Doch viele Libanesen fürchten, eine „regionale Entente“ könnte die Suche nach Wahrheit im Mord am Ex-Premier blockieren
„Wir stehen auf des Messers Schneide. Sie können die wachsende Anspannung überall in den Straßen spüren“, fasst der libanesische Politologieproffesor Hilal Khashan die Stimmung im Levantestaat zur Eröffnung des Hariri-Tribunals Sonntag bei Den Hag zusammen. „Je nachdem, welche Richtung das Tribunal einschlägt, könnte es den Weg zu einer Phase der Gewalt“ im Libanon bereiten.
Vier Jahre nach einem der spektakulärsten politischen Attentate des Mittleren Ostens, dem Terroranschlag auf den libanesischen Ex-Premier Rafiq Hariri, der auch 22 andere Personen in den Tod gerissen hatte, begann Sonntag ein UN-Tribunal zur Klärung dieses schicksalhaften Gewaltaktes.
Der Mord an „Mr.Lebanon“, wie viele diesen Multimilliardär nannten, der in spektakulärer Weise das von 15-jährigem Bürgerkrieg (1975 bis 1990) zerstörte Beirut wiederaufgebaut und es gewagt hatte, der syrischen Hegemonialmacht zu trotzen, löste eine Massenbewegung aus, die den Abzug der syrischen Besatzungsmacht nach fast 30 Jahren erzwang, den Libanon aber noch stärker zwischen pro- und anti-syrischen Kräften spaltete. Die einen, geführt von der schiitischen Hisbollah, die anderen von Hariris politischem Erben Saad und vom Westen unterstützt. Der Streit um die Eröffnung des Tribunals, der sich die pro-syrischen Kräfte massiv widersetzten, lähmte jahrelang die Politik des Landes.
Dem Gericht gehören sieben internationale und vier libanesische Richter an, deren Namen aus Sicherheitsgründen geheim bleiben. Für sie gilt das libanesische Recht. Sie können jedoch nicht, wie im Libanon, die Todesstrafe verhängen.
Das Tribunal ist in mehrfacher Hinsicht einzigartig. Noch nie gab es ein internationales Tribunal in einem Mordfall. Trotz fast vierjähriger Untersuchungen ist nicht einmal klar, gegen wen Anklage erhoben werden soll. Der Arbeit der Richter zugrunde liegen zwei Untersuchungsberichte des von der UNO beauftragten deutschen Staatsanwaltes Detlev Mehlis und dessen Nachfolgers und Vorsitzenden des Tribunals, dem Kanadier Daniel Bellemare. Während Mehlis höchste Vertreter des syrischen Regimes, darunter den Bruder und Schwager Präsident Assads, als Drahtzieher des Mordes verdächtigte, verhält sich Bellemare bedeckt, spricht lediglich vage von Beweisen, die zu einem „kriminellen Netzwerk“ führten.
Als ersten Schritt dürfte das Gericht vier hohe libanesische Generäle vorladen, ehemalige Chefs der Polizei, der Geheimdienste und einer Elite-Armee-Einheit mit engsten Verbindungen zu Syrien, die seit dreieinhalb Jahren auf Anordnung von Mehlis – ohne Anklage – in Beiruter Haft sitzen. Über deren Anklage oder Freilassung soll befunden werden. Drei verdächtige Libanesen wurden vor wenigen Tagen in Beirut aus der Haft entlassen. Ob noch andere Personen in diesem Fall im Gefängnis sitzen, ist ebenso unklar, wie die wichtigsten Fakten der Mordaffäre. Die politisch explosivste Frage ist jene, ob das Tribunal auch hohe syrische Regimevertreter vorladen werde und ob diese einem solchen Ruf Folge leisten würden.
Viele Libanesen hegen keine Zweifel, dass die Urheber der Mordtat und acht weiterer tödlicher Attentate auf prominente libanesische Gegner Syriens in Damaskus sitzen. Doch der Libanon kann auf eine jahrzehntelange grausige Geschichte unaufgeklärter Mordanschläge zurückblicken, deren Urheber zweifellos nicht immer in Syrien zu finden wären. Dass nun aber – in Form eines internationalen Tribunals – „die ganze Welt“ gegen diese Mordserien einschreite und die Täter zur Rechenschaft ziehen wolle, „ist von enormer Bedeutung. Es ist ein Meilenstein“ in der Geschichte des Libanons, meint der prominente politische Kommentator Rami Khouri.
Doch die Libanesen sitzen in der Zwickmühle. Führen die Spuren all zu deutlich nach Syrien und versucht das Tribunal, hohe Repräsentanten des Regimes zur Rechenschaft zu ziehen, könnte der Libanon in eine neue Spirale der Gewalt gerissen werden. Diese Sorge könnte die Richter davon abhalten, all zu tief nach der Wahrheit zu forschen. Auch die geopolitische Szene könnte der Wahrheitsfindung im Wege stehen. Seit der Wahl US-Präsident Obamas schmilzt das Eis zwischen Washington und Damaskus. Syriens Kooperation ist dringend bei der von Obama versprochenen Suche nach regionalem Frieden benötigt. Das Tribunal kann Washington dabei als Druckmittel gegen Assad dienen. Zeigt sich der Syrer aber friedensbereit, wie er dies seit langem zu erkennen gibt, dann könnte es als weit zweckmäßiger erscheinen, die Morde im Libanon der endlosen Serie der Unaufgeklärten hinzu zu fügen.