Eine schwache, innerlich zerstrittene Koalition beginnt ihren Überlebenskampf – Dem Aufbau eines neuen Staates stehen gigantische Hindernisse im Weg
von Birgit Cerha
Auch im Tod bereitet Libyans Diktator seinen Gegnern beträchtliche Nöte. Was soll mit seiner schwer misshandelten Leiche geschehen? Freitag entschied der Nationale Übergangsrat (NTC), die de-facto-Regierung, mit islamischer Tradition zu brechen und Gadafi nicht sofort zu begraben. Die genauen Umstände des Todes müssen noch abgeklärt werden. Amnesty International und die UN-Menschenrechtskommission fordern eine volle Untersuchung, um, wenn nötig, jene, die ihn erschossen haben vor Gericht zu bringen. "Willkürliche Hinrichtungen sind strikt illegal. Es ist eine andere Sache, wenn jemand im Kampf getötet wird“, erklärte Freitag der Sprecher der UN-Menschenrechtskommission Rupert Colville. Und er bezog sich auf Telefon-Videoaufnahmen, die Gadfai zuerst verletzt, doch noch lebendig und später inmitten jubelnder Rebellen tot zeigten. Diese Bilder seien „äußerst irritierend“.
Der NTC gab zunächst den Plan auf, Gadafi an einem geheimen Platz zu begraben, um das Entstehen einer Pilgerstätte für seine Anhänger zu vermeiden. Laut TV-Sender „Al Arabiya“ begannen Mitglieder von Gadafis „Gaddadfa-Stamm“ Verhandlungen mit NTC-Kämpfern um Herausgabe der Leiche. Wenn der Stamm den toten Diktator als Mitglied anerkennt, soll er für das Begräbnis an einem geheimen Ort sorgen.
Die widersprüchlichen Berichte über das chaotische Ende des Tyrannen, die damit verbundenen Grausamkeiten und das Verhalten führender NTC-Verantwortlicher verheißen nichts Gutes für Libyens zweite revolutionäre Phase, die schwierigste, die nun beginnt: den Aufbau staatlicher und ökonomischer Strukturen von Null. Innerhalb von einer Stunde nach ersten Berichten über Gadafis Gefangennahme oder Tod bereitete sich NTC-Führer Mustafa Abdul-Jalil für eine Pressekonferenz vor, während zwei seiner Kollegen, Informationsminister Mahmoud Shammam und Militärkommandant Abdulhjakim Belhadsch in einem offensichtlichen Versuch Jalil das Rampenlicht zu stehlen und seine Position zu untergraben, bereits die Presse informierten
Die rivalisierenden Gruppen des NTC haben nun mit Gadafis Tod den Kitt verloren, der diese Institution zusammenhält, um Libyen in eine neue Zukunft zu führen. Die Führung ist schwach und schon die vergangenen Wochen haben große Unentschlossenheit und Zerstrittenheit entlarvt. Nach der Befreiung der Hauptstadt im August sollte der NTC seinen Sitz von Benghazi nach Tripolis zu verlegen. Doch er konnte sich bisher weder dazu entschließen, noch zur Bildung einer Übergangsregierung. Offiziell begründete man dieses Zögern mit dem anhaltenden Kampf gegen Gadafi-Anhänger. Doch sind es mangelnde Durchschlagskraft und Einigkeit. Vor allem dominiert in Tripolis ein mächtiger Militärrat, der sich seine Autorität nicht schmälern lassen will. Und eine Übergangsregierung zu bilden, die alle Kräfte des Landes befriedigt erscheint fast ebenso unmöglich, wie rasch, wie es nötig wäre, all die vielen Männer von Gewalt- und Rachakten abzuhalten, die Waffen in ihren Händen halten. Wenn vor allem aber die Rebellen, die sich in den vergangenen Monaten zum NTC bekannt hatten, einen Kampf gegeneinander beginnen, dann sind die Folgen für das Libyen nach Gadafi dramatisch. In Rebellenreihen wuchs in den vergangenen Wochen der Unmut über Schwäche und Unentschlossenheit der NTC-Führung.
Erschwert wird die Lage durch die immer noch einflußreichen 41 Stammesführer, die zweifellos einen Anteil am Reichtum des Landes – Milliarden von Dollar auf Banken im Ausland und gigantische Ölschätze im Boden – für sich einfordern werden.
Das Fehlen von Kontinuität ist ein weiteres gravierendes Problem. Nach einem NTC-Zeitplan sollen acht Monate nach dem Sieg über das Gadafi-Regime, d.h. ab dem 21. Oktober, die ersten freien Wahlen stattfinden. Sie sollen völlig neue Führer hervorbringen, denn Jibril und die anderen NTC-Mitglieder dürfen laut Übergangsverfassung nicht in der nächsten Regierung sitzen. Jibril, ein in den USA ausgebildeter Ökonom bekräftigte vergangenen Dienstag diesen Plan als er betonte: „Ich werde nicht Teil der nächsten Regierung sein.“ Politischen Analysten erscheinen acht Monate für den Aufbau neuer Führer in einem Land, in dem jeder politische Aktivismus jahrzehntelang brutal unterdrückt wurde, fast ein Ding der Unmöglichkeit. Hinzu kommt die bisher ungeklärte Frage, ob sich die diversen politischen Kräfte, die Araber, die Berber, die Säkularisten, die Islamisten, die Sympathisanten des alten Regimes auf ein gemeinsames Konzept für ein neues Libyen überhaupt einigen können. Der schwerste Teil der Revolution steht den Libyern erst bevor.
Freitag, 21. Oktober 2011
Gadafis Tod öffnet Ära der Ungewissheit in Libyen
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