Nach der Stürmung des Parlaments durch einen abtrünnigen General
droht ein offener Krieg zwischen dem schwachen Staat und den
dominierenden Milizen
von Birgit Cerha
[Bild: General Khalifa Haftar]
Ist es der Beginn eines Putsches, der Auftakt eines Bürgerkrieges?
In jedem Fall erlebte Libyen in den vergangenen drei Tagen die blutigste
Gewalt seit der von der NATO unterstützten Rebellion gegen Diktator
Gadafi 2011. Mehr als 70 Menschen starben in Benghazi, der „Wiege“ des
gewaltsamen Aufstandes im Osten, als der abtrünnige General Khalifa
Haftar mit seiner paramilitärischen Einheit, genannt „Nationale Armee“,
unterstützt von Helikoptern und Kampfflugzeugen Positionen der mit
Al-Kaida verbündeten „Ansar Sharia“ attackierte. Sonntag hielten mit
Haftar verbündete , schwerbewaffnete Einheiten auch die Hauptstadt
Tripolis in Atem, als sie das Parlamentsgebäude stürmten, den
Abgeordneten die Legitimität absprachen und die Übergabe der Macht an
ein jüngst gewähltes 60-köpfiges Gremium verlangten, das eine neue
Verfassung erarbeiten soll.
Während die Übergangsführung in Tripolis die Forderungen empört
zurückwies und der Chef der regulären Streitkräfte islamistische Milizen
zur Verteidigung der Hauptstadt zu Hilfe rief, bekräftigte Haftar seine
Entschlossenheit, den Kampf so lange fortzusetzen, bis Benghazi „von
Terrorgruppen gesäubert“ sei und Libyen eine effiziente Führung erhalte.
Er beschuldigt den von Islamisten dominierten „Nationalen
Übergangskongress“, dessen Amtszeit im Februar abgelaufen ist,
islamistische Extremisten bedrohlich zu stärken. Sie wollten nicht
zulassen, dass sich das Land weiter zu einer „Brutstätte des Terrors“
entwickle“, betont der mit Haftar verbündete General Mokhtrar Farnana.
Haftars Einheiten rüsten sich nun zum weiteren Kampf in den beiden
traditionellen Machtzentren Libyens – Benghazi und Tripolis, einen
Krieg, der das ganze Land mit sich reißen könnte. „Wenn wir scheitern,
gewinnen die Terroristen“, begründet Haftar seinen Kampfesmut, bei dem
es ihm keineswegs darum ginge, persönlich die Macht an sich zu reißen.
General Haftar ist längst kein Unbekannter. Einst Gadafis
Heereschef, sagte er sich während des blutigen libyschen Krieges im
Tschad in den 1980er Jahren vom Diktator los und versuchte mit Hilfe des
US-Geheimdienstes CIA eine im Tschad und in Südlibyen stationierte
oppositionelle Miliz aufzubauen. 1991 vom Tschad zum Verlassen des
Landes gezwungen, fand Haftar in den USA Zuflucht und setzte von dort
aus seine Zusammenarbeit mit dem CIA fort. 2011 schloss er sich den
Rebellen gegen Gadafi in Libyen an und sollte mit US-Hilfe zum Aufbau
einer neuen libyschen Streitkraft beitragen. Doch nach kurzer Zeit wurde
ihm diese Aufgabe entzogen, vermutlich wegen seiner Nähe zum
US-Geheimdienst. Washington dürfte Haftars neue Aktion nicht
überraschen. In der Vorwoche wurden 200 US-Marines zur Beobachtung der
Lage in Libyen auf Sizilien stationiert.
Über Haftars Rückhalt in Libyen herrscht allerdings vorerst
Unklarheit. Zweifellos teilen weite Kreise die Unzufriedenheit über die
Schwäche der Zentralregierung, das wachsende Chaos in einem von
zahllosen Milizen kontrollierten Land, sowie die Exzesse islamistischer
Terroristen und Krimineller. Teile der Streitkräfte sind offensichtlich
mit Helikoptern und Kampfflugzeugen zum Rebellen-General übergelaufen,
zudem dürfte er auch von ostlibyschen Milizen, zahlreichen Stämmen und
ehemaligen mit der Zentralregierung unzufriedenen Rebellen gegen Gadafi,
die Unterstützung erhalten. Doch Analysten befürchten, dass seine
Aktion das Land noch tiefer ins Chaos reißen werde.
Zweieinhalb Jahre nach dem Sturz Gadafis bleiben die Grundprobleme
des Wüstenstaates ungelöst. Libyen ist de facto unregierbar, ohne
handlungsfähige Regierung, ohne Staatsoberhaupt, ohne Verfassung, ohne
effizienten staatlichen Sicherheitskräften. Der Staat kann sein
Gewaltmonopol nicht einmal im Ansatz durchsetzen, da er die insgesamt
1.700 bewaffnete Gruppen, die nach dem Zusammenbruch der Diktatur in das
Machtvakuum vorstießen und inzwischen längst auch von Kriminellen
unterwandert sind, nicht unter seine Kontrolle zu bringen vermag. Ganz
im Gegenteil, er braucht sie zu seinem eigenen Schutz. Auch die Bürger
suchen angesichts der staatlichen Schwäche Schutz bei den Milizen in
ihren jeweiligen Herrschaftsbereichen und kurbeln damit den Teufelskreis
des Machtzerfalls und der damit einhergehenden Gewalt immer mehr an.
Die mit zahllosen Privilegien ausgestatteten Milizen führen sich laut
„International Cirsis Group“ auf wie „Polizisten, Richter und
Gefangenenwärter“, halten nach Schätzungen rund 800 Menschen in ihrer
Gewalt und sind so schwer bewaffnet, dass es unmöglich ist, gegen sie
vorzugehen. Mindestens sieben Richter und Staatsanwälte, die dies
versucht hatten, mussten dafür sterben. Die Täter wurden nie verfolgt
und damit nehmen Gewalt und Willkür zur. Ihre Herrschaftsgebiete sind zu
rechtsfreien Räumen geworden, einige Milizen halten auch die Öl- und
Gasfelder besetzt, fordern Autonomie der ölreichen Ostregion. Diese
Aktivitäten trugen dazu bei, dass Libyens Ölproduktion von 1,4 Mio.
Barrel im Tag auf derzeit nur 200.000 gesunken ist.
Libyen mit seinen 6,5 Millionen Einwohnern ist nach Schätzungen
überflutet mit 15 Millionen Gewehren und vielen anderen Waffen und
bietet sich allerlei gewalttätigen Extremisten als Sprungbrett an, um in
mehr als einem Dutzend anderen Ländern – wie Somalia, die
Zentralafrikanische Republik, Nigeria, Niger, aber auch Syrien mit Hilfe
Katars – Chaos zu schaffen.
Dabei – Ironie der Geschichte – hatte Gadafi selbst den Boden für
dieses Chaos in der Zeit nach ihm bereitet. Aus Angst vor einem
Militärputsch gegen seine autokratische Herrschaft hatte er über die
Jahre die regulären Streitkräfte dramatisch geschwächt und als parallele
militärische Kraft „Volksmilizen“ aufgebaut, Bevölkerungsgruppen, die
er gewieft zur eigenen Machterhaltung gegeneinander ausgespielt hatte,
bewaffnet. Viele der heute mächtigen Milizen sind unter keinen Umständen
bereit, ihre Waffen und damit auch ihre Privilegien einer Zentralmacht
abzuliefern, während zugleich die Basis zum Aufbau einer schlagkräftigen
nationalen Streitkräft fehlt, die einer zivilen Zentralregierung den
nötigen Rückhalt zur Herstellung der nationalen Stabilität verschaffen
könnte.
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