Beispiellose Verhaftungswelle von mutmaßlichen Spionen versetzt den Israelis einen empfindlichen strategischen Schlag
Schonungslos zerren in zivil gekleidete libanesische Sicherheitsbeamte einen Mann aus seiner Wohnung, beschimpfen und schlagen ihn. Wilde Flüche prallen auf den Gequälten nieder, den sie schließlich in den Kofferraum eines Autos stoßen und davonbrausen. Bürgerrechte finden bis heute im Libanon kaum Beachtung. Solche Szenen wiederholten sich in den vergangenen Wochen in zunehmendem Tempo. Ziel waren stets mutmaßliche Spione für den Erzfeind Israel.
Schon 35 Libanesen wurden auf diese Weise verhaftet, 23 bereits angeklagt und mindestens drei Verdächtige konnten mit ihren Familien nach Israel flüchten. Unter den in verschiedenen Landesteilen unter den diversen Bevölkerungsgruppen Festgenommenen sind zwei Armee-Offiziere und einer pensionierter hoher Zollbeamter, ein angesehener stellvertretender Bürgermeister, ein Mathematiklehrer, ein Lkw-Fahrer, ein Fleischhauer, eine Hausfrau.
Der Libanon steht offiziell im Kriegszustand mit Israel und verbietet seinen Bürgern den Kontakt mit dem Judenstaat. Auf Spionage oder Kollaboration mit Israel steht die Todesstrafe. Während Israel nach alter Tradition zu den Verhaftungswellen schweigt, schwor der libanesische Armee-Kommandant General Jean Kahwaji, die Verfolgung von Spionen in aller Härte fortzusetzen. Zugleich richtete die Armeeführung an alle Einheiten eine Warnung vor intensiven israelischen Versuchen, das Militär zu infiltrieren.
Lokale Zeitungen berichten, dass die „Internen Sicherheitskräfte“ bereits mehr als ein Dutzend Spionage-Zellen zerschlagen hätten. Und Polizei-General Ashraf Rifi betont stolz: „Zum erstenmal in der Geschichte des arabisch-israelischen Konflikts“ sei dem israelischen Geheimdienst ein derart schmerzhafter Schlag zugefügt worden – eine Ansicht, der sich auch unabhängige Sicherheitsexperten, wie Alastair Crooke, anschließen: „Der Verlust dieser Augen und Ohren im Libanon bedeutet zweifellos einen strategischen Rückschlag für Israel.“ Ein derartiges Netzwerk lasse sich zwar in zehn Minuten verlieren, „doch es dauert fünf, zehn oder gar 15 Jahre, um es aufzubauen.“
Einige der Verhafteten gestanden laut libanesischen Medien unterdessen, sie hätten tatsächlich zehn oder 15 Jahre lang den Israelis wichtige Informationen geliefert. Seit dem Abzug der israelischen Besatzungsmacht aus dem Libanon 2000 haben viele der lokalen Agenten aber ihre Arbeit eingestellt. Nach dem blutigen Libanon-Fiasko 2006, bei dem es den Israelis nicht gelungen war, die schiitische Hisbollah zu zerschlagen, haben sie nach informierten Kreisen erneut intensiv versucht, Netze mit Hilfe von wiederbelebten alten Kontakten aufzubauen. Doch einige der einstigen Spione dürften eine erneute Kollaboration abgelehnt und die Beiruter Behörden oder Hisbollah informiert haben. Hier könnte einer der Gründe liegen, warum den Libanesen derartige Schläge gelangen. Offiziell heißt es, nicht näher bezeichnete „technologische Fortschritte“ hätten den Erfolg im Kampf gegen Israels Geheimdienstnetz möglich gemacht.
Doch einige wichtige Fragen bleiben offen. Die Rolle, die Hisbollah in dieser Affäre spielt, ist ungeklärt. Offiziell heißt es, Hisbollah sei in die Festnahmen nicht verwickelt. Die meisten mutmaßlichen Agenten hatten sich jedoch auf Israels libanesischen Erzfeind konzentriert. Eines der Hauptziele war offenbar die Entlarvung des geheimen Aufenthaltsortes von Hisbollah-Chef Nasrallah gewesen, den Israel, nach altbewährter Methode, schon lange gewaltsam zu beseitigen sucht.
Sicherheitskreise in Beirut schreiben den Erfolg vor allem einer weit verbesserten Kooperation zwischen den traditionell unter massiven Einfluß Syriens stehenden Sicherheitskräften und dem Militär zu. Zweifellos kamen aber viele wichtige Informationen direkt von Hisbollah, die ein höchst effizientes Spionagenetz aufgebaut hat, aber auch engste Verbindungen mit Iran und Syrien unterhält, deren Geheimdienste zu den schlagkräftigsten in der Region zählen. Ein politischer Analyst in Libanon meint gar, ein Kreis habe sich nun geschlossen, denn es war der israelische Mossad gewesen, der vor der islamischen Revolution 1979 intensiv dem Geheimdienst des Schahs durch Beratung und Training enorme Schlagkraft verliehen hatte. Das System und die Expertise erbten die islamischen Geistlichen, die Hisbollah im Libanon aus der Taufe hoben und weiterhin engste Verbindungen unterhalten.
Kurz vor wichtigen Parlamentswahlen am 7. Juni, bei denen ein Sieg der Hisbollah möglich erscheint, steigt unter vielen Libanesen ein quälendes Gefühl der Unsicherheit. Spekulationen und Gerüchte kursieren über stets neue Verhaftungen, die tief in das Establishment des Landes zielen. Zugleich droht Israels Verteidigungsminister Barak mit einem erneuten Krieg gegen den nördlichen Nachbarn, sollte Hisbollah tatsächlich zur stärksten Kraft im Lande aufsteigen. Doch für den Erfolg eines solchen Feldzugs sind Informationen durch ein dichtes lokales Spionagenetz unerlässlich. Der strategische Verlust für Israel könnte sehr schmerzlich sein.