Donnerstag, 4. September 2014

„Islamischer Staat“ verschiebt Allianzen

Panische Angst vor den barbarischen Islamisten gibt In der Region dem Grundsatz „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ erneute Bedeutung  
 
von Birgit Cerha
 
Noch lässt sich nicht abschätzen, welchen Einfluss die auf Videos dokumentierte und im Internet verbreitete Barbarei der Terroristen des „Islamischen Staates“ (IS) auf dessen Attraktivität unter einer radikalen Randschichte der islamischen Welt ausübt. Fest steht jedoch, dass der militärische Vormarsch und die damit verbundenen Brutalitäten in der Region, insbesondere unter den arabischen Nachbarn, wie auch im Iran gravierende Ängste auslösen, Ängste, die fundamentale politische Neuorientierungen bewirken könnten. Erste Anzeichen dafür lassen sich bereits erkennen. Damit gewinnen auch die Bemühungen US-Präsident Obamas, eine internationale Allianz zur Vernichtung von IS aufzustellen größere Chance.  Die Beteiligung wichtiger arabischer Staaten, wie insbesondere der sunnitischen Bevölkerungsgruppen ist nach Überzeugung von Terrorexperten von entscheidender Bedeutung, um diesem Kampf, der ein militärischer und zugleich ideologisch-politischer mit starken sozialen Komponenten ist, Glaubwürdigkeit und stärkere Durchschlagskraft zu verleihen.
Ob IS mit seiner so grausig zur Schau getragenen Bestialität einen gravierenden strategischen Fehler begeht, bleibt vorerst nur zu hoffen. In der Anfang Juni von ihm eroberten irakischen Stadt Mosul führten die Extremisten erstmals öffentlich die Steinigung eines jungen des Ehebruchs bezichtigten Mannes durch, zu der sie nach einem Bericht des irakischen Internetportals „Niqash“ intensiv um Zuschauer geworben hatten. Die Nachricht von dem grauenvollen Ereignis hatte sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet und damit vor allem zwei Ziele erreicht: Ablenkung schwerer militärischer Niederlagen, die IS kurz zuvor gegen die von der US-Luftwaffe unterstützten kurdischen Peschmerga, wie auch die irakische Armee einstecken mußte; und Einschüchterung der von ihr kontrollierten Bevölkerung. Das selbe Ziel verfolgte auch die Enthauptung eines Peschmerga, sowie eines libanesischen Soldaten, der in westlichen Medien nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Diese ebenfalls in Videos festgehaltenen und verbreiteten Morde bezweckten vor allem die Demoralisierung der kurdischen Kämpfer, wie der libanesischen Streitkräfte, denn der Aufbau einer weiteren Basis, neben Irak und Syrien nun auch im Libanon, zählt zu den nächsten IS-Zielen. Zudem hat IS nun auch mit der Rekrutierung von Jihadis im Machtvakuum des afghanisch-pakistanischen Grenzgebietes begonnen. Und die Verhaftung eines chinesischen Jihadis durch irakische Sicherheitskräfte lässt erkennen, wie weit IS-Lockrufe bereits in die Welt dringen. Nach Aussagen des chinesischen Sondergesandten für den Mittleren Osten, Wu Sike, dürften derzeit rund hundert chinesische Bürger, überwiegend muslimische Uighuren aus der entlegenen Westprovinz Xinjiang, in den Reihen von IS kämpfen, gemeinsam mit rund 12.000 Jihadis aus etwa 50 Staaten.
Ob der beispiellose Terror von IS kampfbereite junge Moslems abschreckt oder anzieht, weil sie dies als Stärke interpretieren, muss sich erst zeigen.  Weniger fanatisierte Sympathisanten dürften scharf formulierte Fetwas (islamische Rechtsgutachten) gegen IS, wie etwa jenes der höchsten sunnitischen Autorität, der „Al-Azhar“ in Kairo oder führender saudischer Theologen, die IS als „Erzfeind des Islam“   brandmarken, beeinflussen. Sie könnten eine theologische Diskussion auslösen, die mittelfristig die Glaubwürdigkeit von IS untergraben würde. Doch den führenden IS-Kämpfern im Irak und in Syrien geht es darum, ihre Machtansprüche durch Missbrauch der Religion durchzusetzen. Je mehr ihnen das gelingt, desto größer werden die Existenzängste insbesondere der arabischen Ölmonarchen am Persischen Golf.  Denn, so mahnt der politische Analyst Ayed al-Manaa in Kuwait: „IS als Ideologie gibt es nicht nur im Irak und in Syrien, sie ist auch bei uns (in den Golfstaaten) präsent und wartet nur auf die Gelegenheit, sich zu offenbaren. Wir leben in höchster Gefahr.“ Auch der saudische König Abdullah warnt: „Wenn wir sie (IS) ignoriere, dann bin ich sicher, dass sie in einem Monat Europa und in einem weiteren Amerika erreichen werden.“
Westliche Führer werfen insbesondere Saudi-Arabien, Katar und Kuwait vor, die Augen vor der jahrelangen finanziellen Unterstützung radikaler sunnitischer Islamisten durch reiche Bürger ihrer Staaten zu verschließen. Die sechs Staaten des Golfkooperationsrates begruben nun in Panik ihre schweren internen Zwiste (wegen der entschlossenen Unterstützung Katars für die Moslembruderschaft in Ägypten und Syrien), um geschlossen gegen diesen zunehmend als existentielle Gefahr gewerteten IS gemeinsam unter US-Führung zu agieren. Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) drängen auf Bildung einer internationalen Koalition gegen den Terror in der Region, deren Strategie nicht in Irak und Syrien enden dürfe, sondern dem ‚“gesamten Terrorphänomen von Libyen bis zum Yemen“ zu Leibe rücken müsse. Dabei beginnen sich zunehmend festgefahrene Fronten aufzuweichen. Eine Annäherung zwischen den Erzrivalen um die Vorherrschaft in der Region, wie in der gesamten islamischen Welt – Iran und Saudi-Arabien – erscheint zunehmend wahrscheinlich, während erstmals der Iran und die USA im Irak auf einer Seite kämpften. Einheiten der iranischen Quds-Brigaden, von Washington jahrzehntelang als eine der gefährlichsten Terrororganisation eingestuft, trugen in der Vorwoche, unterstützt durch US-Luftangriffe, entscheidend zur Befreiung der von IS eingeschlossenen irakischen Stadt Armeli bei – vielleicht der deutlichste Beweis, wie stark die Bedrohung durch IS die Einschätzung von „Freund und Feind“ plötzlich verändert.
 
 

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