Syrisches Regime setzt im Überlebenskampf auf volle Härte, während sich immer stärkere Kräfte der Bevölkerung zu organisieren beginnen
von Birgit Cerha
„Wir erhielten den Befehl zu schießen. Doch wir haben Angst, diese Order zu befolgen, weil es noch mehr Tote geben wird. Doch tun wir dies nicht, dann wird uns jemand töten.“ Mit diesen Worten beschreibt ein Offizier in der südsyrischen Stadt Deraa das zunehmend dramatische Dilemma der Sicherheitskräfte im Dienste Bashar el Assads. Wenige Stunden zuvor hatten Regierungstruppen die Region um Deraa, wo vor vier Wochen der Aufstand gegen das Regime begonnen hatte, abgeriegelt. Panzer waren in die Stadt gerollt, wahllos fielen Schüsse und mehrere Dutzend Menschen starben.
Große Teile Syriens, von Homs, nördlich von Damaskus, bis nach Deraa, gleichen unterdessen einer militarisierten Zone, deutliches Zeichen dafür, dass das zunehmend bedrängte Regime Assad in seiner schwersten Existenzkrise seit vier Jahrzehnten seine Repression zur Niederschlagung der sich ausbreitenden Protestbewegung dramatisch verschärft. Nach einem bericht der libanesischen „An Nahar“ kamen allein seit vergangenen Freitag mindestens 160 Menschen, überwiegend friedliche Demonstranten, bei Attacken der Sicherheitskräfte ums Leben. Amnesty International spricht von 400 Toten seit Beginn der Demonstrationen vor vier Wochen.
Neben Kugeln auf friedliche Bürger versucht das Regime den Widerstand nun durch eine massive Verhaftungswelle von Dissidenten und mutmaßlichen Aktivisten zu ersticken. An die 500 Menschen sollen seit dem Wochenende verschwunden oder verhaftet worden sein. Indem er Befehl zum Artilleriebeschuß auf sein eigenes Volk erteilte, stellt der 45-jährige Präsident seine Entschlossenheit klar, die Macht zu retten, gleichgültig, welchen Preis an syrischen Menschenleben er dafür zu bezahlen hätte.
Assad spricht von „dunklen Kräften“, Verschwörungen von außen. Doch in Wahrheit formiert sich mit jedem Toten der friedliche Widerstand gegen den Diktator aus immer breiteren Bevölkerungskreisen. Zunächst waren es ungeduldige Bürger gewesen, die seit einem Jahrzehnt vergeblich auf die Erfüllung von politischen Reformversprechen des Präsidenten gewartet hatten. Viel zu lange zögerte Assad daraufhin mit Zugeständnissen, wie Bürgerrechte für die schwer diskriminierte kurdische Minderheit und schließlich die Aufhebung der seit fast vier Jahrzehnten geltenden Notstandsgesetze, garniert freilich mit gar nicht versteckten Drohungen gegen potentielle Demonstranten. Versprechen politischer Liberalisierung trauen die freiheitshungrigen Syrer vor allem deshalb nicht mehr, weil sie begleitet werden von Brutalitäten der Sicherheitskräfte und der seit langem wegen ihrer Macht und Willkür gefürchteten Geheimdienste, die ungehindert weiter zuschlagen.
Mehr und mehr verliert Bashar, der vor elf Jahren als moderner Reformer die Macht übernahm, das Vorschussvertrauen, das ihm viele Syrer so lange geschenkt hatten. Immer lauter erschallen die Rufe nach seinem Sturz und dem des gesamten Regimes, während sich die Aktivisten zunächst mit Reformen und einem Kampf gegen die himmelschreiende Korruption begnügen wollten. Schon wurden einige Statuen und Porträts von Bashar und dessen Präsidentenvater Hafez el Assad zerstört und mehr und mehr Menschen wagen es gar, die Auflösung der so lange gefürchteten Geheimdienste zu fordern – ein klares Signal dafür, dass das Volk die Barriere der Angst, die wichtigste Garantie zur Machterhaltung von Diktatoren, trotz der vielen Toten überwunden hat.
Die Protestbewegung setzt sich vor allem aus Angehörigen der Opfer der Repressionen, aus einer breiten Schichte von Unzufriedenen, sich nach Freiheit sehnenden Jugendlichen, Angehörigen der Mittelschichte, aber auch aus vielen der großen Schar sozial Benachteiligter zusammen. Über Facebook und Internet knüpfen sie Kontakte mit Exil-Syrern und versuchen, die friedlichen Proteste zu organisieren. Lange existierende Oppositiongruppen, wie die seit ihrem blutig niedergeschlagenen Aufstand in Hama und Homs 1982 empfindlich geschwächten Moslembrüder oder die schwer diskriminierten Kurden, sowie säkulare Linke – haben bisher, wohl durch bittere Erfahrung vergangener Aktivititäten verängstigt, keine Führungsrolle bei Demonstrationen übernommen.
Angesichts der massiven Repression erweist sich die interne Koordination von Protesten als sehr schwierig. Dennoch zeigen sich jugendliche Aktivisten entschlossen, mehr und mehr Mitglieder der schweigenden Mehrheit auf ihre Seite zu ziehen. Denn keineswegs in allen syrischen Städten keimt die Saat der Rebellion. Aleppo, die größte von ihnen, ist bisher weitgehend ruhig geblieben. In der dort stark vertretenen Geschäftswelt dominiert die Sorge vor einem Absturz Syriens in die Instabilität, ja vielleicht gar einem Bürgerkrieg zwischen den Angehörigen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, wie ihn der Nachbar Irak durchlitten hatte. Hatte doch das Assad-Regime, trotz all seiner gravierenden Missstände, dieser Schichte durch vier Jahrzehnte lange Stabilität Wohlstand beschert.
Reißen die Protest auch Aleppo und das historische Zentrum von Damaskus mit sich, dann könnte Assads Schicksal besiegelt sein.
Dienstag, 26. April 2011
SYRIEN: Assad zielt auf sein Volk
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