Mit wachsendem blutigem Chaos in Syrien steigen die Chancen für das Al-Kaida Terrornetzwerk auf diesem strategisch so wichtigen Boden einen neuen „Hafen“ zu errichten
von Birgit Cerha
Der Kampf um die Macht in Syrien nimmt immer grauenvollere Ausmaße an und dabei häufen sich die Hinweise darauf, dass auch Assads Gegner zunehmend Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben. So kursieren Berichte, dass Kämpfer der „Freien syrischen Armee“ (FSA) in Zentralsyrien einen zivilen Bus mit Rekruten der regulären Streitkräfte gestoppt und die verängstigten Insassen vor die Wahl gestellt hätten, entweder ihre Eltern zu einer Spende von umgerechnet etwa 9000 Euro an die FSA zu überreden, oder sich selbst den Rebellen anzuschließen. In dem Dorf Rableh hatten Kämpfer der FSA die überwiegend christliche Bevölkerung von 12.000 Menschen als Schutzschilder festgehalten, obwohl die Armee das Dorf bereits aufgegeben hatte. Zudem häufen sich Meldungen, dass Zivilisten von FSA-Kämpfern willkürlich festgenommen, gefoltert und massenweise exekutiert würden.
Die Brutalität eskaliert mit zunehmender Bewaffnung der Opposition. Mehr und mehr mischen sich in die Kreise der Rebellen radikale Gruppen, die die hemmungslosen Methoden und – zumindest teilweise – auch die Ideologie extremer Islamisten vom Schlage des Al-Kaida-Netzwerkes übernehmen. Schon taucht die alarmierende Frage auf, ob Al-Kaida die Gunst ihres Schicksals nützt, um Syrien zum neuen Schlachtfeld im Kampf um ein Welt-Kalifat zu verwandeln.
Beängstigende Parallelen zum Irak drängen sich auf. Wie einst im Zweistromland Saddam Husseins, hatte das Terrornetzwerk in der säkularen syrischen Diktatur keine Basis, wiewohl Assad die Grenzen für den Einmarsch der Jihadis aus anderen arabischen Ländern in den Irak lange offen gehalten hatte. Im blutigen Chaos nach dem von den USA initiierten gewaltsamen Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein 2003 aber bot sich den Al-Kaida Terroristen die Chance, im Irak den Erzfeind USA mit dem Ziel der Errichtung eines islamischen Reiches zu bekämpfen. Die Gewalttäter fanden Unterstützung bei den ob ihres Machtverlustes frustrierten sunnitischen Stämmen des Iraks, bis auch diese die ungeheuerlichen Brutalitäten gegen zahllose unschuldige Zivilisten, verbunden mit finanziellen Lockungen in die Kooperation mit den USA trieb. Von den vernichtenden Schlägen, die Washington durch einen verstärkten Militäreinsatz und die Hilfe sunnitischer Stammeskrieger dem Terrornetzwerk zufügte, konnte sich die Al-Kaida bis heute nicht erholen.
Syriens, seit Jahrzehnten weitgehend von der Macht ausgeschlossene sunnitische Bevölkerungsmehrheit ist zwar ähnlich frustriert, wie ihre irakischen Glaubensbrüder, doch radikal-islamistischem Gedankengut, wie es Al-Kaida verbreitet, kaum aufgeschlossen. So wartete Al-Kaida Chef Zawaheri zehn Monate der syrischen Rebellion ab, bis er im Januar erstmals seine Anhänger zur Unterstützung der sunnitischen Opposition gegen den „ungläubigen“ alawitischen Assad aufrief. Seither dringen kampferprobte Jihadisten aus dem Irak, aus Saudi-Arabien über die Türkei und aus Libyen in wachsenden Zahlen nach Syrien ein. Viele fassen zunächst auch im Libanon, im sunnitischen Grenzgebiet zu Syrien und in den Lagern der (sunnitischen) Palästinaflüchtlinge Fuß und Unterstützung für den Krieg auf syrischem Territorium. Zugleich wächst auch die Zahl syrischer Jihadigruppen. Einige von ihnen, wie die jüngst in Aleppo an die Öffentlichkeit getretene „Jabhat al-Nusra“ (al-Nusra Front zum Schutz der Menschen in der Levante“), wenden zwar die Methoden der Al-Kaida an, doch versuchen sich energisch von dem Terrornetz zu distanzieren. Ebenso will die FSA nach eigenen Aussagen nichts mit Al-Kaida zu tun haben. Dennoch besteht kein Zweifel, dass diese erfahrenen Krieger der militanten Opposition in ihrem ungleichen Kampf gegen die Übermacht der staatlichen Streitkräfte hoch willkommen sind.
Nach ‚Einschätzung von Experten haben die Entschlossenheit, Disziplin, Kampferfahrung und der religiöse Eifer der Jihadis die militante syrische Opposition in den vergangenen Monaten wesentlich gestärkt. Sie haben zugleich aber auch das Regime zu immer größeren Brutalitäten insbesondere gegen Sunniten provoziert. Somit dreht sich der Teufelskreis immer schneller. Denn mit wachsender Gewalt gewinnt der Anspruch der Al-Kaida, sich zur Schutztruppe der bedrängten syrischen Sunniten zu erheben, an Attraktivität. Und damit wächst die Chance des Terrornetzwerkes, auf syrischem Boden eine neue Basis aufzubauen, von der aus al-Kaida alle nationalen Grenzen durchstoßen und ein die gesamte Region – auch die derzeit Assads Gegner tatkräftig unterstützenden Golfstaaten – in ein Kalifat zwingen will. Ob Al-Kaida tatsächlich in Syrien eine Chance gewinnt, hängt jedoch entscheidend davon ab, ob sie bei den vom Assad-Regime stets vernachlässigten sunnitischen Stämmen in den Grenzregionen zum Irak und zu Jordanien Unterschlupf und Kooperation finden. Der anhaltende Horror ist Al-Kaidas größte Hoffnung.
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