In einer Stimmung der Verwirrung wähle4n die3 Ägypter zum ersten Mal frei ihre Präsidenten und zugleich einen Weg in eine unklare Zukunft mit gigantischen Problemen von Birgit Cerha
„Die Szene erinnert an ein Fußballmatch, in dem die beiden Teams (die Islamisten und die „Feloul“ –„die Überbleibsel des gestürzten Regimes“) um Unterstützung eines dritten Teams, (die Revolutionäre) werben, die vom Spiel disqualifiziert wurden.“ So beschreibt die angesehene ägyptische „Al-Ahram“ die auf Hochtouren laufende Kampagne für die ersten freien Präsidentschaftswahlen in Ägypten am 23. Und 24. Mail. Die Wahlen bilden den Höhepunkt eines chaotischen Übergangsprozesses von 60 Jahren Diktatur in eine ungewisse Ära der Demokratie. Die Hohe Wahlkommission hat die seit dem Sturz Präsident Mubaraks im Februar 2011 herrschende Verwirrung und tiefe Unsicherheit über die Zukunft des Landes noch durch den abrupten Ausschluß einer Reihe führender Kandidaten unter fadenscheinigen „technischen“ Vorwänden wesentlich gesteigert. In Wahrheit ging es dem regierenden Militärrat darum, radikalen Politikern – Islamisten, wie auch Anhängern des alten Regimes – den Aufstieg zur Macht im neuen Ägypten zu verwehren. Somit läßt sich eine sichere Wahlprognose wagen: Der erste Präsident der „Zweiten Republik“ Ägypten wird kein Radikaler sein. Fast ebenso sicher ist, dass keiner der zwölf Kandidaten am 24. Mail als klarer Sieger hervorgehen wird. Erst eine Stichwahl am 16. Und 17. Juni wird die Entscheidung bringen. Die Ägypter sind nach mehr als einem Jahr anhaltender Proteste gegen den politisch überforderten Militärrat frustriert, erschöpft und von wachsender Sorge um ihre ökonomische Lebensbasis gequält. Sie sind politisch und ideologisch tief gespalten. Die erste Fernsehdiskussion von zwei Spitzenkandidaten für das Amt des Staatschefs, die die arabische Welt je erlebte, heizte zwar die Wahleuphorie zumindest in manchen Bevölkerungskreisen auf. Doch sie zeigte zugleich deutlich, wo tiefe Bruchlinien die Gesellschaft spalten: Soll sich Ägypten künftig von zeitlosen islamischen Lehren leiten lassen oder von Regeln, die sich an immer wieder verändernde Forderungen des Volkes orientieren? Die Diskussion zwischen zwei der vier Spitzenkandidaten – dem liberalen Islamisten Abdel Monein Abul Futuh und dem überzeugten Säkularisten Amr Moussa, langjähriger Außenminister unter Mubarak und anschließend Chef der Arabischen Liga - brachte keine Antwort. In Meinungsumfragen liegt der 75-jährige Mussa nicht zuletzt dank seines hohen Bekanntheitsgrades vorne. Seine politische Erfahrung und intimen Kenntnisse des politischen Systems machen ihn für zum Garanten für Stabilität. An zweiter und dritter Stelle liegen der aus der Moslembruderschaft ausgeschiedene Futuh, sowie Mubaraks letzter Premier und ehemaliger Luftwaffenkommandant Ahmed Shafik, wohl Favorit der Militärs. Doch Meinungsumfragen haben in Ägypten keine Tradition, ihr Verläßlichkeitsgrad ist ungewiss. Am schwersten einzuschätzen sind die Chancen von Mohammed Mursi, dem Kandidaten der Partei der Moslembrüder „Freiheit und Gerechtigkeit“, der stärksten politischen Kraft im Parlament. Dem in Kalifornien ausgebildeten Ingenieur, die zweite Wahl der „Brüder“ nachdem ihr Vorzugskandidat Khairat al-Shater disqualifiziert worden war, fehlt das Charisma für einen sicheren Sieg. Doch im Gegensatz zu den anderen Kandidaten kann er sich auf den hervorragenden Organisationsapparat der Moslembrüder stützen, die bei den jüngsten Parlamentswahlen 46 Prozent der Stimmen errungen hatten. Doch auch die radikaleren Salafisten verfügen über ein dichtes Netz an engagierten Anhängern. Sie sind jedoch gespalten. Die stärkste Gruppierung, die „Nour-Partei“, wirbt für Futuh, der einst zu den Gründungsmitgliedern der „Gamaa al Islamiya“ gezählt hatte, die durch ihren Terror gegen Touristen in den 90er Jahren das Land in Panik versetzt hatte. Hat sich Futuh tatsächlich gemäßigt? Beweist die Unterstützung durch „Nour“ nicht das Gegenteil? Zweifel daran könnten ihm Stimmen unter den jungen Revolutionären, säkularen Liberalen und auch Kopten kosten, die er so intensiv umwirbt. Wem immer die Ägypter ihr Vertrauen schenken, der neue Präsident wird gigantische politische Herausforderungen zu meistern haben. Vor dem Hintergrund einer katastrophalen ökonomischen Krise und schockierenden Verarmung der Bevölkerung gilt es rasch heikle Verfassungsfragen zu lösen. Das von Islamisten dominierte Parlament will die Macht des Präsidenten beschneiden, doch eine neue Verfassung wurde, entgegen der Übergangspläne, bis heute nicht erarbeitet. Vor allem aber geht es um die künftige Rolle der Streitkräfte, die sich bis Ende Juni aus der Politik zurückziehen wollen. Doch ihre Fangarme reichen in alle Ecken des Staates und der Wirtschaft. Und was geschieht mit dem bisher unangetasteten geheimen Netz des allmächtigen Sicherheitsapparates? Der wirklich gefährliche Machtkampf am Nil wird erst beginnen.Samstag, 19. Mai 2012
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