Sonntag, 6. Juli 2014

Der „Kalif“ demonstriert Selbstbewusstsein

Terrorexperten rätseln über die wahre Stärke der ISIS – Droht ein tödlicher Krieg mit Al-Kaida?
 
von Birgit Cerha

 
Eingehüllt in eine schwarze Robe, mit einem schwarzen Turban auf dem Kopf, vollzog der selbsternannte Führer des sich von Syrien in den West- und Nord-Irak erstreckenden „Islamischen Staates“ am Wochenende einen aufsehenerregenden öffentlichen Auftritt. Seit Jahren selbst für seine engsten Mitstreiter unsichtbar, sprach Abu Bakr al-Baghdadi in auffallend gemäßigtem Ton in einer Moschee in der von seinen ISIS-Kämpfern am 10 Juni eroberten irakischen Stadt Mosul zu der dort versammelten Menge. In der über Video im Internet verbreiteten Botschaft bekräftigte er seine Position als selbsternannter „Kalif Ibrahim“ und drängte Glaubensbrüder weltweit zum Jihad (heiligen Krieg). Zugleich gab er sich in krassem Widerspruch zu den Terrortaktiken seiner Jihadis auffallend demütig: „Ich bin nicht besser als ihr. .. Wenn ich im Irrtum bin, dann beratet mich und führt mich auf den richtigen Weg.“
Um dem Schicksal der drei getöteten Führer der „Al-Kaida im Irak“, der Vorgängerin von ISIS, zu entgehen, hatte sich Al-Baghdadi niemals in der Öffentlichkeit gezeigt. Die USA haben auf diesen von ihnen nach Al-Kaida-Chef Ayman al-Zawaheri als gefährlichsten Terroristen eingestuften Iraker ein Kopfgeld von zehn Mio. Dollar gesetzt. Dennoch wirkte der „Kalif“ in diesem ersten Auftritt auffallend ruhig und selbstbewusst. Seine Botschaft richtete sich an Gesinnungsgenossen, Facharbeiter, Ärzte, Ingenieure etc. weltweit, in seinen „Islamischen Staat“ zu immigrieren, an Kämpfer rivalisierender Jihadi-Gruppen in Syrien, Irak und anderswo, sich ISIS anzuschließen, aber auch an die arabisch-sunnitische Bevölkerung des Iraks, ihn – und nicht die irakische Regierung – als den politischen Führer anzuerkennen.
Terrorexperten meinen, sollte sich die Echtheit der Videoaufnahmen bestätigen und Al-Baghdadi tatsächlich aus seinem langjährigen Versteck aufgetaucht sein, dürfte diese neue Zuversicht aus der Überzeugung entspringen, dass ihm gelang, was nicht einmal Osama bin Laden und schon gar nicht dessen Nachfolger Zawaheri schaffte : sich in einem von ihm kontrollierten Territorium zum Führer zu erheben. Genährt wird diese Zuversicht durch einen stetig wachsenden Geldfluss, so etwa die jüngste Eroberung eines Ölfeldes am Rande des irakischen Kirkuk, sowie der wichtigen Öl- und Gasfelder im Osten Syriens. Der Verkauf von Rohöl u.a. auch an das verhasste Assad-Regime und Empfänger in der Türkei ist heute ISIS‘ wichtigste Einkommensquelle, die die Finanzmittel der Al-Kaida weit übersteigt.
Dennoch meinen Experten, Al-Baghdadi könnte mit seiner Zuversicht, der auch die Ausrufung des „Kalifats“ entsprang, weit über das Ziel hinausgeschossen haben. Über ISIS‘ wahre Stärke herrscht weitgehend Unklarheit. Dennoch lassen Berichte insbesondere aus Mosul auf gravierende Probleme schließen.  Die Eroberung von Territorium dürfte sich als weit einfacher erweisen, als deren längerfristige Kontrolle. Viele ISIS-Kämpfer haben bald nach dem Einzug in Mosul die Stadt wieder in Richtung Südfront verlassen. Mosuls arabisch-sunnitische Allianz  hatte anfänglich die Ausrufung des „Islamischen Staates“ begrüßt. Unterdessen aber hegen viele Sunniten angesichts der Terrorherrschaft der Jihadis, der Massenmorde, sowie der Zerstörung alter sufistischer Heiligtümer und schiitischer Moscheen ernste Zweifel. Ein Sprecher der „Allianz“  kündigte die baldige Ernennung eines Führers von Mosul aus seinen Reihen an. „Es gibt hier kein Kalifat“ – eine Ansicht, die auch einflußreiche Stammesführer teilen. Die Stämme seien bereits muslimisch und würden nicht zulassen, dass irgendjemand sie im Namen des Islams beherrsche. „Dieses Projekt hat bei uns keine Zukunft“, betont Zaydan al-Jabiri, führendes Mitglied des „Revolutionsrates der irakischen Stämme“. Vorerst aber hält die brüchige Koalition arabisch-sunnitischer Gruppen mit ISIS, um den Druck  gegen die Zentralregierung nicht abzuschwächen. Je länger sich Maliki aber an die Macht klammert, desto stärker kann ISIS ihre Position in der Region aufbauen.
Das brennendste Problem erscheint jedoch derzeit gar nicht die Frage des weiteren Vormarsches von ISIS Richtung Bagdad, sondern ein eskalierender Konflikt mit ihrem ideologischen Rivalen Al-Kaida, der kaum, so meinen Terrorexperten, ruhig zusehen werde, wie diese noch radikalere Jihadi-Organisation durch ihren erfolgreichen Krieg und ihre Finanzkraft eine junge Generation von Extremisten anzieht und die langjährige Speerspitze des Jihad zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Wird Zawaheri seine führende Position durch einen großangelegten Terrorakt zu verteidigen suchen?
 
ende

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