Terrorexperten rätseln über die wahre Stärke der ISIS – Droht ein tödlicher Krieg mit Al-Kaida?
von Birgit Cerha
Eingehüllt in eine schwarze Robe, mit einem schwarzen Turban auf
dem Kopf, vollzog der selbsternannte Führer des sich von Syrien in den
West- und Nord-Irak erstreckenden „Islamischen Staates“ am Wochenende
einen aufsehenerregenden öffentlichen Auftritt. Seit Jahren selbst für
seine engsten Mitstreiter unsichtbar, sprach Abu Bakr al-Baghdadi in
auffallend gemäßigtem Ton in einer Moschee in der von seinen
ISIS-Kämpfern am 10 Juni eroberten irakischen Stadt Mosul zu der dort
versammelten Menge. In der über Video im Internet verbreiteten Botschaft
bekräftigte er seine Position als selbsternannter „Kalif Ibrahim“ und
drängte Glaubensbrüder weltweit zum Jihad (heiligen Krieg). Zugleich gab
er sich in krassem Widerspruch zu den Terrortaktiken seiner Jihadis
auffallend demütig: „Ich bin nicht besser als ihr. .. Wenn ich im Irrtum
bin, dann beratet mich und führt mich auf den richtigen Weg.“
Um dem Schicksal der drei getöteten Führer der „Al-Kaida im Irak“,
der Vorgängerin von ISIS, zu entgehen, hatte sich Al-Baghdadi niemals in
der Öffentlichkeit gezeigt. Die USA haben auf diesen von ihnen nach
Al-Kaida-Chef Ayman al-Zawaheri als gefährlichsten Terroristen
eingestuften Iraker ein Kopfgeld von zehn Mio. Dollar gesetzt. Dennoch
wirkte der „Kalif“ in diesem ersten Auftritt auffallend ruhig und
selbstbewusst. Seine Botschaft richtete sich an Gesinnungsgenossen,
Facharbeiter, Ärzte, Ingenieure etc. weltweit, in seinen „Islamischen
Staat“ zu immigrieren, an Kämpfer rivalisierender Jihadi-Gruppen in
Syrien, Irak und anderswo, sich ISIS anzuschließen, aber auch an die
arabisch-sunnitische Bevölkerung des Iraks, ihn – und nicht die
irakische Regierung – als den politischen Führer anzuerkennen.
Terrorexperten meinen, sollte sich die Echtheit der Videoaufnahmen
bestätigen und Al-Baghdadi tatsächlich aus seinem langjährigen Versteck
aufgetaucht sein, dürfte diese neue Zuversicht aus der Überzeugung
entspringen, dass ihm gelang, was nicht einmal Osama bin Laden und schon
gar nicht dessen Nachfolger Zawaheri schaffte : sich in einem von ihm
kontrollierten Territorium zum Führer zu erheben. Genährt wird diese
Zuversicht durch einen stetig wachsenden Geldfluss, so etwa die jüngste
Eroberung eines Ölfeldes am Rande des irakischen Kirkuk, sowie der
wichtigen Öl- und Gasfelder im Osten Syriens. Der Verkauf von Rohöl u.a.
auch an das verhasste Assad-Regime und Empfänger in der Türkei ist
heute ISIS‘ wichtigste Einkommensquelle, die die Finanzmittel der
Al-Kaida weit übersteigt.
Dennoch meinen Experten, Al-Baghdadi könnte mit seiner Zuversicht,
der auch die Ausrufung des „Kalifats“ entsprang, weit über das Ziel
hinausgeschossen haben. Über ISIS‘ wahre Stärke herrscht weitgehend
Unklarheit. Dennoch lassen Berichte insbesondere aus Mosul auf
gravierende Probleme schließen. Die Eroberung von Territorium dürfte
sich als weit einfacher erweisen, als deren längerfristige Kontrolle.
Viele ISIS-Kämpfer haben bald nach dem Einzug in Mosul die Stadt wieder
in Richtung Südfront verlassen. Mosuls arabisch-sunnitische Allianz
hatte anfänglich die Ausrufung des „Islamischen Staates“ begrüßt.
Unterdessen aber hegen viele Sunniten angesichts der Terrorherrschaft
der Jihadis, der Massenmorde, sowie der Zerstörung alter sufistischer
Heiligtümer und schiitischer Moscheen ernste Zweifel. Ein Sprecher der
„Allianz“ kündigte die baldige Ernennung eines Führers von Mosul aus
seinen Reihen an. „Es gibt hier kein Kalifat“ – eine Ansicht, die auch
einflußreiche Stammesführer teilen. Die Stämme seien bereits muslimisch
und würden nicht zulassen, dass irgendjemand sie im Namen des Islams
beherrsche. „Dieses Projekt hat bei uns keine Zukunft“, betont Zaydan
al-Jabiri, führendes Mitglied des „Revolutionsrates der irakischen
Stämme“. Vorerst aber hält die brüchige Koalition arabisch-sunnitischer
Gruppen mit ISIS, um den Druck gegen die Zentralregierung nicht
abzuschwächen. Je länger sich Maliki aber an die Macht klammert, desto
stärker kann ISIS ihre Position in der Region aufbauen.
Das brennendste Problem erscheint jedoch derzeit gar nicht die
Frage des weiteren Vormarsches von ISIS Richtung Bagdad, sondern ein
eskalierender Konflikt mit ihrem ideologischen Rivalen Al-Kaida, der
kaum, so meinen Terrorexperten, ruhig zusehen werde, wie diese noch
radikalere Jihadi-Organisation durch ihren erfolgreichen Krieg und ihre
Finanzkraft eine junge Generation von Extremisten anzieht und die
langjährige Speerspitze des Jihad zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Wird
Zawaheri seine führende Position durch einen großangelegten Terrorakt
zu verteidigen suchen?
ende
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