Nur der Hass auf Iraks Premier Maliki eint eine breite Front
militanter arabischer Sunniten – Die Brutalitäten der radikalen Jihadis
empört ihre strategischen Partner
von Birgit Cerha
„Das ist eine Revolution der Sunniten.“ Ein junger Kämpfer aus der
sunnitischen Provinz Anbar drängt die britische BBC, doch der Welt
klarzumachen, dass Iraks arabische Sunniten nicht für die Gräueltaten in
Mosul oder anderen von sunnitischen Kämpfern eroberten Gebieten des
Nord-Westiraks verantwortlich sind. „Wir sind keine Terroristen“, betont
der junge Mann in einem Gespräch im nordirakischen Kurdistan, wo er
sich mit Gesinnungsgenossen auf die große Schlacht um Bagdad
vorbereitet. Die jungen Kämpfer treibt der Hass auf Premier Maliki, doch
zugleich auch tiefe Animosität gegen die Extremistenorganisation ISIS
(Islamischer Staat des Iraks und Syriens), die jeden Sieg gegen die
Regierungsstreitkräfte für sich in Anspruch nimmt und unter Gegnern, wie
Zivilisten mit ungeheurer Brutalität wütet. „ISIS hat uns die
Revolution gestohlen“, und die Welt müsse dies begreifen. „unser Kampf
gegen ISIS ist nur aufgeschoben.“
Tatsächlich gehen die rasanten militärischen Eroberungen weiter
arabisch-sunnitischer Gebiete des Iraks, die ISIS für sich in Anspruch
nimmt, keineswegs nur auf das Konto einer relativ kleinen, doch sehr
schlagkräftigen Gruppe radikaler Fanatiker. Die tiefe Frustration und
Verzweiflung angesichts der gravierenden Diskriminierungen und
Repressionen durch die vom Schiiten Maliki geführte Regierung in Bagdad
hat eine breite Front arabischer Sunniten in eine Zweckallianz mit den
kampferprobten Jihadis der ISIS getrieben, die zudem dank jüngster
Eroberungen im syrischen Kriegsgebiet, wo sie weiterhin wichtige
Stützpunkte unterhalten, über ein großes Waffenarsenal verfügen. Laut
irakischen Quellen haben sunnitische Gruppen, die nicht der ISIS
angehören, eine wichtige Rolle bei den jüngsten Kämpfen gespielt und
diese sogar in einigen Regionen, darunter Mosul und die Provinz Kirkuk,
beherrscht.
Eine Koalition von fast 80 sunnitischen Stämmen, sowie 41
bewaffneten Gruppen bilden die Front mit ISIS. Zu ihnen zählen
salafistische Fraktionen wie die „Armee der Mudschahedin“ und die „Ansar
al Sunna“, gemäßigtere islamische Organisationen wie die „Irakische
Hamas“ oder die „Islamische Armee“. Die neben ISIS wahrscheinlich
stärkste Gruppe ist der zu Jahresbeginn gegründete „Allgemeine
militärische Rat für irakische Revolutionäre“ (AMRIR), dem sunnitische
Stammesführer, ehemalige Führer des Sunniten-Aufstands (2005-07) in der
Zeit der US-Okkupation angehören, vor allem aber ehemalige Offiziere der
von den USA 2003 aufgelösten Armee, sowie Politiker des gestürzten
Diktators Saddam Hussein angehören. Geführt wird AMRIR von einstigen
Generälen Saddams und der ehemalige Stellvertreter des Diktators Izzat
Ibrahim al-Douri, der einzige der führenden Politiker jener Zeit, der
bis heute einer Verhaftung entgehen konnte, dürfte in AMRIR eine
zentrale Rolle spielen. Sie gehören der 2007 gegründeten „Armee des
Naqschbandi Ordens“, einem mystischen Sufi-Orden des Islams an, der
tiefe Wurzeln in der sunnitischen Gesellschaft des Iraks hat. Die
„Naqshbandi-Armee“ besteht im Kern insbesondere aus Anhängern Saddam
Husseins und der panarabischen Baath-Partei. Zu ihnen sollen auch gut
getarnten, augenscheinlich gemäßigte Politiker und angesehene
Würdenträger zählen, die sich während der US-Besatzung nur scheinbar zur
Demokratie bekannt haben sollen. AMRIR dürfte wohl vor allem wegen
Naqschbandis starkem Rückhalt unter den Sunniten längerfristig die
stärkste Kraft in dieser Front sein. Deshalb auch hatten die USA bereits
2009 den „Naqschbandi Orden“ als gefährlicher eingestuft als „Al-Kaida
im Irak“, aus der ISIS gewachsen ist.
ISIS, die sunnitischen Stämme, Geistlichen und die Politiker
kämpfen gemeinsam für ein Ende der Kontrolle sunnitischer Städte und
Regionen durch die Zentralregierung, gegen deren diskriminierende
Politik sie ein Jahr lang ohne Erfolg protestiert hatten. Doch darüber
hinaus verfolgen sie krass unterschiedliche Ziele. ISIS zeigt kein
Interesse für national-irakische Anliegen, sondern will mit brutalsten
Methoden, die einen Krieg zwischen Schiiten, deren Schutzmacht Iran und
Sunniten auslösen sollen, schließlich einen islamischen Staaten auf dem
Boden des Iraks und Syriens und später darüber hinaus gründen. Unter
keinen Umständen wird sie einer politischen Lösung zustimmen, die die
gegenwärtigen Grenzen des Iraks erhält oder lokalen politischen Parteien
die Kontrolle sunnitischer Gebiete überlassen. Einige radikale
salafistische Fraktionen stimmen den Zielen von ISIS zu, würden sich
jedoch mit einer Lösung zufrieden geben, die sich nicht auf syrisches
Territorium erstreckt, vielleicht einem unabhängigen sunnitischen Staat
im West-Irak. Gemäßigtere Islamisten wie die „Irakische Hamas“ streben
nach einer autonomen sunnitischen Provinz nach dem Vorbild des
nord-irakischen Kurdistan. Andere, darunter einige sunnitische
Politiker und Stammesführer lehnen sunnitische Selbstverwaltung ab und
würden sich mit politischem Wandel in Bagdad begnügen, wenn die neuen
Führer die Identität der sunnitischen Regionen garantieren. Die
Baathisten und der Naqschbandi-Orden lehnen jede Form islamistischer
Regierung entschieden ab und streben nach Restauration der Herrschaft
der Baath. Sie sind davon überzeugt, dass der Irak heute vom Iran
beherrscht wird und deshalb das Regime gestürzt und eine neue Ordnung
errichtet werden müsse.
Politische Kräfte mit derart unterschiedlichen Zielen werden sich
niemals auf eine Endlösung einigen können. Tatsächlich kam es bereits
jetzt zu ersten gewaltsamen Zusammenstößen innerhalb dieser Front. So
berichten Kurden von Kämpfen zwischen ISIS und sunnitischen
Stammesangehörigen in der Provinz Kirkuk, nachdem die radikalen Jihadis
einige populäre Stammesführer ermorden wollten. In der Stadt Hawija, in
der Provinz Kirkuk kamen bei Gefechten zwischen ISIS und der “Armee der
Männer des Naqshbandi-Ordens” zahlreiche Menschen ums Leben.
Zwischen den Fronten stehen die Sahwas, die „Söhne des Iraks“. 2005
hat das US-Militär auf dem Höhepunkt des Al-Kaida-Terrors sunnitische
Stammesmitglieder für den Kampf gegen die gewalttätigen Extremisten
angeworben, bezahlt und bewaffnet und damit dem Terror entscheidend
Einhalt geboten. Zeitweise erreichte die Sahwa-Miliz eine Stärke von 100
000 Mann. Sie spielte eine wichtige Rolle bei der militärischen
Stabilisierung des Landes. Maliki hatte versprochen, nach dem Abzug der
US-Truppen die „Söhne des Iraks“ in die Sicherheitskräfte und den
Staatsapparat einzugliedern, hielt sich jedoch nicht an diese Zusage und
schürte auch damit die Unzufriedenheit unter den Sunniten. Nun erwägt
Washington, das Sahwa—System wieder zu beleben. Viele der ehemaligen
„Söhne des Iraks“ stehen unter massivem Druck von ISIS, sich ihnen
anzuschließen, einige haben dies bereits getan, andere wollen mit diesen
Terroristen nicht gemeinsame Sache machen, ebensowenig mit
Sicherheitskräften einer Regierung, die sie so bitter verraten hatte.
Zehntausende haben sich bisher nicht entschieden, doch sie könnten sich
ISIS anschließen, wenn vom Iran unterstützte schiitische Milizen sich,
wie zu erwarten, mit voller Kraft in den Krieg einschalten. Viele
Sunniten in Bagdad und andere Regionen fürchten, schiitische Milizen
könnten sich an ihnen für die Gräueltaten, die ISIS insbesondere an
Schiiten verübt, in ebenso brutaler Weise rächen. Nur eine radikale
politische Veränderung, vor allem ohne gewaltsame Interventionen von
außen, kann dem Irak den Ausbruch eines neuen, wohl noch grausameren
Bürgerkrieg ersparen.
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