(Bild: Syrische Flüchtlinge in der Türkei)
Tausende Zivilisten flüchten in die Türkei – Bedrohliche Entwicklung zu einem Bürgerkrieg
von Birgit Cerha
In Syrien verschärft sich die Situation dramatisch. Mindestens 4.300 Menschen, überwiegend aus der seit Tagen von Regierungstruppen belagerten nordwestlichen Stadt Dschisr al Schugur, flüchteten bisher über die nahe Grenze in die Türkei. Manche wandern zu Fuß mit nur ein paar Habseligkeiten, schlüpfen durch Löcher in den einst von den Türken gezogenen Stacheldrahtzaun. Viele von ihnen sind bitterarme Bauern, die keinen Paß besitzen. Doch die Türkei hält die Tore offen und bringt die Flüchtenden in einem notdürftig errichteten Zeltlager unter, jene mit Verletzungen durch Schüsse der syrischen Sicherheitskräfte werden zur Behandlungen in ein Hospital gebracht.
Türkische Journalisten, die die schutzsuchenden Syrer interviewten, geben grauenvolle Geschichten wieder. „Wir demonstrierten und Demokratie zu erbitten“, erzählt Abdullah. „Wir hielten Ölzweige in unseren Händen. Doch man begegnete uns mit scharfer Munition.“ An den Landstraßen errichteten Sicherheitskräfte Kontrollpunkte, um dem Flüchtlingsstrom Einhalt zu gebieten. Männer zwischen 16 und 35 sollen dort häufig festgenommen werden, berichteten ein Augenzeuge.
Unterdessen haben syrischen Truppen begonnen in Dschisr al Schugur einzudringen, nachdem sie umliegende Dörfer unter ihre Kontrolle gebracht und Felder im Umkreis in Flammen gesetzt hatten. Erstmals setzte die Armee auch Hubschrauber ein, platzierte Scharfschützen auf Häuserdächer, um auf die Bevölkerung zu schießen. Das Regime betrachtet Dschisr al-Schugur, deren 60.000 Bewohner mehrheitlich geflüchtet sind, als Hochburg der Aufständischen, nachdem in der Vorwoche 120 Regierungssoldaten durch“ bewaffnete Gruppen“, wie es heißt, in der Stadt getötet wurden. Inzwischen mehren sich jedoch die Berichte, dass die Toten Opfer einer Rebellion innerhalb der Streitkräfte sind. Mehr und mehr Soldaten weigern sich offenbar Schussbefehlen auf unbewaffnete Zivilisten zu folgen und werden von Offizieren ermordet.
In anderen Teilen Syriens kamen Freitag bei Demonstrationen mehr als 30 Menschen ums Leben. „Es wird jeden Tag schlimmer“, klagt ein Aktivist in der Stadt Homs. „Sie wollen, dass wir entweder alle tot sind oder weit weg.“
Das Regime wies Samstag scharfe Kritik aus den USA und der UNO am brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte entschieden zurück und warnte den Weltsicherheitsrat, dass eine von der EU entworfene, Syrien scharf verurteilende Resolution, nur „Extremisten und Terroristen“ ermutigen würde.
Die Situation ist höchst undurchsichtig, da das Regime keine unabhängigen Beobachter zuläßt, die westliche Welt offiziellen Stellungnahmen kaum Glauben schenkt und die Opposition breite Möglichkeiten besitzt, über Facebook, Videos und Mobiltelefone die Meinung im Ausland zu beeinflussen. Verlässliche Informationen gibt es deshalb kaum. Manche der Geschichten über gravierende Brutalitäten der Sicherheitskräfte stimmen wohl, andere mögen übertrieben sein. Erstmals gaben nun Demokratie-Aktivisten, die dem gewaltlosen Charakter ihrer Revolution entscheidende Bedeutung beimessen, zu, dass sich Demonstranten in der zentralsyrischen Provinz Homs bewaffnet hätten. Ein Aktivist, der aus Sicherheitsgründen seinen Namen verschweigt, erklärte, dass Unmengen von Waffen im vergangenen Jahr aus dem Libanon und dem Irak ins Land geschmuggelt worden seien.
Unterdessen ziehen sich immer mehr Sturmwolken über Syrien zusammen. So tauchte im Internet eine neue Website unter dem Namen „Revolution Intelligence“ auf, die sich militärischen Themen widmet. Sie fordert Syrer auf, anonym Informationen über Mitbürger, die sie für Informanten oder Loyalisten des Regimes halten, auf die Seite zu stellen. Es bleibt offen, ob hier gezielte blutige Racheaktionen geplant werden. Ein Analyst aus dem Libanon, wo 15 Jahre lang ein grauenvoller Bürgerkrieg getobt hatte, befürchtet, dass Syrien einem ähnlichen Schicksal zutreibe. „Derartige Listen heizen einen blutigen Konflikt an. Jeder kann jeden aus irgendwelchen, mitunter persönlichen Gründen denunzieren. Diese Seite lässt erkennen, dass es in der Opposition Kräfte gibt, die derselben Denkweise folgen wie die weithin so verhaßten und oft brutal und willkürlich zuschlagenden Geheimdienste des Regimes.“
Samstag, 11. Juni 2011
Syriens Regime jagt das eigene Volk
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