Kann der neue Präsident den immer noch dominierenden Einfluss seines von der Macht gejagten Vorgängers abschütteln?
von Birgit Cerha
Im Jemen beginnt – so scheint es – eine neue Ära. Das Armenhaus der arabischen Welt schaffte es als viertes Land des „arabischen Frühlings“, seinen jahrzehntelangen Herrscher von der Macht zu jagen – und das mit vergleichsweise geringen Todesopfern. Doch der Schein trügt. Das beweist auch die anhaltende Präsenz junger Demokratie-Aktivisten, die sich auf dem „Platz der Veränderung“, auf dem sie im Herzen der Hauptstadt Sanaa mehr als ein Jahr lang gewaltlose Massenproteste zum Sturz von Diktator Ali Abdallah Saleh organisiert hatten, auf neue Sitzstreiks eingerichtet haben. Denn die jungen, freiheitshungrigen Aktivisten fühlen sich um ihre Revolution beraubt. „Man hat dieser Revolution den Dolch in den Rücken gestoßen“, klagt Khaled al-Anesi, einer der führenden. Ähnlich wie in Ägypten oder in Tunesien, ringen auch im Jemen die jungen Demokratie-Aktivisten um ihre Rolle in der von der Diktatur befreiten Gesellschaft, die ihnen auch im Jemen islamistische Kräfte streitig machen, während sie selbst, politisch unerfahren, zerstritten, uneinig und schlecht organisiert, zunehmend ihre Stimme zu verlieren drohen.
Ihr erstes Ziel haben die Aktivisten erreicht: den Sturz Salehs. Doch vorerst hat selbst diese mühselig erreichte Entwicklung nur formalen Charakter. Saleh, im Volksmund seit langem der „Schlangenbeschwörer“ genannt, ist ein Meister der Manipulation und Überlebenskunst. Wiewohl die Jemeniten vor einer Woche – in einem demokratisch zweifelhaften Urnengang – ohne Gegenkandidat einen neuen Präsidenten wählten, sind sie de facto bisher ihren Diktator immer noch nicht los geworden. Nach wochenlangem Krankenhausaufenthalt in Saudi-Arabien, wo er schwere ihm in einem Anschlag zugefügte Wunden behandeln ließ, kehrte Saleh ebenso wieder heim, wie Ende der Vorwoche nach medizinischer Behandlung in den USA. Demonstrativ stand er Samstag an der Seite Abd Rabbu Mansour Hadi, als dieser, Salehs langjähriger Stellvertreter und Verteidigungsminister, als neugewählter Präsident seinen Amtseid ablegte. Kann sich der farblose, selbst vielen Jemeniten unbekannte neue Herrscher aus dem Schatten seines langjährigen Bosses lösen und damit den Jemen aus Bürgerkrieg, Chaos und Korruption retten?
Hadis größte Stärke in den Augen vieler Jemeniten, ist die Tatsache, dass er nicht Saleh, der wegen gigantischer Korruption, Nepotismus und Machtgier weithin verhasste Herrscher seit 33 Jahren ist. Doch die Zentren der Macht und der Wirtschaft des Landes werden unverändert von der Familie des gestürzten Diktators kontrolliert. Der von den Golfstaaten unter US-Druck ausgearbeitete und mit der legalen, parlamentarischen Opposition vereinbarte Übergangspakt, der Saleh nach seinem Abtritt Immunität insbesondere wegen des gewaltsamen Todes unzähliger friedlicher Demonstranten zusichert, sieht nicht ausdrücklich vor, dass der Ex-Präsident das Land verlassen muss. Bleibt er im Land, so könnte das Land von erneuten Unruhen gequält werden, während er durch das mächtige Netzwerk seiner Verbündeten und Familienmitglieder weiterhin de facto herrschen könnte.
Massiv unter Druck von innen und außen erklärte Saleh Montag, er werde nach Äthiopien ins Exil gehen nachdem ihn arabische Länder der Region offenbar nicht Unterschlupf gewähren wollen. Doch ob er dieses Versprechen wahrmacht, ist angesichts seines Verhaltens des vergangenen Jahres noch keineswegs sicher.
Laut Übergangsabkommen wird Hadi zwei Jahre an der Macht bleiben und in dieser Zeit dem Land eine neue Verfassung bescheren. Er muss sich vor allem aber dramatischen Herausforderungen stellen: bittere Armut, gravierende Unterernährung, Sezessionsbestrebungen des Südens, Rebellion der schiitischen Zaiditen-Minderheit im Norden und der von den USA unterstützteKampf gegen die sich ausbreitenden Al-Kaida-Zentren im Land. Eine zentrale Voraussetzung für die Herstellung der Stabilität in diesem am Rand des Abgrunds dahinvegetierenden Land ist Einheit und Solidarität der Streitkräfte. Die Armee ist heute aber tief gespalten, Kommandanten besitzen weit größere Macht als der neue Präsident, da sich jede Division wie eine unabhängige Miliz verhält, nur ihrem Kommandanten gegenüber loyal. Zudem kontrollieren Salehs Sohn, Neffe und Halbbruder Eliteeinheiten, Sicherheitskräfte, Luftwaffe und die von den USA finanzierte Anti-Terror-Einheit. Die jugendlichen Aktivisten auf Sanaas „Platz der Veränderung“ sind davon überzeugt, dass die Demokratie im Jemen nur dann eine Chance hat, wenn die Streitkräfte von Salehs Einfluß gesäubert und zu neuer Einheit geführt werden. Sie wollen auf dem Platz ausharren, bis dieses Ziel erreicht ist.
Dienstag, 28. Februar 2012
Jemens geraubte Revolution
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