von Dr. Arnold Hottinger
Die Ereignisse, die sich in Tunesien seit dem 17. Dezember 2010 abgespielt haben, sind am 17. Januar mit der Flucht des Staatschefs, Zeinuddin Ben Ali, zu einem ersten Resultat gekommen. Doch ein zweiter Akt schloss sich sofort an, bei dem es um das politische Erbe Ben Alis ging. Spitzenpolitiker, die unter ihm gedient hatten, bildeten eine Übergangsregierung, in der sie die führenden Positionen selbst besetzten und nur einigen der Politiker der eher zahmen Oppositionsparteien sekundäre Ministerien zuwiesen. Dies waren Parteien, die Ben Ali als Aushängeschilder seiner Scheindemokratie gedient hatten. Die Staatspartei Ben Alis blieb bisher bestehen, sie nannte sich RCD (für Rassemblement Constitutionel Démocratique) wohl weil sie weder konstitutionell noch demokratisch war und als Sammelbecken aller jener diente, die sich freiwillig oder gezwungener Massen mit dem Regime gut zu stellen versuchten. Fast ein Viertel aller Tunesier sollen bei ihr eingeschrieben gewesen sein.
Opposition gegen die Übergangsregierung
Doch die Übergangsregierung stiess schon am ersten Tag nach ihrer angekündigten Formation auf Ablehnung bei der tunesischen Gewerkschaftszentrale UGTT, die sich während der Demonstrationen mit der Bevölkerung solidarisch erklärt hatte, und auf ihren Wunsch hin verweigerten drei der ernannten "Oppositionsvertreter" ihre Beteiligung an der neuen Regierung. Ein vierter ernannter Minister, der Chef einer der kleineren geduldeten Oppositionsparteien, Mustafa Ben Jaafar, entschloss sich sein Amt als Gesundheitsminister ebenfalls nicht anzutreten.
Die echte Opposition gegen Ben Ali befand sich im Ausland, denn wer nicht mit dem Präsidenten hatte zusammenarbeiten wollen, war von ihm und seinen Schergen als terroristischer Umtriebe oder anderer Verbrechen verdächtig verfolgt, angeklagt und im Glücksfall zur Flucht aus dem Lande gezwungen worden.
Angeschlagene Glaubwürdigkeit
Dem Vernehmen nach diskutierten die neuen Minister in ihrer ersten Sitzung am 18. Januar die Frage, welche Personen der Opposition sie noch in die Regierung aufnehmen könnten, um ihre Glaubwürdigkeit zu verstärken. Doch darüber gebe es "tiefe Spaltungen" in der Regierung. Das gleiche Ziel vermehrter Glaubwürdigkeit dürften der gegenwärtige Ministerpräsident, ein alter Verbündeter Ben Alis und der gegenwärtige amtende Präsident, auch ein Politiker aus der Ben Ali Zeit, angestrebt haben, als sie erklärten, sie seien nun aus RCD ausgetreten.
Die Demonstrationen in Tunesien dauern an. Die Demonstranten fordern die Auflösung der Staatspartei und die Bildung einer Übergangsregierung, aus Vertretern der politischen Kräfte, die nicht durch Teilnahme am Regime Ben Alis kompromittiert sind. Den Versprechen der ersten Übergangsregierung von voller Pressefreiheit und Freiheit der "Bildung von Assoziationen", sowie echten Wahlen in sechs Monaten schenkten die grosse Masse der Demonstranten offenbar wenig Glauben. In der Tat bestand die Gefahr, dass derartige Zusagen nach Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit, restriktiv interpretiert oder gar einfach zurückgenommen werden könnten. Eine Garantie, dass sie auch voll eingehalten würden, bestand nicht. Die Persönlichkeiten, welche die Versprechen abgaben, hatten 23 Jahre der Diktatur und des Polizeiregimes Ben Alis mitvollzogen und gefördert.
Ein Ringen um Ausgangspositionen
Mit der Ablehnung der ersten Übergangsregierung durch die Hauptmasse der Demonstranten begann der zweite Akt der tunesischen Revolution, wie er sich entwickeln und wohn er führen wird, ist nicht voraussehbar. Doch mag es von Nutzen sein, zu versuchen, die verschiedenen Strömungen nachzuzeichnen, die man gegenwärtig einigermassen erkennen kann, sowie ihre gegenseitiges Verhältniss, welches jedoch wenig gefestigt und Gegenstand von Verhandlungen ist, so dass es sich möglicherweise im Laufe der kommenden Tage und Wochen weiter verschieben könnte.
Wird die RCD überleben?
Die bisherigen staatlichen Kräfte, zusammengefasst in der RCD, sind noch nicht ausgeschaltet. Sie haben jedoch mit Ben Ali ihr Haupt und ihre eigentliche Führung verloren. Ihr Prestige in den Augen der Tunesier, das wohl nie sehr hoch war, ist gewaltig gesunken. Was man früher über ihre Untaten und Korruptionsaffären nur flüstern konnte, ist nun eine laut hervorgehobene und als angeblich völlig zutreffende Tatsache ins Tageslicht gerückt.
Doch die Inhaber vieler entscheidender amtlicher Stellungen, sowie die grosse Mehrzahl der Inhaber aller florierenden Geschäfte und Besitzer von grossen Vermögen im ganzen Lande sind Leute, die von dieser Partei in ihre heutigen Positionen eingesetzt wurden und die in sehr vielen Fällen ihre wirtschaftlichen Positionen der Zusammenarbeit mit dem zahlreichen Angehörigen der Ersten Familie des Landes verdanken. Sie stehen nun alle vor der Wahl: wollen und können sie ein Regime bekämpfen, das einen echten Neuanfang unter demokratischen Vorzeichen in Gang zu bringen versucht, oder sollen sie versuchen sich ihm anzuschliessen. Die Positionen die ein jeder einnehmen wird, dürften zur Hauptsache davon abhängen, wie weit er sich als mit dem vergangenen Regime verbunden und daher den Sanktionen des kommenden ausgesetzt glaubt, oder wie weit er sich umgekehrt in der Lage sieht, seine Vergangenheit "reinzuwaschen".
Provokationsversuche der bisherigen Geheimdienste
Die am schwersten kompromittierte Gruppe der Regime Anhänger, respektive Verteidiger, hat offenbar ihre Wahl schnell getroffen. Die Polizeikräfte, die am direktesten mit der oft blutigen und grausamen Niederhaltung der Oppositionskäfte verbunden waren, die breit ausgebaute politische Geheimpolizei, hat sofort nach der Flucht ihres obersten Herren versucht, durch Provokationen Unruhe und Unsicherheit im Lande zu schaffen, zweifellos in der Hoffnung, Tunesien "unregierbar" zu machen und dann möglicherweise aus dem Chaos als rettende Ordnungsmacht zu erstehen. So dürften die Automobile ohne Erkennungszeichen zu interpretieren sein, die am 16. und 17. Januar mit bewaffneten Insassen durch die Strassen von Tunis fuhren und wahllos auf die Massen der Fussgänger und Demonstranten das Feuer eröffneten. Auch die Kämpfe, zwischen Armee und Bewaffneten, die sich im Präsidentenpalast ausserhalb der Hauptstadt in der Nacht des 15. abspielten, sowie die Festnahme des Leiters der Geheimpolizei, des Generals Seriaty an der libyschen Grenze, offenbar durch die Armee, und seine in Anklage Stellung wegen vermuteter Anstiftung zu Unruhen, gehören in diesen Zusammenhang.
Die Armee zwischen Demonstranten und staatlicher Ordnung
Die Armee hat sich offenbar gegen diese Unruhestifter gestellt. Einige Heckenschützen, die von den Dächern beim Innenministerium aus in die Strassen zu schiessen suchten, wurden ebenfalls von der Armee ausgeschaltet.
Die Armee hat sich bisher nie explizit über ihre Stellung innerhalb des tunesischen Ringens geäussert. Doch es scheint, dass sie eher der Bevölkerung und damit auch den Demonstranten zuneigt als der Ben Ali Regierung und ihren Überresten. In Tunesien war es nie die Armee, welche die politische Überwachung und Niederhaltung der Bevölkerung ausübte, sondern die Polizei. In den meisten arabischen Ländern sind es die Geheimdienste der Armee, welche diese düsteren Aufgaben wahrnehmen.
Es wurde nie offiziell bekannt gegeben, doch viele Anzeichen dafür waren sichtbar geworden, dass die Armee sich weigerte, den Anweisungen Ben Alis Folge zu leisten und gegen die Demonstranten vorzugehen. Diese Weigerung scheint schliesslich der Anlass zur Flucht Ben Alis geworden zu sein. Der Generalstabschef, General Rachid Ammar, gilt als der Mann, der Ben Ali am Ende zu seiner Flucht nach dem Ausland zwang, indem er sich weigerte, die Armee gegen die tunesische Bevölkerung einzusetzen. Er wird von vielen Tunesiern als ein Held angesehen.
Doch wie weit die Armee sich den Weisungen der ersten Übergangsregierung fügen will und wie lange, wenn die Demonstrationen andauern, ist heute ungewiss. Gegenüber den Demonstranten versuchen die Armeeangehörigen diese zu beruhigen Doch gegen sie vorzugehen, überlassen sie eher der Polizei. Diese gebraucht zur Zeit Tränengas und Wasserstrahlen. Sie scheint nicht mehr, wie zur Zeit Ben Alis, scharf zu schiessen. So lange die gegenwärtige Übergangsregierung bestehen bleibt, untersteht die Polizei offiziell dem Innenminister Friaa. Er gehört zu den Leuten der RCD und wurde von Ben Ali am 12. Januar eingesetzt, nachdem der Staatschef sich entschlossen hatte, seinen bisherigen Innenminister, Rafik Belhaj Kacem, zu entlassen. Kacem ist inzwischen verhaftet worden. Auf ihm dürfte die Verantwortung für die grösste Zahl der 78 während den Unruhen erschossenen Demonstranten lasten, abgesehen von vielen anderen Untaten, welche die Schergen des Regimes zur Zeit seiner Führung des Innenministeriums begingen.
Die Armee untersteht offiziell dem neuen Verteidigungsminister, Redha Grira, der ebenfalls zu den alten Mitarbeitern Ben Alis gehört.
Die Oppositionsfront der Demonstranten
Die Demonstranten waren ursprünglich eher unpolitische junge Leute, die sich trotz ihrer abgeschlossenen Schul- und in manchen Fällen Hochschulausbildung der Aussichtslosigkeit ausgesetzt sahen, da sie keine Arbeit finden konnten und darüber hinaus unter dem starken Anwachsen der Lebensmittelpreise zu leiden hatten. Der Auslöser der Demonstrationen, die sich sehr rasch über das ganze Land verbreitet hatten, war einer von ihnen gewesen, Mohamed Bouazizi, der sich im Flecken Sidi Bouzid im besonders vernachlässigten Inneren Tunesiens selbst verbrannte, nachdem er versucht hatte, als fahrender Gemüsehändler sein Brot zu verdienen und die Polizei ihn sogar daran gehindert hatte, indem sie ihm seine Ware beschlagnahmte unter dem Vorwand, er besässe keine Erlaubnis zum Strassenhandel.
Unvermeidliche Politisierung der Demonstranten
Doch als sich abzeichnete, dass die Demonstrationen sich immer weiter ausbreiteten und trotz der blutigen Repression die viel wohlhabenderen Küstenstädte erreichten, dürften sich auch politisch engagierte Personen aus den verschiedenen von Ben Ali verbotenen und unter Grund getriebenen Organisationen hinter die Demonstranten gestellt haben. Ebenso schloss sich die wichtigste Gewerkschaftszentrale des Landes, die UGTT, ihrer Bewegung an und organisierte ihrerseits ebenfalls grosse Strassenaufzüge von scharfen Gegnern des Regimes, die sein Ende forderten.
Zur Zeit sieht es so aus, als ob sich nur wenige dieser protestierenden Kräfte mit dem ersten Übergangsregime zu arrangieren gedächten und die grosse Mehrzahl versuchte, ihre Poteste fortzusetzen. Noch sind Kompromisse denkbar. Die Übergangsregierung müsste sich soweit umformen, dass sie mehr Vertrauen bei den Demonstranten fände, und diese müssten sich mit einer Übergangsregierung abfinden, die einige der Elemente aus der Zeit Ben Alis enthielte. Die Notwendigkeit, erfahrene Politiker in der Regierung zu haben, welche die Räderwerke der Verwaltung kennen, würde für eine solche Kompromisslösung sprechen. Doch die Umformung der Regierung müsste wohl auch zur Teilnahme von genügend Leuten der Opposition in genügend wichtigen Positionen führen, dass die Demokratie- und Liberalisierungsversprechen von der aufgebrachten Strasse als sichere Zusagen aufgefasst werden könnten.
Die Heimkehr Moncef Marzoukis
Einer der wichtigeren Vertreter der von Ben Ali ins Ausland getriebenen Opposition ist bereits aus Paris in Tunis eingetroffen und wurde von seinen Anhängern jubelnd am Fluhafen empfangen. Er ist Dr. Moncef Marzouki, ein bekannter Arzt und leidenschaftlicher Politiker, der unter Ben Ali mehrmals in Gefängisse gesteckt wurde, weil er laut für Menschenrechte, für die Unabhängigkeit der Richter und für freie Wahlen eintrat. Seine theoretisch noch immer "verbotene" Partei heisst RPD (Rassemblement pour la Démocratie). Von Paris aus hatte er scharf gegen die Übergangsregierung protestiert und ihre Hauptminister als Verbrecher bezeichnet. Kein gutes Vorzeichen für Kompromissbereitschaft.
Kommt der Islam wieder zum Zuge?
Ein anderer wichtiger Politiker der verbotenen Opposition ist Rachid Ghannouchi, ein strenger Muslim, den man jedoch nicht wirklich als "Islamisten" bezeichnen kann, obwohl dies regelmässig geschieht. Dies weil er nicht für einen Schari'a Staat eintritt sondern für eine "Islamische Demokratie". Wie der Islam mit einer echten Demokratie zu vereinigen sei, ist seit Jahren Gegenstand seiner politischen und theologischen Schriften.
Rachid Ghannuchi wurde im letzten Jahr der Herrschaft Bourguibas zum Tode verurteilt, wahrscheinlich auf Grund von durch Folter erlangten "Zeugenaussagen". Doch als Ben Ali 1987 Bourguiba in einem "konstitutionellen Staatsstreich" absetzte und ihn regierungsunfähig erklären liess, entliess er Ghannouchi aus dem Gefängnis und erlaubte ihm ins Ausland zu reisen. Er lebt heute in London. Sein Namensvetter, Mohammed Ghannouchi, der Ministerpräsident der Übergangsregierung, hat erklärt, der Islam Politiker könne erst heimkehren, wenn sein Todesurteil durch eine Amnestie aufgehoben sei. Man kann daher annehmen, dass ihn Ben Ali seinerzeit zwar entliess, das gegen ihn ausgesprochene Urteil jedoch nicht rückgängig machte.
Wie gross seine Anhängerschaft in Tunesien heute noch ist, kann niemand genau wissen. Immerhin ist bekannt, dass ein Vertreter seiner eigentlich verbotenen Partei, die "an-Nahda" (Renaissance) heisst, namens Hamid Jabali, mit der Übergangsregierung verhandelt hat. Wenn es in Tunesien zu lange andauernden Wirren kommt, dürfte der Einfluss der Islamisten wachsen. Denn in Zeiten der Wirren und Unsicherheit pflegen die islamischen Bevölkerungen Zuflucht bei der Sicherheit eines streng verstandenen Islams zu suchen.
Donnerstag, 20. Januar 2011
TUNESIEN: Die tunesische Revolution vor ihrem zweiten Akt
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