Freitag, 30. November 2012

Ägyptens Islamisten peitschen Verfassung durch

Versammlung billigt Entwurf, der den Weg zu einem „Gottesstaat“ ebnet und eine tiefe Kluft im Land aufreißt
von Birgit Cerha
Hinter einer eilig errichteten Betonmauer zum Schutz vor zornigen Demonstranten billigten die Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung in einer eilig einberufenen Marathonsitzung in der Nacht auf Freitag den Entwurf einer neuen Verfassung. Die Mauer symbolisiert eine dramatische Verhärtung der Fronten in der um die Gestaltung ihrer Zukunft ringenden ägyptischen Bevölkerung.
Die Abstimmung über einen von Liberalen, säkularen Nationalisten, Angehörigen der religiösen Minderheiten energisch abgelehnten Verfassungsentwurf kam völlig überraschend, hatte Präsident Mursi doch noch in seinem weithin Empörung ausgelösten „pharaonischen“ Verfassungsdekret vom 22. November der in die Sackgasse geratenen Versammlung zwei Monate mehr Zeit für die Erarbeitung eines Kompromiss-Entwurfs eingeräumt. Doch nun verzichtete der Präsident völlig auf den für eine stabile, friedliche Zukunft des Landes entscheidenden nationalen Konsens und ließ auch ohne die  in Protest wegen des starken islamistischen Charakters des Entwurfs aus der Versammlung ausgeschiedenen Nicht-Islamisten abstimmen, schnell, bevor der Verfassungsgerichtshof am Sonntag über die Auflösung der Versammlung entscheidet.
Für heute, Samstag, riefen die Moslembrüder zu einer Massenkundgebung in Unterstützung des Verfassungsentwurfes auf, während die Gegner die ganze kommende Woche protestieren wollen und die Richter streiken. Mursi riskiert damit eine blutige Auseinandersetzung in den Straßen. Demokraten, wie Friedensnobelpreisträger Mohammed Baradei, lehnen den Verfassungsentwurf energisch als ein Dokument ab, das den Weg zu einer neuen Diktatur, diesmal auf islamistischer Basis, ebnet. Es sei eine „miserable Verfassung“, die im „Mistkübel der Geschichte“ landen werde, wettert Baradei. „Ich bin besonders traurig, weil sie unter Umständen einer totalen Spaltung der ägyptischen Gesellschaft zustande kam.“
Ägyptische und internationale Kritiker wie Human Rights Watch bemängeln vor allem die in dem Entwurf vorgesehene Einschränkung der Grundfreiheiten. So heißt es in dem ersten Artikel, dass Ägypten zur „arabischen und islamischen“ Gemeinschaft gehöre. Die mehr als  acht Millionen Menschen umfassende koptische Minderheit interpretiert dies als Ausgrenzung. Der umstrittenste Paragraph betont, dass „die Prinzipien des islamischen Rechts“  den Leitsatz für die ägyptische Gesetzgebung darstellen. Damit wurde die Formulierung der Verfassung aus der Mubarak-Ära übernommen. Die Salafisten, die andere Rechtsgrundlagen noch deutlicher ausschließen wollten, konnten sich nicht durchsetzen, wohl aber erreichten sie an zahlreichen anderen Stellen des Entwurfs Bezüge zum islamischen Recht. Liberale fürchten dass Islamisten  damit einen großen Freiraum zur Interpretation erhielten. Ein Beispiel dafür ist die Klausel, die dem Staat die Verantwortung zur „Sicherstellung öffentlicher Moral oder Kontrolle über die „öffentliche Kultur“ zuschreibt. Die Sorge über drastische Einschränkung der Meinungsfreiheit wird noch durch einen neuen Artikel verstärkt, der Strafe für Beleidigung des Mohammeds und anderer Propheten vorsieht. Vor allem aber enthält der Entwurf auch keinen Schutz für die Gleichberechtigung der Frauen und der religiösen Minderheiten.  Frauen, so heißt es, müßten ein Gleichgewicht herstellen zwischen ihren Verpflichtungen gegenüber der Familie und Arbeit außerhalb ihres Heims.
Was die angesichts des jüngsten Verfassungsdekrets, in dem Mursi sich und seine Entscheidungen vorübergehend für unantastbar erklärte, empörte Justiz noch weiter verärgert, ist eine de-facto Entmachtung des Verfassungsgerichtes, das nicht länger in Zweifelsfragen des islamischen Rechts angerufen werden soll. Hingegen soll künftig der „Rat der ältesten Azhar-Gelehrten (der höchsten religiösen Instanz)“konsultiert werden. Kritiker befürchten, dass dies den Weg Ägyptens zu einem „Gottesstaat“ ebenen würde.
Zwar sieht der Entwurf eine Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten auf zwei Vierjahres-Perioden vor, gestattet jedoch weiterhin die Aburteilung von Zivilisten durch Militärgerichte – eine Praxis, unter der – traurige Ironie der Geschichte – gerade die Islamisten in den vergangenen Jahrzehnten zu leiden hatten.Binnen zwei Wochen will Mursi den Entwurf nun dem Volk präsentieren. Da seine Moslembrüder weit besser organisiert sind als die – radikalere islamistische und die säkulare – Opposition, ist ein positives Votum durchaus möglich. Dann soll das Volk ein neues Parlament wählen.

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