Birgit Cerha
„Die Stunde der Kurden“ lautet der Titel eines im Vorjahr
erschienen Buches. Nicht nur Vertreter dieses größten Volkes der Welt
ohne Staat erhofften sich von den Folgen des „Arabischen Frühlings“, der
den Nahen Osten seit Beginn des Jahres 2011 in immer blutigere
Turbulenzen stürzte, eine einzigartige Chance auf Wiedergutmachung eines
gravierenden historischen Unrechts. Auch unabhängige Analysten hielten
solche Veränderungen für durchaus möglich.
Als die Terrormiliz des „Islamischen Staates“ (IS) 2014 die am Ende
des Ersten Weltkrieges gezogenen und sich bis dahin als unverrückbar
erwiesenen Grenzen durchstieß, um auf dem Boden des Iraks und Syriens
ein einziges neues staatliches Gebilde zu schaffen, da stiegen die
Kurden in beiden Ländern zur wichtigsten militärischen Stütze, zu den
verlässlichsten, tapfersten und effizientesten Verbündeten der von den
USA geführten internationalen Anti-Terrorallianz auf. Ihr Einsatz, ihre
Erfolge gegen den IS schufen ihnen ein nie zuvor erreichtes
internationales Prestige, wachsende Sympathie im Westen für dieses von
der Geschichte, von den Weltmächten immer und immer wieder verratene
Volk – verraten, obwohl sich die Kurden dem Westen nahe fühlten und
fühlen, wie kaum andere Völker in der Region. Sie sind ausgeprägt
laizistisch eingestellt, lehnen Radikalismus, vor allem religiösen
Fanatismus überwiegend ab und sind westlichen Werten, demokratischen
Idealen zugänglicher als andere Bevölkerungsgruppen im Nahen Osten.
Zum erstenmal seit hundert Jahren wagten es die Kurden Hoffnung zu
schöpfen, das endlich auch für sie das ihnen so lange verwehrte Recht
auf Selbstbestimmung Geltung gewinnt. Nie zuvor besaßen sie
regionalpolitisch so viel Einfluss wie heute. Kurden halten das
Gleichgewicht der Kräfte im Irak und üben beträchtlichen Einfluss auf
das Kriegsgeschehen in Syrien aus. Plötzlich sehen sie sich umworben von
der Supermacht USA und seit September 2015 zugleich auch von deren
russischem Gegenspieler. Der Mittlere Osten steht in Aufruhr und die
Kurden spielen eine Schlüsselrolle in der Neugestaltung der Region, ihre
Forderungen können nicht mehr ungehört bleiben, ihr Schicksal kann
nicht länger ignoriert werden. So zumindest schien es bis vor kurzem.
Doch nun wächst die Angst, all diese Erwartungen könnten sich als eine
Fata Morgana am Wüstenhorizont erweisen.
Mula Mustafa Barzani, der legendäre Führer der irakischen Kurden,
der 1979 in einem Krankenhaus in den USA an Krebs starb, sein
Lebenskampf in Trümmern….--- Barzani nannte die Kurden „Waisen des
Universums“. Sie kennen nur einen verlässlichen Freund: die Berge. Dort,
im Nord-Irak, im Nord-West-Iran, in Südostanatolien fanden sie stets
Schutz vor Verfolgung, vor Mord, vor Genozid, von dort aus konnten sie
ihre Verteidigungs-, aber auch ihre Angriffsschläge gegen die
übermächtigen Herrscher in Ankara, Bagdad und Teheran organisieren. Von
dort aus konnte Barzani die schlagkräftige Armee des irakischen Staates
beinahe in die Knie zwingen, bis ihn äußere Freunde und Helfer gnadenlos
verrieten. So 1975 der damalige US-Außenminister Henry Kissinger, als
er ohne Vorwarnung abrupt geheime amerikanische Militärhilfe an Barzani
stoppte, um Iran und Irak für die Beilegung alter Grenzstreitigkeiten zu
gewinnen. Über Nacht stellten die USA und die Iraner ihre für die
irakischen Kurden entscheidende Hilfe gegen Iraks Diktator Saddam Husein
ein, der Kampf der Kurden um die versprochenen autonomen Rechte brach
zusammen und 250.000 Kurden, darunter auch Barzani, blieb nichts als die
Flucht in den Iran. Tausende starben, Zehntausende konnten erst fast
zwei Jahrzehnte später aus Flüchtlingslagern im Nachbarstaat heimkehren.
Einst von Journalisten zu diesem Verrat an den Kurden befragt,
antwortete der spätere Friedensnobelpreisträger Kissinger achselzuckend:
„Die CIA ist keine humanitäre Organisation“.
Die Erfahrung dieses „Verrates“ hat sich tief in die kurdische
Seele eingebrannt. Sie hat sich wiederholt etwa als Iraks Diktator
Saddam Hussein 1988/89, damals Verbündeter des Westens, von den
Weltmächten ungehindert, seinen Genozid – genannt „Anfal“ (Arabisch für
„Beute“) - an den Kurden verübte, als er die Bewohner der kleinen
Grenzstadt zum Iran, Halabscha, mit Giftgas massakrierte, Chemikalien
dafür einsetzte, die er von Europa importiert hatte. Allein in Halabscha
starben mindestens 5000 Zivilisten. Mindestens 100 000 Menschen starben
in dieser monaatelangen Vernichtungskampagne, Kurdenführer schätzen
die Zahl der Todesopfer gar auf über 180 000. Die Welt sah zu,
tatenlos, wortlos.
Wird sich der Verrat an den Kurden wiederholen – durch die USA,
durch die Nachbarn, durch Russland? Wird die EU schweigen? – nun, da die
gesamte Region durch grausame Gewalt, Terror und Kriege zerrissen ist,
nun, da vielleicht die Grenzen neue gezogen werden?
Das politische Erdbeben, das heute die gesamte Region mit
unabsehbaren Folgen aufwühlt, nennt der amerikanische Syrienexperte
Prof. Joshua Landis „The great sorting out“, ( etwa „das große
Aussortieren). Um diese Entwicklung zu verstehen, müssen wir in die Zeit
des Ersten Weltkrieges und die Zerschlagung des Osmanischen Reiches
zurückgehen. Es war der16. Mai 1916, an dem ein Geheimabkommen des
französischen Diplomaten Picot und des Briten Sykes zur Aufteilung der
kolonialen Interessensgebiete im Nahen Osten in Kraft trat. Großbritannien wurde
die Herrschaft über ein Gebiet zuerkannt, das insgesamt etwa dem
heutigen Jordanien, dem Irak und der Region um das heute israelische
Haifa entspricht. Frankreich übernahm die Herrschaft
über die Südost-Türkei, Syrien und den Libanon. Jedes Land konnte die
Staatsgrenzen innerhalb seiner Einflusszonen frei bestimmen. Die
Mandatsmächte zogen sie ohne Rücksicht auf die lokale
Bevölkerungsstruktur. Völker, Stämme, ja Familien wurden zerrissen. Als
Grenze zwischen der Türkei und Syrien wählte man die
Berlin-Bagdad-Basra-Eisenbahnlinie, die sich mitten durch kleine Städte
und Dörfer zog. Das traf vor allem die in diesen Gebieten lebenden
Kurden. So läuft die Grenze etwa durch die Städte Qamishli, der in der
Türkei liegende Teil heißt Nuseibin, Kobane heißt der in Syrien liegende
Teil der kurdischen Grenzstadt, der Türkei einverleibte heißt Suruc.
Die Grenzziehung, so stellt Landis fest, orientierte sich also
nicht nach der in der Region lebenden Bevölkerung, sondern diese hatte
sich an die Grenzen anzupassen. Diese von der Pariser Friedenskonferenz
1919 bestätigte Regelung gilt bis heute, obwohl sie seit langem heftig
als ein „Diktat der Kolonialmächte“ angefochten wird, das zahlreiche
Bevölkerungsgruppen zum Zusammenleben zwang und einige spaltete.
Die Mandatsmächte hatten zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts
nicht nur die Grenzen willkürlich gezogen. Sie hatten die von ihnen
gegründeten und verwalteten Staaten nach dem System des Teile und
Herrsche regiert, indem sie jeweils den Minderheiten die Macht
übergaben: den arabischen Sunniten im Irak, den Alawiten in Syrien. Im
Libanon, wo die Franzosen die christlichen Maroniten mit der
Staatsführung betraut hatten, erhob sich die islamische Mehrheit – die
Sunniten, vor allem aber die Schiiten – schon 1975, um in einem
15-jährigen Bürgerkrieg die Machtverhältnisse entsprechend der
Bevölkerungsstruktur zurechtzurücken. Dasselbe geschah nach dem Sturz
Saddam Husseins im Irak, wo seit 2003 die Schiiten mit iranischer
Unterstützung die Zentralregierung in Bagdad dominieren. Dasselbe
ereignet sich in Syrien. Der Prozess ist längst nicht abgeschlossen.
Als der IS im Juni 2014 in rasantem Tempo von seinen syrischen und
irakischen Stützpunkten aus Mosul, Iraks zweitgrößte Stadt eroberte,
weiter in irakisches Territorium vorstieß und in einem Anflug von
fanatischem Größenwahn die Geburt eines neuen „Staates“, den Kern eines
„Kalifats“, wie er es nennt, ausrief, zwang er eine Region in Syrien und
Irak unter seine Kontrolle, die überwiegend von arabischen Sunniten
bewohnt war, eine homogene Bevölkerung insofern, als sie zwar nicht
unbedingt die Ideologie des IS billigte, sich aber in Syrien wie im Irak
von ihren schiitischen, bzw. alawitischen, vom Iran unterstützten
Zentralregierungen unterdrückt fühlte und überzeugt war, dass diese
niemals ihren legitimen Interessen entgegenkommen würden.
Teil dieses „großen Aussortierens“ wie Prof. Landis es nennt, ist
auch die ethnische und religiöse „Säuberung“, die der IS in barbarischer
Weise praktizierte, an Christen, vor allem aber an Yeziden, den
Angehörigen einer vorchristlichen kurdischen Religion. Die
genozidartigen Massaker, die Zehntausende Yeziden in der alten
nord-irakischen Kurdenstadt Sindschar in die Flucht in die Berge trieb,
sind ihnen vielleicht in Erinnerung. Der IS ermordete Tausende Menschen,
verscharrte sie in Massengräbern und verschleppte Tausende Frauen, um
sie als Sex-Sklavinnen zu halten, schließlich zu verstoßen oder wie im
finstersten Mittelalter angekettet auf Märkten zu verkaufen. Manche
konnten inzwischen flüchten oder wurden befreit, viele erleiden immer
noch unfaßbare Qualen. Allein in dem nun umkämpften Mosul sollen noch an
die 3000 Yezidinnen gefangen gehalten werden.
4) Karte Sindschar
( Sindschar, das inzwischen von kurdischen
Peschmerga befreite Zentrum der Barbarei, war für den IS ein besonders
wichtiges Ziel. Die Stadt am Fuße eines kargen, fast völlig
vegetationslosen Gebirgszuges besitzt für die Jihadis große strategische
Bedeutung, liegt sie doch an der wichtigsten Verbindungslinie zwischen
der sog. „Hauptstadt“ des „Kalifats“, dem syrischen Rakka und der
Millionenmetropole Mosul im Irak, die der IS seit Juni 2014
kontrolliert.)
Zudem sind die Yeziden aus ideologischen Gründen Ziel des Hasses
dieser islamistischen Fanatiker, die diese Anhänger des Eingottglaubens
mit seinen vorchristlichen, christlichen und islamischen Elementen, dem
Glauben an das Feuer und den Engel Pfau als Häretiker verteufeln, die
das Recht auf Leben verwirkt hätten.
Seit dem Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein haben die
Kurden in ihrem autonom regierten Gebiet des Nord-Irak die Basis für
einen unabhängigen Staat geschaffen. Sie verteidigen ihr autonomes
Gebiet mit ihren zu einer reguläre Armee aufgebauten
Peschmerga-Einheiten, den legendären Freiheitskämpfern, die
jahrzehntelang einem der brutalsten Despoten des vergangenen
Jahrhunderts, Saddam Hussein und seiner Armee, getrotzt und für die
Selbstbestimmung der Kurden gekämpft hatten. Sie erwiesen sich auch seit
dem Vormarsch des IS 2014 als die tapfersten Kämpfer gegen den IS,
dessen menschenverachtende Ideologie sie auch für ihr Volk als
lebensbedrohend fürchten. Sie besitzen den Ruf als verlässliche Kämpfer
und zählen zu den größten Freunden des Westens in der Region. So fiel
ihnen die Rolle einer der wichtigsten Bastionen gegen diese radikalen
Jihadi-Terroristen zu. Das bis dahin geostrategisch eher unwichtige
nord-irakische Kurdistan hat mit dieser Herausforderungen einen
beträchtlichen regionalpolitischen Bedeutungszuwachs erlebt, zumal es
auch den Kurden gelungen war, ihre autonome Region zu einer Oase der
Ruhe und wichtigstem Zufluchtsort von Kriegsflüchtlingen im Irak
aufzubauen, den seit dem von den USA geführten Krieg gegen Saddam 2003
blutige Gewalt zerreißt. Dennoch beugen sie sich unter Führung Massoud
Barzanis, des Sohnes von Mula Mustafa, bis heute westlichem, vor allem
amerikanischem Druck, die Einheit des Iraks nicht durch eine
Unabhängigkeitserklärung zu zerstören – eine Einheit allerdings, die
längst zur Illusion geworden ist.
Unabhängig von diesen Positionen stehen der Selbstbestimmung und
vor allem der Gründung eines unabhängigen Staates enorme Hindernisse im
Wege, sowohl für die Kurden des Iraks, als auch für jene Syriens und der
Türkei (die beide allerdings sich offiziell nur mit Autonomie begnügen
wollen) , von den massiv unterdrückten im Iran lebenden Kurden ganz zu
schweigen
In Syrien, wo sie als eine von mehreren Minderheiten mit etwa zwei
Millionen fast zehn Prozent der Bevölkerung stellen, waren die Kurden
traditionell unterdrückt, wenn auch nicht ganz so brutal wie in der
Türkei, im Irak oder im Iran. Aber auch in Syrien erlitten sie schwere
Diskriminierungen, massive Versuche der Assimilierung, der Arabisierung
ihrer Siedlungsgebiete im Norden, an der Grenze zur Türkei,200.000
Kurden verweigerte das Regime die Staatsbürgerschaft und damit die
Grundrechte und um Kontakte mit Familien- und Stammesangehörigen
jenseits der türkischen Grenze zu unterbinden, wurden Kurden aus dem
Gebiet deportiert und Araber angesiedelt.
Trotz jahrzehntelanger Repressionen schlossen sich die Kurden 2011
nicht den ersten friedlichen, von der überwiegend arabisch-sunnitischen
Opposition angeführten Demonstrationen für politische Reformen in der
Diktatur Assad an. Das Misstrauen der Kurden gegenüber den Gegnern
Assads wuchs, je mehr sich diese islamistisch radikalisierten, je
stärker sie Unterstützung aus Saudi-Arabien, Katar und der Türkei
erhielten und je mehr ausländische Jihadis mit den Rebellen kämpften.
Dennoch bot sich den historisch vollends marginalisierten Kurden in
dieser Situation eine historische Chance, als sich das in die Enge
getriebene Regime kampflos aus den nordsyrischen Kurdengebieten
zurückzog und den Kurden die Kontrolle über diese Regionen überließ. So
wurde Rojava (wörtlich aus dem Kurdischen: West) geboren, eine
kurdische Selbstverwaltungsregion.
Rojava besteht aus drei Kantonen, in denen die Kurden die Mehrheit
bilden: Afrin im Westen Cizire und Kobane im Osten, getrennt durch einen
Landstreifen, der einige Zeit vom IS kontrolliert wurde und in dem nun
pro-türkische Kräfte und vor allem türkische Invasionssoldaten stehen.
Es ist ein fruchtbares Gebiet, das auch Ölquellen birgt, doch weitgehend
eingeschlossen und ökonomisch boykottiert von nicht freundlich
gesinnten Kräften, die ihre Grenzen immer wieder schließen: das ist vor
allem die Türkei im Norden, irakisch-Kurdistan im Nord-Osten, von wo aus
die kurdische Führung Barzani erfolglos um politischen Einfluss über
Rojava kämpft, und der Rest Syriens mit seinen stetig wechselnden von
Rebellen, dann von Regimekräften oder radikalen Jihadis kontrollierten
Gebieten.
Dennoch gelang es der Rojava dominierenden „Demokratischen
Unionspartei“ (PYD), in dieser Situation ein radikales Experiment
direkter Demokratie zu starten und dabei ein effizientes
Selbstverwaltungssystem aufzubauen. Unabhängige Analysten sind sich
einig, dass nach dem Scheitern des Westens bei der Demokratisierung des
Iraks und den bitteren Enttäuschungen des „Arabischen Frühlings“
Rojava, trotz mancher Mängel, eine einzigartige Errungenschaft
darstellt. Es besitzt das Potenzial, sich zu einer zukunftsfähigen, dem
Westen freundlich gesinnten Gesellschaft zu entwickeln, die als
Musterbeispiel für die Achtung indigener Werte wie Säkularismus,
Demokratie und Frauenrechte zu einer Zeit dienen kann, da selbst jene
Staaten der Region, die auf ähnlichen Prinzipien gegründet wurden, sich
in die entgegengesetzte Richtung entwickeln.
Die Gesellschaft Rojavas wird in den von der PYD aufgestellten
„Prinzipien des demokratischen Konföderalismus“ definiert. PYD ist die
stärkste Gruppe in der regierenden Koalition Rojavas, die sich „Bewegung
für eine demokratische Gesellschaft“ (TEV-Dem) nennt. Nach ihren
Prinzipien muss Macht so weit wie möglich dezentralisiert sein,
beginnend mit Dorfversammlungen und Kommunen bis zu gesetzgebenden Räten
und Kommissionen, die Ministerien für Wirtschaft, Verteidigung und
Justiz führen. Auf allen Ebenen ist auf ein striktes Gleichgewicht der
Ethnien, Religionsgruppen und der Geschlechter zu achten. Araber,
Yeziden, Christen und Turkmenen nehmen neben der kurdischen Mehrheit am
öffentlichen Leben voll teil. „Jin, Jiyan, Azadi“ (Frau, Leben,
Freiheit) lautet das Mantra Rojavas.
Rojava hat amerikanische Wurzeln. Die Idee der Dezentralisierung
der Macht geht auf Thomas Jefferson, einen der Gründerväter der USA,
zurück und wurde von Abdullah Öcalan übernommen,den zu lebenslanger Haft
verurteilten und im Hochsicherheitsgefängnis auf der türkischen Insel
Imrali einsitzenden Führer der türkisch- „Kurdischen Arbeiterpartei“
PKK. PYD ist ein „Kind“ der PKK, was die Türkei dazu bewog, sie pauschal
als „Terrororganisation“ zu verdammen und zu bekämpfen, wiewohl die
beiden militärische Arme der syrischen Kurdenpartei, die (männliche)
„Volksverteidigungseinheiten“ (YPG) und deren Fraueneinheit YPJ bis
heute nachweislich keine Aktionen, geschweige denn Terrorakte in der
Türkei verübt hatten. Doch sie wurden von den im völlig unzugänglichen
nordirakischen Kandil-Gebirge stationierten PKK-Guerillaführern
ausgebildet.
Hervorragend organisiert und patriotisch enorm motiviert
beeindruckten YPG und YPJ die USA und zuletzt auch Russland auf deren
verzweifelter Suche nach verlässlichen Bodentruppen gegen den IS. Der
hartnäckige Verteidigungskampf, den beide Einheiten von September 2014
bis Jänner 2015 gegen den IS in der Grenzstadt Kobane führten, ist in
die kurdische Geschichte eingegangen. Unvergessen bleiben die Bilder
der die Stadt umringenden Panzer, die der IS aus den syrischen und
irakischen Arsenalen erobert hatte und nun voll gegen diese strategisch
wichtige Stadt einsetzte. Todesmutig verteidigten die Kurden mit nur
leichten Waffen ihre Hochburg, während die Türkei die Grenze abriegelte,
um- zumindest zeitweise – Flüchtlinge fern zu halten und kurdische
Brüder aus ihrem Land davon abzuhalten, den Verteidigern der Stadt -
häufig Verwandte - zu Hilfe zu kommen. Das zynische Schauspiel
türkischer Soldaten, die auf ihren Panzern, die Kanonen auf Kobane
gerichtet, die Schlacht um Kobane gemächlich verfolgten, dauerte Wochen,
bis endlich die Amerikaner ihre Jets einsetzten, um den Fall der Stadt
zu verhindern. Bis dahin aber waren die Jihadis schon in Kobane
eingedrungen und amerikanische Bomben prasselten auf die Stadt nieder,
bis sie schließlich vollends in Trümmern lag. Warum nur hat Washington
so lange mit seiner Hilfe gezögert, fragen sich viele. Die Stadt gilt
traditionell als Hochburg kurdischen Freiheitsstrebens und sie liegt in
einem Grenzstreifen, den die Türkei insbesondere seit der Gründung
Rojavas entvölkern will. So blockieren die Türken bis heute auch
Versuche zum Wiederaufbau Kobanes.
Dennoch, die Schlacht um Kobane leitete den Beginn einer
militärischen Kooperation zwischen der den USA und den syrischen Kurden
ein, die dem IS zahlreiche strategisch wichtige Niederlagen zufügten. Je
größer die militärischen Erfolge der YPG, desto nervöser aber wurden
die Türken. Die Vorstellung, Syriens Kurden würden das gesamte Hunderte
Kilometer lange Grenzgebiet zur Türkei unter ihre Kontrolle bringen und
dort ein autonomes Gebiet errichten, scheint türkischen Nationalisten
als unerträglicher Alptraum. Denn, sie würden, so die Furcht Ankaras,
dem Selbstbestimmungs-Streben der eigenen unterdrückten kurdischen
Minderheit und damit auch der PKK Auftrieb geben.
In offensichtlicher Panik entschloss sich der türkische Präsident
Erdogan deshalb im August 2016 zu einer offenen militärischen
Intervention mit Panzerkolonnen in Nord-Syrien, der er den Namen
„Schutzschild Euphrat“ gab. Es ging – und geht immer noch - darum
„Rojava den Todesstoß zu versetzen, die Kurden in ihre ursprünglichen
Kantone zurückzudrängen und entscheidend zu schwächen. In dieser
nachträglich von den USA, YPGs engstem Verbündeten gegen den IS,
gebilligten Aktion scheuten die Türken auch nicht davor zurück, die
gegen den IS kämpfenden Kurden von hinten zu attackieren.
Wiewohl sich auch Russland der militärischen Hilfe der Kurden
bedient hatte, gab es türkischem Drängen nach und lud die PYD nicht zu
den für nächste Woche geplanten Friedensgesprächen im kasachischen
Astana ein. Washingtons zögernde Forderung, diese wichtigsten Kämpfer
gegen den IS in Syrien doch nicht von Plänen über die Zukunft des Landes
auszuschließen, begegnete Ankaras Außenminister Cavusoglu mit der
erstaunlichen Bemerkung, wenn PYD, dann müssten die USA auch den IS an
den Verhandlungstisch bitten. Ankara macht schon lange kein Hehl daraus,
dass es PYD und YPG für noch gefährlicher hält als den IS. Die Türken
setzen die PYD vollends gleich mit der PKK, die die USA und die EU als
Terrororganisation einstufen.
Vor die Wahl zwischen dem NATO-Verbündeten Türkei oder Syriens
Kurdische Minderheit gestellt, von der viele Kämpfer ihr Leben im Krieg
gegen den IS gaben, für wen wird sich der neue US-Präsident
entscheiden? Waren alle Opfer der YPG vergeblich? Im Schussbereich des
vor seiner Haustür stehenden Erzfeindes Türkei – entartet für Syriens
Kurden auch der Traum von Rojava zu einer Fata Morgana? Schon hat auch
Diktator Assad, dem nun – zumindest kurzfristig die politische Zukunft
gesichert erscheint – klargemacht, dass das jahrelange militärische
Stillhalteabkommen mit den Kurden ein Ende finden müsse. Ganz Syrien
solle wieder voll unter seine Kontrolle gezwungen werden.
Kurden – die ewigen Verlierer?
Erdogans Panik vor kurdischem Streben nach Selbstbestimmung hat
aber auch die Minderheit in der Türkei mit voller Wucht erfasst. Die
Explosion der Emotionen – pro- und anti-kurdische gleichermaßen - , die
die Türkei derzeit erlebt, ist die Folge gravierender ungelöster
Probleme, die der Staat jahrzehntelang unter den Tisch zu kehren
verstand und zugleich, insbesondere unter der Führung Erdogans der
internationalen Gemeinschaft vorgaugelte, dass es ja gar kein
Kurdenproblem gäbe bzw., dass er, Erdogan, den Kurden im eigenen Land
durch „Liberalisierungen“ weitgehend entgegengekommen sei. Nichts davon
entspricht der Wahrheit. Als es erstmals einer pro-kurdischen Partei,der
HDP („Demokratischen Partei des Volkes“) bei Parlamentswahlen im Juni
2015 gelang, die Zehn-Prozent-Hürde ins Parlament zu nehmen, zwang sie
damit das politische Establishment, sich ernsthaft politisch mit der bis
heute ungelösten Frage der Grundrechte der vielleicht 15 Millionen
Kurden in der Türkei auseinander zu setzen. Sie Unfähigkeit des Staates
zu echter Reform stellte sich sehr rasch heraus. Wie rasch es Erdogan
dann gelang, kurdophobische Gefühle, gemischt mit religiösem Fanatismus
in der türkischen Bevölkerung neu zu beleben, um seine eigene
politische Position zu stärken, zeigt deutlich, mit welchen gravierenden
demokratischen Mängeln die Türkei bis heute zu kämpfen hat. Die lange
Geschichte türkischer Intoleranz gegenüber ethnischen und religiösen
Gruppen ist immer noch nicht abgeschlossen. Die Kurden sind die letzte
ethnische Gruppe in der türkischen Republik, die die türkische Identität
nicht als ihre primäre akzeptiert haben, wie es der Republikgründer
Atatürk diktierte. So nützt Erdogan nun dieses ungelöste Problem, in dem
Glauben, dass er sich damit die erstrebte absolute Herrschaft am besten
sichern kann, d.h. mit Krieg gegen die Kurden. Gerade jetzt zeigt sich
ja auch im Westen, wie sehr die Politik Grundängste der Menschen und
Intoleranz gegenüber ethnischen Gruppen für ihre Interessen manipulieren
kann.
In der Türkei aber birgt diese Tendenz die enorme Gefahr von
ungeheuerlichen Brutalitäten. Erste Anzeichen lassen sich bereits
erkennen. Konfrontiert mit wachsendem Terror im eigenen Land – durch den
IS, den er lange unterstützt hatte und dem es dadurch gelang, ein Netz
von geheimen Zellen in der Türkei zu flechten – Terror aber auch durch
die Splittergruppe der PKK, die „Freiheitsfalken Kurdistans“ (TAK) – und
Panik angesichts der internationalen – insbesondere amerikanischen –
Beachtung, die die syrisch-kurdische PYD gewann, führt Erdogan nun also
nicht nur Krieg gegen die Kurden auf syrischem Territorium, sondern
zunehmend auch innerhalb seines eigenen Landes. Von der durch das Grauen
des Syrien-Krieges in Atem gehaltenen internationalen Öffentlichkeit
kaum beachtet, richtete die türkische Armee zwischen September 2015 und
Frühjahr 2016 „durch exzessive Gewalt“ – ich zitiere nun die angesehene
„Human Rights Watch“ – in dichtbesiedelten, mehrheitlich von Kurden
bewohnten Städten Südostanatoliens in einer Kampagne zur Niederschlagung
der PKK und ihrer Jugendorganisationen unfassbare Zerstörungen an. Die
wenigen Bilder, die damals an die Öffentlichkeit drangen – unabhängigen
Journalisten wurde der Zugang verwehrt – gleichen Fotos, die wir aus
Syrien kennen.
Freilich hatten Jugendorganisationen der PKK, zutiefst frustriert
darüber, dass die jahrzehntelangen Bemühungen um Anerkennung kurdischer
Grundrechte sich als vergeblich erwiesen, den Staat provoziert. Sie
wollten die Autonomie kurdischer Gebiete erzwingen, indem sie durch
Barrikaden den staatlichen Sicherheitskräften den Zugang zu den Städten
verwehrten. Dennoch: die Reaktion des Militärs war laut Human Rights
Watch „exzessiv“, vor allem auch, da es sich um von Zivilisten
dichtbesiedelte Gebiete handelte. Wie groß die Zahl der Toten dieser
wochenlangen Operationen war, ist unklar. Doch nachdem sie die
Barrikaden durchbrochen hatten, begannen die Sicherheitskräfte mit
massiven Zerstörungen ganzer Stadtteile und Vertreibungen der
Zivilbevölkerung. 400.000 Menschen wurden nach Schätzungen verjagt. Die
Vertreibung von Menschen, die Zerstörung von Siedlungen, von Tausenden
Dörfern ist seit langem eine der wichtigsten Methoden des türkischen
Staates, die Identität der Kurden und ihren Wunsch nach Selbstbestimmung
zu brechen. Ein lokaler Reporter der pro-kurdischen ‚“Dicle“
Nachrichtenagentur sprach aus, was viele empfinden: „Als Kurde haben wir
kein Recht in diesem Land zu leben.“ Und der Westen, so meinen viele,
sah und sieht einfach zu.
Insgesamt sieht die Bilanz der von den USA angeführter
Anti-Terror-Kampagne gegen den IS nach drei Jahren für die wichtigsten
Verbündeten des Westens, die Kurden, verheerend aus. Noch ist der IS
militärisch nicht besiegt, noch leistet er in Mosul, der größten Stadt
unter seiner Kontrolle, erbitterten Widerstand, ebenso in Rakka, seiner
sog. „Hauptstadt“ in Syrien. In beiden Kriegsschauplätzen ist der
Einsatz der kurdischen Kämpfer von entscheidender Bedeutung. Und die
Kurden, sowohl im Irak, als auch in Syrien, haben in diesem Krieg
bereits Tausende bewaffnete Männer und Frauen verloren. Zugleich
versinkt die Region immer stärker im Chaos. Eine Lösung, eine regionale
Neuordnung lässt sich nicht erkennen. Der Westen, allen voran die USA,
tragen dabei ein gerüttelt Maß an Mitschuld. US-Präsident Obama trat vor
acht Jahren mit dem Ziel an, keine Kriege mehr im Nahen Osten zu
führen, sich militärisch aus der Region zurückzuziehen. Er tat dies auch
aus dem blutigen irakischen Chaos, das sein Vorgänger George Bush
angerichtet hatte. Was die Kurden betrifft, folgte Obama aber der
Überzeugung seiner Vorgänger: Unabhängigkeit auch nur für einen Teil
dieses größten Volkes der Welt ohne Staat, etwa im Irak, würde nur zu
neuer, noch schlimmerer Gewalt führen, die den Irak, den Iran, Syrien
und die Türkei mit sich reißen würde. So gelang es schon Bush und dann
Obama, die irakischen Kurden zur Kooperation mit Bagdad in einem
föderalen Staat zu überreden und ihnen zugleich vor allem militärische
Mittel, die sie zur Untermauerung ihres Unabhängigkeitsstrebens
einsetzen könnten, zu verwehren.
Im Schock der großen Geländegewinne des IS in Irak und Syrien 2014
begannen die USA und zunehmend auch andere westliche Staaten, sich
militärisch voll auf die Kurden zu stützen. Sie sollten ihr Leben im
Kampf gegen diese mörderischen Fanatiker aufs Spiel setzen. Und sie
taten es. Doch die ungelöste Grundfrage der Zukunft dieses Volkes
schoben die politischen Führer zur Seite. Vielmehr trachten sie
weiterhin danach, dem Streben der Kurden nach internationaler
Anerkennung ihrer Grundrechte Grenzen zu setzen – eine unethische, aber
auch zutiefst unkluge Position, da sie die Keime neuer Kriege in sich
birgt.
ende
Vortrag vor Pädagogen der „Pädagogischen Hochschule Niederösterreich“, gehalten am 19. Januar 2017
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