Mit einem mehrheitlichen „Ja“ erzielt Präsident Mursi einen „Pyrrussieg“ – Dem Land drohen neue Konfrontationen
von Birgit Cerha
Ägyptens Moslembrüder haben noch jede Wahl seit dem Sturz
Präsident Mubaraks vor fast zwei Jahren gewonnen. Das mehrheitliche „Ja“ zu dem
von ihnen und Präsident Mursi propagierten, hochumstrittenen Verfassungsentwurf beim
Referendum am 15. und 22. Dezember überrascht deshalb nicht. Nach dem bisher
offiziell noch nicht bestätigten Ergebnis stimmten vergangenen Samstag bei der
Abstimmung in überwiegend von Islamisten dominierten ländlichen Regionen 71
Prozent für den Verfassungsentwurf, der nach Überzeugung der Opposition Ägypten
den Weg zu einem theokratischen Staat ebnet, und nur 29 Prozent votierten mit
„Nein“. Die beiden Wahlrunden erbringen damit ein Gesamtergebnis von etwa 64 Prozent „Ja“ und 33 Prozent „Nein“-Stimmen
und Mursi und seine Moslembruderschaft feiern einen Triumph.
In Wahrheit aber zerstreut dieses Ergebnis keinerlei Zweifel
an der Legitimität der ersten Verfassung für ein demokratisches Ägypten. Denn
die Wahlbeteiligung lag bei nur 33 Prozent so niedrig, dass de-facto nur 21
Prozent aller wahlberechtigten Ägypter das neue Grundgesetz billigten – ein
„Pyrrussieg“ für Mursi, der die tiefe Spaltung der ägyptischen Gesellschaft
krass wie nie zu Tage fördert. Da viele hochmobilisierte Anhänger der
Moslembruderschaft ihr „Ja“ für ein Dokument gaben, dessen Inhalt sie gar nicht
kennen oder verstehen, gilt dieses Votum wohl vor allem dem Präsidenten, für
den sie keine Alternative sehen. Andere stimmten für die Verfassung, weil sie ,
tief ermüdet und frustriert durch die zweijährigen, teils blutigen Turbulenzen,
sich von Mursis Argumenten überzeugen ließen, dass Ägypten nun den Weg zu
„Recht und Ordnung“, endlich zu Stabilität und der heißersehnten
wirtschaftlichen Erholung finden werde. Ein „Nein“ würde die Ära der
konfliktgeladenen Orientierungslosigkeit mit all den gravierenden sozialen
Konsequenzen drastisch verlängern.
Die Opposition, die
die Verfassung als „Verrat an ihrer Revolution“ gegen Mubarak sieht, da
sie weder Menschenrechte, noch Meinungsfreiheit und schon gar nicht den Schutz
der koptischen Minderheit garantiert, bemängelt „gravierende
Unregelmäßigkeiten“, über die Ägyptens Justiz zu entscheiden habe. So wurden an
manchen Orten Kopten an der Stimmenabgabe gehindert, Wahllokale an Orten, in
denen Verfassungsgegner die Mehrheit bilden,
verspätet geöffnet oder frühzeitig geschlossen und in einigen koptischen
Regionen hielten radikale Fundamentalisten zur Einschüchterung von Wählern
Demonstrationen ab.
Die „Nationale Rettungsfront“ (NRF), der jüngst unter
Leitung von Friedensnobelpreisträger Mohammed el Baradei neugegründete
Dachverband der Opposition, hatte schon vor Beginn des Referendums
klargestellt, dass er selbst bei einem „ja“-Votum die Verfassung anfechten
werde, weil sie von der von Islamisten dominierten Verfassungsbildenden
Versammlung ohne Konsens dem Land aufoktroyiert wurde. Die niedrige
Wahlbeteiligung , die zugleich eine Niederlage der Opposition bedeutet, die für
ein „Nein“ geworben hatte, verstärkt aber deren Argument der Illegitimität der
Verfassung,
Ägypten stehen nun mehrere Optionen offen. Radikalere
Gruppen der Opposition sind zur Fortsetzung ihrer weitgehend friedlichen
Proteste gegen Mursi und die Verfassung entschlossen. Für die bisher durch ihre
Desorganisation und Zerstrittenheit den Moslembrüdern hoffnungslos unterlegene
Opposition bieten sich nun aber neue Möglichkeiten. Der Streit um die
Verfassung hat diverse Gruppen geeint, wie nie zuvor – diesmal gegen die
Islamisten, für die einige der Revolutionäre gegen Mubarak lange Sympathie als
vom Regime jahrzehntelang verfolgte Mitstreiter empfunden hatten. Solche
Gefühle starben mit zunehmender Repression gegen Demonstranten durch den neuen
Herrscher. Unter Führung Baradeis und des ehemaligen Chefs der Arabischen Liga,
Amr Moussa, hat die NRF begonnen, sich als Kristallisationspunkt jener Hälfte Ägyptens
herauszubilden, die eine freiheitliche, demokratische und tolerante
Gesellschaftsordnung ersehnt. Doch sie haben viel aufzuholen, um die
Mobilisierungsfähigkeiten ihrer Gegner zu erreichen. Die Zeit ist kurz, denn
schon Ende Februar sollen die Ägypter ein neues Parlament wählen. Mursis Image
erscheint durch seine wiederholt dokumentierte Selbstherrlichkeit angekratzt.
Durch eine kluge, besonnene Strategie bietet sich deshalb der Opposition durchaus
eine Chance genügend Vertrauen zu gewinnen, um eine starke Kraft im neuen
Parlament zu bilden, damit jene die Demokratie gefährdenden Verfassungsartikel
zumindest zu blockieren und den Präsidenten zu einem echten Konsens zu zwingen.
Die Alternative ist ein langer, blutiger
Konflikt mit unabsehbaren sozialen Folgen für einen großen Teil der bitterarmen
Bevölkerung.
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