Mittwoch, 14. Januar 2009

Birgit Cerha: Israels vergeblicher Kampf gegen die Tunnels

Wie die unterirdischen Schmuggelkanäle zur Lebensader des großen Gefängnisses von Gaza wurden – An ihre totale Blockade knüpft Israel einen Waffenstillstand
„Es ist eine Goldmine, für mich und meine Familie“, begründet der 14-jährige Palästinenser Ahmed stolz seinen lebensgefährlichen Einsatz. Gemeinsam mit seinen jugendlichen Freunden hat das Flüchtlingskind aus dem Elendslager Rafah in Gaza nun schon den dritten Tunnel vom Elendsstreifen nach Ägypten gegraben. 700 Meter lang ist der jüngste. Manchmal kam er mit seiner kleinen Schaufel oder mit bloßen Händen in acht Stunden nur zehn Meter voran. Und Ahmed weiß, dass er mit dieser Arbeit sein Leben riskiert. Mitunter bricht das Erdreich von selbst oder durch israelische Bomben ein und erschlagt die Grabenden, oder sie stoßen auf ein Stromkabel und erliegen dem Schock. Mitunter lassen ägyptische Sicherheitskräfte, die jenseits der Grenze eine Öffnung entdecken, auch Gase in die Kanäle, die den kleinen Arbeitern den ohnedies nur mangelhaft vorhandenen Sauerstoff noch vollends rauben. Doch für viele Palästinenser-Familien ist seit langem das Graben von Tunnels das einzige Einkommen. Schon lange klagen Lehrer, dass immer mehr jugendliche Schüler dem Unterricht fernbleiben, um ihren Familien auf diese Weise wenigstens ein wenig das Überleben zu sichern.

Seit Israelis und Ägypter nach der gewaltsamen Machtübernahme der islamistischen Hamas im Juni 2008 den Gazastreifen hermetisch abgeriegelt und total von der Außenwelt isoliert haben, blüht das Geschäft mit den Tunnels und dem Schmuggel. Seither wurde dieses unterirdische Transportnetz zur Lebensader der wie in einem riesigen Gefängnis eingeschlossenen eineinhalb Millionen Bewohner von Gaza. Benzin, Speiseöl, Nahrungsmittel aller Art, bis zu Kleidung und Medikamenten sind seither die wichtigsten Güter geworden, die durch die bis zu einem Kilometer langen Tunnels aus Ägypten geschmuggelt werden. Seit Beginn der israelischen Offensive am 27. Dezember sind es aber vor allem Medikamente und medizinische Hilfsgüter, die auf diesem Weg nach Gaza gelangen.

Das bis zu 15 Meter unter der Erde laufende System von mindestens 300 Tunnels, teilweise mit elektrischer Beleuchtung und Belüftung ausgestattet und mitunter so breit, dass es Eisenbahnwaggons Platz schafft, ist Hauptziel der israelischen Militäraktion. Aus der Luft, aber auch durch Raketen vom Meer aus versuchen die Israelis nun schon seit drei Wochen, dieses Netz zu zerstören. Denn seit sich die israelische Besatzungsarmee vor dreieinhalb Jahren aus Gaza zurückzog, haben die Palästinenser die Tunnels intensiv ausgebaut, vor allem – so der Vorwurf –, um Waffen und noch modernere Raketen für die Hamas nach Gaza zu schleusen. Nur wenn diese Transportwege für allerlei Kriegsgerät total blockiert sind, will Israel einem Waffenstillstand zustimmen. Das Tunnelsystem ist das Hauptziel dieses Krieges, in dem Hunderttausende Zivilisten einen ungeheuren Preis zahlen müssen.

Die ersten Tunnels gehen auf das Jahr 1982 zurück, nachdem die Ägypter als Folge des Friedensschlusses mit Israel und des Abzugs der israelischen Besatzungstruppen aus dem Sinai einen Grenzzaun zogen, der Mitglieder palästinensischer Großfamilien voneinander trennte. Damals wurden die unterirdischen Gänge primär für den Schmuggel von Zigaretten, Haschisch, Gold oder Autoersatzteilen benützt. Mit der ersten Intifada (dem Aufstand der Palästinenser) 1987 begann aber auch der Waffenschmuggel, der sich schließlich mit dem Aufstieg der Hamas wesentlich ausweitete.

Tunnels werden unterdessen von einzelnen Familien wie ein Geschäft geführt. Wenn ein Tunnel fertig gestellt ist, erhalten der primäre Investor und seine Familie einen bestimmten Prozentsatz des Schmuggelgewinns. Der Aufschlag für den Transport, entsprechend dem Risiko, hoch, weil der Tunnel schon nach einem Tag zusammenbrechen könnte. So kostet etwa eine Kalaschnikow in Ägypten umgerechnet 320 Dollar und in Gaza tausend, oder ein Packerl Zigaretten in Gaza zehn Mal so viel wie in Ägypten.

Den bitterarmen, vom Regime in Kairo traditionell sträflich vernachlässigten Beduinen im ägyptischen Grenzgebiet zu Gaza verschafft der Schmuggel unterdessen eine halbwegs erträgliche Lebensbasis, einigen Familien sogar beträchtlichen Reichtum. Die Regierung in Kairo hatte die lokalen Stämme in den vergangenen Jahren ganz bewusst von traditionellen Einkommensquellen, wie dem Tourismus ausgeschlossen, womit der Schmuggel für viele zur Lebensexistenz geworden ist. Nach lokalen Informationen leben heute bis zu 6000 Beduinen von diesem illegalen Geschäft und das Regime Mubarak fürchtet einen gefährlichen Aufruhr, wenn es diesem Treiben Einhalt gebietet. Die Beduinen Sinais haben über die Generationen reiche Erfahrung gesammelt, wie sie den staatlichen Behörden entkommen können. Bestechung zählt auch zu den erfolgreichen Methoden in einem Land, in dem staatlich Bedienstete kaum genug zum Leben haben. Die Regierung zögert aber auch, dem Schmuggel effizient Einhalt zu gebieten, um sich nicht noch mehr den Zorn der lokalen Bewohner, aber auch der so zahlreichen Sympathisanten der Palästinenser – insbesondere unter Ägyptens stärkster Oppositionsbewegung, der Moslembruderschaft – zuzuziehen.

Unterdessen haben die Israelis nach Aussagen von Beduinen in Rafah an die 60 Prozent der Tunnels beschädigt. Doch eine rasche Reparatur stelle kein Problem dar, heißt es. Ägypten zeigt sich hilflos. Israel, so Kairos Argument, gestatte ihm nach dem Friedensvertrag die Stationierung von nur 750 Soldaten an der Grenze. Dies reiche nicht aus, um dem Schmuggel in diesem schwierigen Wüstenterrain Einhalt zu gebieten. Dem Einsatz einer internationalen Truppe will Mubarak, besorgt um den Schutz der nationalen Souveränität, nicht zustimmen.

Zu Israels Plänen, den Waffenschmuggel zu stoppen, zählt der Bau einer unterirdischen Mauer, die die Tunnelgräber blockieren würde. Radikalere Mitglieder der israelischen Führung erwägen die Anlage eines drei Kilometer breiten, menschenleeren „militärischen Korridors“ um Gaza. Dafür aber müssten unzählige Häuser gesprengt und Zehntausende Menschen ausgesiedelt werden. Die Stadt Rafah mit einer Bevölkerung von 150.000 Menschen würde in diese Zone fallen, die sich etwa einen Kilometer in den Gaza-Streifen erstrecken würde. In diesem Gebiet stationierte israelische Soldaten wären Attacken durch Palästinenser besonders ausgesetzt. Zudem besteht wenig Zweifel daran, dass auch eine solche Zone die eingeschlossenen Palästinenser kaum davon abhalten würde, noch längere Tunnels zu graben. Und auch eine erneute Besetzung Gazas könnte dies nicht verhindern, hatten die Palästinenser doch schon zuvor unter israelischer Kontrolle ihre unterirdischen Verbindungen nach Ägypten angelegt. Militärisch, das ist längst klar, lässt sich dieses Problem nicht lösen.