Montag, 19. Mai 2014

Libyen: Ein Land am Abgrund

Nach der Stürmung des Parlaments durch einen abtrünnigen General droht ein offener Krieg zwischen dem schwachen Staat und den dominierenden Milizen
 
von Birgit Cerha
 
[Bild: General Khalifa Haftar]
 
Ist es der Beginn eines Putsches, der Auftakt eines Bürgerkrieges? In jedem Fall erlebte Libyen in den vergangenen drei Tagen die blutigste Gewalt seit der von der NATO unterstützten Rebellion gegen Diktator Gadafi 2011. Mehr als 70 Menschen starben in Benghazi, der „Wiege“ des gewaltsamen Aufstandes im Osten, als der abtrünnige General Khalifa Haftar mit seiner paramilitärischen Einheit, genannt „Nationale Armee“, unterstützt von Helikoptern und Kampfflugzeugen  Positionen der mit Al-Kaida verbündeten „Ansar Sharia“ attackierte. Sonntag hielten mit Haftar verbündete , schwerbewaffnete Einheiten auch die Hauptstadt Tripolis in Atem, als sie das Parlamentsgebäude stürmten, den Abgeordneten die Legitimität absprachen und die Übergabe der Macht an ein jüngst gewähltes 60-köpfiges Gremium verlangten, das eine neue Verfassung erarbeiten soll.  
Während die Übergangsführung in Tripolis die Forderungen empört zurückwies und der Chef der regulären Streitkräfte islamistische Milizen zur Verteidigung der Hauptstadt zu Hilfe rief, bekräftigte Haftar seine Entschlossenheit, den Kampf  so lange fortzusetzen, bis Benghazi  „von Terrorgruppen gesäubert“ sei und Libyen eine effiziente Führung erhalte. Er beschuldigt den von Islamisten dominierten „Nationalen Übergangskongress“, dessen Amtszeit im Februar abgelaufen ist, islamistische Extremisten bedrohlich zu stärken. Sie wollten nicht zulassen, dass sich das Land weiter zu einer „Brutstätte des Terrors“ entwickle“, betont der mit Haftar verbündete General Mokhtrar Farnana.  Haftars Einheiten rüsten sich nun zum weiteren Kampf in den beiden traditionellen Machtzentren Libyens – Benghazi und Tripolis, einen Krieg, der das ganze Land mit sich reißen könnte. „Wenn wir scheitern, gewinnen die Terroristen“, begründet Haftar seinen Kampfesmut, bei dem es ihm keineswegs darum ginge, persönlich die Macht an sich zu reißen.
General Haftar ist längst kein Unbekannter. Einst Gadafis Heereschef, sagte er sich während des blutigen libyschen Krieges im Tschad in den 1980er Jahren vom Diktator los und versuchte mit Hilfe des US-Geheimdienstes CIA eine im Tschad und in Südlibyen stationierte oppositionelle Miliz aufzubauen. 1991 vom Tschad zum Verlassen des Landes gezwungen, fand Haftar in den USA Zuflucht und setzte von dort aus seine Zusammenarbeit mit dem CIA fort.  2011 schloss er sich den Rebellen gegen Gadafi in Libyen an und sollte mit US-Hilfe zum Aufbau einer neuen libyschen Streitkraft beitragen. Doch nach kurzer Zeit wurde ihm diese Aufgabe entzogen, vermutlich wegen seiner Nähe zum US-Geheimdienst. Washington dürfte Haftars neue Aktion nicht überraschen. In der Vorwoche wurden 200 US-Marines zur Beobachtung der Lage in Libyen auf Sizilien stationiert.
Über Haftars Rückhalt in Libyen herrscht allerdings vorerst Unklarheit. Zweifellos teilen weite Kreise die Unzufriedenheit über die Schwäche der Zentralregierung, das wachsende Chaos in einem von zahllosen Milizen kontrollierten Land, sowie die Exzesse islamistischer Terroristen und Krimineller. Teile der Streitkräfte sind offensichtlich mit Helikoptern und Kampfflugzeugen zum Rebellen-General übergelaufen, zudem dürfte er auch von ostlibyschen Milizen, zahlreichen Stämmen und ehemaligen mit der Zentralregierung unzufriedenen Rebellen gegen Gadafi, die  Unterstützung erhalten. Doch Analysten befürchten, dass seine Aktion das Land noch tiefer ins Chaos reißen werde.
Zweieinhalb Jahre nach dem Sturz Gadafis bleiben die Grundprobleme des Wüstenstaates ungelöst. Libyen ist de facto unregierbar, ohne handlungsfähige Regierung, ohne Staatsoberhaupt, ohne Verfassung, ohne effizienten staatlichen Sicherheitskräften.  Der Staat kann sein Gewaltmonopol nicht einmal im Ansatz durchsetzen, da er die insgesamt 1.700 bewaffnete Gruppen, die nach dem Zusammenbruch der Diktatur in das Machtvakuum vorstießen und inzwischen längst auch von Kriminellen unterwandert sind, nicht unter seine Kontrolle zu bringen vermag. Ganz im Gegenteil, er braucht sie zu seinem eigenen Schutz. Auch die Bürger suchen angesichts der staatlichen Schwäche Schutz bei den Milizen in ihren jeweiligen Herrschaftsbereichen und kurbeln damit den Teufelskreis des Machtzerfalls und der damit einhergehenden Gewalt immer mehr an. Die mit zahllosen Privilegien ausgestatteten Milizen führen sich laut „International Cirsis Group“  auf wie „Polizisten, Richter und Gefangenenwärter“, halten nach Schätzungen rund 800 Menschen in ihrer Gewalt und sind so schwer bewaffnet, dass es unmöglich ist, gegen sie vorzugehen. Mindestens sieben Richter und Staatsanwälte, die dies versucht hatten, mussten dafür sterben. Die Täter wurden nie verfolgt und damit nehmen Gewalt und Willkür zur. Ihre Herrschaftsgebiete sind zu rechtsfreien Räumen geworden, einige Milizen halten auch die Öl- und Gasfelder besetzt, fordern Autonomie der ölreichen Ostregion. Diese Aktivitäten trugen dazu bei, dass Libyens Ölproduktion von 1,4 Mio. Barrel im Tag auf derzeit nur 200.000 gesunken ist.
Libyen mit seinen 6,5 Millionen Einwohnern ist nach Schätzungen überflutet mit 15 Millionen Gewehren und vielen anderen Waffen und bietet sich allerlei gewalttätigen Extremisten als Sprungbrett an, um in mehr als einem Dutzend anderen Ländern – wie Somalia, die Zentralafrikanische Republik, Nigeria, Niger, aber auch Syrien mit Hilfe Katars – Chaos zu schaffen.
Dabei – Ironie der Geschichte – hatte Gadafi selbst den Boden für dieses Chaos in der Zeit nach ihm bereitet. Aus Angst vor einem Militärputsch gegen seine autokratische Herrschaft hatte er über die Jahre die regulären Streitkräfte dramatisch geschwächt und als parallele militärische Kraft „Volksmilizen“ aufgebaut, Bevölkerungsgruppen, die er gewieft zur eigenen Machterhaltung gegeneinander ausgespielt hatte,  bewaffnet. Viele der heute mächtigen Milizen sind unter keinen Umständen bereit, ihre Waffen und damit auch ihre Privilegien einer Zentralmacht abzuliefern, während zugleich die Basis zum Aufbau einer schlagkräftigen nationalen Streitkräft fehlt, die einer zivilen Zentralregierung den nötigen Rückhalt zur Herstellung der nationalen Stabilität verschaffen könnte.

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