Ungelöste politische Probleme, ausgebliebene nationale Versöhnung und die harte Hand des machtgierigen Premiers stürzen Irak in eine neue Welle der Gewalt
Die erneut wachsende Zahl schwarzer Banner als Zeichen der Trauer an Häuserwänden und Straßenkreuzungen in Bagdad signalisiert alarmierend, dass die Gewalt Iraks Hauptstadt und andere Teile des Landes wieder in ihren Bann zieht. Und damit wächst nach Monaten relativer Ruhe wieder die Furcht, dass die Glut des Bürgerkrieges zu neuen Flammen emporlodert. 33 Anschläge allein im April. Mit etwa 90 Toten war der 23. April der blutigste Tag im Irak seit mehr als einem Jahr. Während sich US-Soldaten aus dem Irak zum Einsatz im afghanischen Kriegsgebiet aufmachen, beschwichtigt der Oberkommandierende der US-Streitkräfte im Zweistromland, General Raymond Odierno: „Ich kann noch keinen Trend zu zunehmender Gewalt erkennen.“ Doch noch sei die Kapazität der Al-Kaida zu großen Terroranschlägen nicht gebrochen.
Viele Iraker zeigen sich weit pessimistischer. Die Hauptursachen, die den von Diktator Saddam Hussein 2003 befreiten Irak in den Abgrund der Gewalt rissen, sind weitgehend nicht beseitigt, der Hass der Bevölkerungsgruppen aufeinander findet immer neue Nahrung, je mehr irakische Führer selbst das Schicksal des Landes in die Hand zu nehmen suchen. Besonders fatal: ein Prozess der nationalen Versöhnung hat nicht ernsthaft begonnen.
Zwar ist es gelungen, einige arabisch-sunnitische Kreise, die der Sturz dieser traditionell staatstragenden Bevölkerungsgruppe von der Macht in tiefe, teilweise gewalttätige Frustration gestürzt hatte, wieder in den politischen Prozess einzugliedern. Doch viele Konflikte bestehen fort. Es ist kein Zufall, dass die Mehrheit der Opfer des jüngsten Terrors in Bagdad Schiiten sind. Denn die arabischen Sunniten haben de facto die Kontrolle über die Hauptstadt vollends an die schiitische Bevölkerungsmehrheit verloren und Radikale in ihren Kreisen versuchen sich gewaltsam dagegen zu wehren. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis militante Schiiten zurückschlagen.
Eine der Hauptursachen für die erneuten blutigen Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten ist die Entschlossenheit des schiitischen Premiers Maliki, die „Erweckungsräte“, auch „Söhne des Iraks“ („Sahwa“) genannt, vollends unter seine Kontrolle zu zwingen. Die Amerikaner hatten mit ehemaligen arabisch-sunnitischen Widerstandskämpfern und auch einigen Al-Kaida Terroristen eine 100.000 Mann starke Miliz, die „Sahwa“ aufgestellt, sie mit Waffen ausgestattet und monatlich je 300 Dollar bezahlt, damit sie nicht mehr die Besatzungstruppen und deren irakische Verbündete, sondern Al-Kaida bekämpften. Die Gewalt ging im Land dramatisch zurück. Im November stoppten die Amerikaner die Bezahlung für die „Sahwa“. Doch Maliki hielt bis heute weitgehend die Versprechen nicht, die „Söhne des Iraks“ in die Sicherheitskräfte oder in den zivilen Arbeitsmarkt zu integrieren und ihnen weiterhin 300 Dollar zu bezahlen.
Das Gefühl von der irakischen Führung betrogen zu werden wuchs unter diesen arabischen Sunniten, als Maliki auch das Amnestie-Versprechen für die ehemaligen Widerstandskämpfer brach und begann, gewaltsam gegen die „Sahwa“ vorzugehen. Die Spannungen zwischen beiden Seiten verschärften sich dramatisch, als Adil al-Mashhadani, einer der Bagdader Führer der „Erweckungsräte“, im März wegen Mordverdachts und Raubes verhaftet wurde. Unterdessen kursieren in Bagdad Gerüchte von einer bevorstehenden Großoffensive der irakischen Sicherheitskräfte gegen die „Sahwa“, die nach Überzeugung Malikis von Baathisten und Al-Kaida Terroristen infiltriert seien.
Der Soziologe und Direktor des Beiruter Instituts für irakische Studiem, Falih Abdul Jabbar, vertritt die Übgerzeugung, dass viele schiitische Führer unter einem „Putsch-Syndrom“ leiden, der panischen Angst, dass die Baath-Partei gewaltsam an die Macht zurückkehrt. Jabbar hält dies für einen Mythos.
Verschärft werden diese Spannungen zwischen arabischen Sunniten und Schiiten durch die Serie bis heute ungelöster politischer Probleme von zentraler Bedeutung für die Zukunft: die umstrittene föderale Struktur mit weitgehenden Rechten für die Kurden, der eskalierende Streit zwischen Kurden und Bagdad um die Ölstadt Kirkuk, ein nationales Ölgesetz, das bisher nicht verabschiedet werden konnte und die wachsende Nervosität angesichts des graduellen Abzugs der US-Truppen, die die Streitenden auseinanderhalten.