noch von den USA, Israel oder Europa.“ Solche Position tut der über Generationen gedemütigten iranischen Seele wohl und manche lassen sich davon täuschen. Andere, wie ein Geschäftsmann, wollen von all diesem politischen Gezänk gar nichts wissen. Es sei doch völlig egal, wer diese Wahlen gewonnen hat: „Ob Mussawi oder Ahmadinedschad, das ändert doch nichts an unserer Situation, das System bleibt das gleiche. Das Problem ist nicht Ahmadinedschad, das Problem sind die Mullahs.“

Dennoch: Seit der Geburtsstunde der „Islamischen Republik“ hat eine Protestbewegung noch nie derartige Kraft, derartige todesmutige Ausdauer bewiesen. Seit feststeht, dass es Khamenei nicht gelang, Mussawi, diesen einstigen Jünger Khomeinis und Hardliner unter den Revolutionären, zu kooptieren und damit führungslosen Massen die Orientierung zu rauben, sie allmählich zur Bedeutungslosigkeit zu zerschlagen, hat die „grüne Welle“ (so genannt nach der Farbe des Propheten, die Mussawi als sein politisches Symbol wählte) neue Kraft und Zuversicht gewonnen.

„Wenn du schweigst, bist du ein Verräter“, hatten die Massen Mussawi zugerufen und den Zögernden zu einem erstaunlichen Wandel bewogen. Er wollte doch nur die „Islamische Republik“ vor dem Chaos retten, die internationale Isolation durchbrechen, das Land von den gefährlichen Irrationalitäten Ahmadinedschads befreien und den Menschen, vor allem der Jugend, durch kluge Wirtschaftspolitik endlich eine Perspektive geben. Dass er der erste Politiker werden könnte, der offen den mächtigen „Führer“ herausfordert, stand nie auf Mussawis Programm. Doch die Massen haben diesen mit den Ränkespielen des „Gottesstaates“ vertrauten einstigen Premier gewandelt. Er hat die Herausforderung angenommen und ein Manifest verbreitet, in dem er seiner „grünen Bewegung“ die Treue „bis zum Ende“ (was immer damit gemeint ist) schwört, entschlossen, eine „historische Mission“ zur „Erneuerung des Lebens“ nach den Idealen der Menschen zu erfüllen. Auf „friedlichem“ Weg müssten „Abweichungen und Täuschungen“, müsste der Tyrannei ein Ende gesetzt werden. Mussawi zeigt sich nun entschlossen, für diese Ziele seine Freiheit, ja sein Leben zu riskieren. Beide sind höchst bedroht.

An der Spitze der Reformbewegung steht damit ein Mann, der nicht nur bereits in der Vergangenheit bewiesen hatte, dass er starke Energie und Durchschlagskraft besitzt (er führte als Premier in der Kriegszeit der 80er Jahre das Land aus ökonomischer Krise in eine „goldene Zeit“), sondern auch über mächtige Verbündete im System verfügt. Dies nährt die Hoffnung vieler, dass sich – trotz aller Repression – „die grüne Bewegung“ gar nicht mehr stoppen lässt.

Wie einst unter Khomeini eint eine höchst vielfältige oppositionelle Strömung auch heute nur der Wunsch, dem Despoten – diesmal in geistlichem Gewande – ein Ende zu setzen, nicht ihn zu stürzen, nur seine Macht zu beschränken. Neuwahlen, die dem Land weitere vier Jahre unter Ahmadinedschad ersparen und Respekt gegenüber der Stimme des Volkes auch durch den „Geistlichen Führer“ sind die vorrangigen Ziele. An der „Islamischen Republik“ will Mussawi nicht rütteln. Revolution wagt vorerst niemand und schon gar nicht dieser einstige Mann des Systems.

Lediglich eine Farce hat die Protestbewegung aber bisher durchgesetzt: die Überprüfung der Wahlergebnisse durch den Khamenei treu ergebenen „Wächterrat“, der nun lapidar in 50 Wahldistrikten „Fehler“ feststellte, die jedoch am überwältigenden „Sieg“ Ahmadinedschads nichts änderten, so heißt es.

Die Fronten verhärten sich. Dennoch bleiben Mussawi und seiner Bewegung einige Optionen offen. Fortsetzung friedlicher Demonstrationen lautet die primäre Devise. Sie stützt sich auf die Hoffnung, Khamenei habe begriffen, dass die blanke Faust, die etwa eben einem jungen Mädchen das Leben kostete, dem ohnedies schon schwer angeschlagenen Prestige des „Führers“ und seines Systems fatalen Schaden zufügen würde. Auch setzt Mussawi auf das Verantwortungsbewusstsein der Sicherheitskräfte, die nicht hemmungslos unbewaffnete Mitbürger massakrieren würden. Ihr seid „unsere Brüder“ und die „Schützer unseres Revolutions-Regimes“. Mit solchen Appellen versucht er, die Bassidsch, die Revolutionsgarden und das Militär auf seine Seite zu ziehen. Schon gibt es Gerüchte, dass sich der Ärger über die Wahlmanipulationen durch Khamenei auch in die regulären Streitkräfte zieht. Das Fußvolk der Revolutionsgarden dürfte mehrheitlich ohnedies den Reformern im „Gottesstaat“ zuneigen, während die Offiziere dieser mit der Verteidigung des Systems betrauten Eliteeinheit die radikalen Ideen Ahmadinedschads teilen und Khamenei treu ergeben sind. Sie übernahmen nun die Kontrolle über die „Sicherheit“ Teherans.

Mussawi dürfte auch auf eine Zermürbungstaktik setzen: stete – selbst nur kleine – Demonstrationen, die die Sicherheitskräfte Tag für Tag zerschlagen müssten, sollten die Bewaffneten demoralisieren und vielleicht auch mehr und mehr in die „grüne Welle“ ziehen.

Vor allem aber dürfte ein geplanter „ziviler Ungehorsam“ das Regime in Bedrängnis bringen. „Eine Lösung dieser Krise durch die Sicherheitskräfte ist nicht möglich“, gibt sich ein Vertrauter Mussawis zuversichtlich.

Für den Fall seiner Verhaftung hofft Mussawi auf einen Generalstreik, der den Konflikt dramatisch eskalieren würde. Persönlichkeiten wie Khatami, Karrubi, aber auch Rafsandschani sollten dann die Führung übernehmen. Ob allerdings die mächtigen Bazaar-Händler, die einst den Sieg der Revolution gegen den Schah entscheidend ermöglicht hatten, sich nun auf die Seite der Opposition stellen, bleibt vorerst unklar.

Zunächst drängt Mussawi seine Anhänger, keinesfalls das Regime zu provozieren, sich treu an die Grundsätze des Systems zu halten, damit die Gegner der „grünen Welle“nicht ein „anti-islamisches“ Etikett aufzwängen und ihr so Rückhalt in weiten Kreisen der Bevölkerung, die sich immer noch zur Islamischen Republik bekennen, entziehen würden. Die Einheit der Bewegung zu erhalten, zählt wohl zu den schwierigsten Aufgaben Mussawis. Seinem Mitstreiter Karrubi etwa geht es letztlich vor allem darum, sich selbst die Präsidentschaft zu sichern. Andere, wie Rafsandschani nahe stehende Gruppen, hoffen auf die Chance, als Trittbrettfahrer ihren Einfluß zu stärken und drängen Mussawi zur Bildung einer gemeinsamen Front, während es Rafsandschani selbst vor allem darum geht, seine eigene, nun bedrohte Machtposition im System zu retten. Die geheimen Wünsche der Menschen lassen sich nur erahnen. Ein beträchtlicher Teil der Jugend will vor allem eine friedliche Veränderung, ein Land, in dem sie ohne Angst endlich singen und tanzen können und das ihnen Chance auf eine würdevolle Existenz bietet. Je länger aber die Kraftprobe anhält, desto höher werden die Aktionisten ihre Anforderungen schrauben und es vielleicht wagen, sich auch offen gegen das islamische System zu stellen.

Die eigentliche Entscheidung in diesem Konflikt wird jedoch hinter den Kulissen getroffen. Hier tobt ein Machtkampf, wie ihn die „Islamische Republik“ noch nie erlebt hat. Er lähmt entscheidend Khameneis Handlungsspielraum. In dieser Auseinandersetzung spielt die hohe Geistlichkeit in Qom, dem Zentrum schiitischer Lehre, eine zentrale Rolle. Einige der angesehensten Würdenträger haben bereits mehr oder weniger offen ihre Kritik an der Wahlmanipulation kundgetan, andere halten sich noch ängstlich zurück. Versucht der unter den führenden islamischen Theologen wenig beliebte Khamenei nun tatsächlich mit brutaler Gewalt die Oppositionsbewegung zu zerschlagen, dürfte sich Qom offen gegen ihn stellen, was dem „Gottesmann“ politisch zum Verhängnis werden dürfte. In dieser Situation, so meinen manche, bleibt dem „Führer“ im Grunde nur die Wahl - wie einst sein Vorgänger Khomeini, als er einem Waffenstillstand nach achtjährigem Krieg gegen den Irak zustimmte -, den „Giftbecher“ zu trinken und seinen Herausforderern entscheidend entgegen zu kommen.

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