Sonntag, 18. Juli 2010

IRAK: Politgestrüpp im Irak

von Dr. Arnold Hottinger

Nach der Verfassung wäre die Frist am 14. Juli abgelaufen, innerhalb derer die neugewählten irakischen Parlamentarier einen Parlamentssprecher und einen Präsidenten hätten wählen sollen. Der Präsident hätte dann einen Ministerpräsidenten zu ernennen, der in der Lage wäre, eine parlamentarische Mehrheit zusammenzubringen. Als ersten sollte er den Kandidaten beauftragen, der die Mehrheit der Abgeordneten hinter sich hat.

Doch die Verhandlungen der Politiker sind seit dem Wahltag, dem 7. März, blockiert, weil es zwei Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten gibt, und bisher wurde kein Weg gefunden, um eine Entscheidung für den einen oder den anderen herbeizuführen. Der abtretende Ministerpräsident Nuri al-Maleki hat 89 Gewählte auf seiner Seite; der theoretische Sieger in den Wahlen, Iyad Allawi gewann 91.
Doch Maleki, der interimistisch die Macht ausübt, hat einen Rechtsentscheid gewonnen, nach dem für den ersten Auftrag zur Regierungsbildung die Mehrheit nicht nur einer Partei oder Allianz von Parteien, die als solche in die Wahlen gezogen ist, zählt, sondern auch eine Mehrheit, die aus der Verbindung mehrerer solcher Parteien oder Allianzen hervorgeht, wenn sie sich nach den Wahlen (angesichts des Wahlresultates) zusammenschliessen. Malekis Formation („Rechtsstaat“ genannt) und jene von mehreren schiitischen Parteien (die sich „Nationale Allianz“ oder „Nationales Einverständnis“ nennen) haben nach den Wahlen erklärt, sie hätten sich zusammengeschlossen. Gestützt auf den Rechtsentscheid sind sie der Ansicht, dass ihr Zusammenschluss, der zusammen 159 Gewählte umfasst, das Recht habe, als erste Formation zur Regierungsbildung anzutreten. (163 Parlamentarier würden eine Mehrheit der Kammer bilden.)


Ein pro-Forma Zusammenschluss
Jedoch das Bündnis von „Rechtsstaat“ und „Nationalem Einverständnis“ ist sich in der zentralen Frage, welche die Person des Ministerpräsidenten betrifft, uneinig. Diese Frage ist dermassen wichtig, dass man sagen kann, die Allianz ist bloss eine formale Scheinallianz. Das „Nationale Einverständnis“ ist seinerseits ein Bündnis von zwei führenden und mehreren kleinen schiitischen Parteigruppierungen. Die beiden Grossen haben jede ihren Kandidaten für die Ministerpräsidentschaft, die grösste unter der Fernsteuerung von Muqtada Sadr (38 Gewählte), will Ibrahim Jaafari, den Vorläufer Malekis in der Ministerpräsidentschaft; die zweitgrösste Gruppe unter der Leitung der Hakim Familie (als SCIRI bekannt) stellt sich hinter Adel Abdel Mahdi. Die Sadr Gruppierung, mit der Mehrheit innerhalb der schiitischen Allianz, lehnt al-Maleki besonders entschieden ab. Sie beschuldigt ihn, gegen ihre politischen Kräfte und ihre Miliz einen grausamen Vernichtungskrieg geführt zu haben, als er im März 2008 im Süden des Iraks und später in Bagdad mit Hilfe der offiziellen irakischen Armee und der amerikanischen Streitkräfte blutig gegen sie durchgriff. Die Allianz Malekis ihrerseits, „Rechtsstaat“, hat sich ganz um die Person des Ministerpräsidenten der letzten 4 Jahre, geschart. Ohne ihn gäbe es sie überhaupt nicht, und Maleki geht eisern darauf aus, wieder Ministerpräsident zu werden.

Ringen um die Berufung zur Regierungsbildung
Warum ist die Frage, wer zuerst die Regierungsbildung versuchen darf, so umkämpft? – Weil die Wahrscheinlichkeit gross ist, dass es dieser Person gelingen könnte, eine bedeutende, möglicherweise entscheidende Zahl von Abgeordneten für sich zu gewinnen, indem er ihren jeweiligen Gruppenoberhäuptern Regierungspositionen und andere Vergünstigungen verspricht, über die er als Regierungschef zu verfügen hätte.

Die Wahlallianzen, welche den Wahlkampf führten, sind keine eigentlichen Parteien mit einer inneren Disziplin. Man muss sie vielmehr als Allianzen von unterschiedlichen kleineren und grösseren, familienartigen, Gruppen sehen, die sich „Parteien“ nennen und deren jeweilige Oberhäupter ihrerseits auf eine gewisse Loyalität ihrer Gefolgschaft zählen können, aber selbst primär ihre eigenen Ziele für sich und für ihre Gruppen verfolgen, nicht unbedingt jene der Allianz, mit der sie in die Wahlen gezogen waren. „Klientelgruppen“ ist ein Begriff, welcher der Realität am ehesten nahe kommt.

Maleki dürfte rechnen: wenn er den Regierungsauftrag erhält, kann er seine bisherigen Verbündeten von der Nationalen Allianz und seine bisherigen Gegner von der „Irakiya! (Allawis) gegeneinander ausspielen, indem er verschiedenen Mitgliedern beider Allianzen Positionen in seiner Regierung zusagt, natürlich in erster Linie solchen, die ihrerseits möglichst viele Gefolgsleute im Parlament auf die Regierungsseite zu bringen vermögen.

Auch Allawi dürfte hoffen, wenn er den Regierungsauftrag erhält, aus seinen 91 Gefolgsleuten mit Hilfe der Untergruppierungen aus den Gegenallianzen, sowohl der schiitischen „Nationalen Übereinstimmung“, wie auch der von Maleki zusammengestellten „Rechtsstaat“ Allianz und ebenfalls unter den zahlreichen anderen Kleingruppen (einschliesslich der 44 Gewählten der Kurden), die sich keiner der drei grossen Verbindungen zugewandt haben, aber auch Parlamentssitze erhielten, eine parlamentarische Mehrheit zu finden.


Blockierte Präsidentschaftswahlen
Der erste Schritt nach den Wahlen, die Wahl von Sprecher und Präsident, sind an sich nicht davon abhängig, wer den Regierungsauftrag erhält. Doch diese Wahlen (der Präsident muss mit einer zwei Drittel Mehrheit der Abgeordneten gewählt werden) konnten bisher auch nicht stattfinden, weil unklar ist, wer mit wem im Parlament zusammenarbeiten will, um die Wahlen zustande zu bringen. Eine solche Zusammenarbeit würde die Bildung eines echten mehrheitsfähigen politischen Zusammenschusses bedeuten, dem entweder beide Rivalen, Maleki und Allawi, oder einer von ihnen angehören müsste. Wenn es einer wäre, würde dieser den Regierungsauftrag erhalten, wenn aber beide, müsste der Präsident entscheiden. Was offenbar beide Rivalen vermeiden wollen, indem sie die Position ihrer Spitzenpolitiker im Voraus aushandeln.



Deblockierungsversuche
Vermittler, die den schleppenden Prozess der Regierungsbildung zu beschleunigen suchen, sind aufgetreten: sowohl die amerikanische Botschaft, wie auch die Delegation der UNO im Irak haben vorgeschlagen, es könnte leichter sein, einen Kompromiss zu finden, wenn die Machtfülle des Ministerpräsidenten – der heute praktisch allmächtig ist – eingeschränkt und an mehrere Personen verteilt würde, etwa an Vizeministerpräsidenten mit bestimmten Aufgabenbereichen, oder an bestimmte Ministerien, die dann bis zu den nächsten Wahlen der permanente Machtbereich bestimmter Gruppen und Parteiungen würden. Auf diesem Weg wäre es vielleicht zu erreichen, dass sich eine genügende Zahl von Klientelgruppen unter ihren jeweiligen Chefs auf die Person eines Ministerpräsidenten einigen könnten. Neben der Ministerpräsidentschaft stünden dann andere Machtpositionen als Trostpreise zur Verfügung.

Doch dies bedeutete für die nächste Regierung reduzierte Kompetenzen des Ministerpräsidenten, der dann auch nicht mehr frei wäre, seine Minister zu entlassen oder auszuwechseln. Die Hemmschuhe, die heute der Regierungsbildung entgegenstehen, würden damit ins Innere der zukünftigen Regierung verschoben und würden dort für künftige Blockierungen der Regierungsaktivitäten sorgen. Auch die laufenden Verhandlungen werden durch diese Vermittlungsbemühungen noch weiter kompliziert. Denn man verhandelt nun gleichzeitig einerseits darüber, wer Ministerpräsident werden soll, andrerseits aber auch darüber, wieviel Macht dieser künftige Ministerpräsident ausüben werde und daher auch darüber, wer sonst noch welche und wie abgesicherte Machtpositionen innerhalb der künftigen Regierung erhalten werde.


Zeitdruck für Alle ausser den Politikern
Den Amerikanern eilt es, sie planen Ende August ihre Präsenz auf 50 000 Mann abgebaut zu haben. Der irakischen Bevölkerung eilt es noch mehr. Sie kann nicht verstehen, warum ihre Politiker sich über Monate hin in grenzenlose Diskussionen verwickeln, wo doch so viele dringende Aufgaben einer Lösung harren, in erster Linie die Elektrizitäts- und Trinkwasserversorgung, die Sicherheit, die Korruptionsbekämpfung, Massnahmen gegen die Arbeitslosigkeit. Demonstrationen über die immernoch andauernden Elektrizitätsausfälle von vielen Stunden pro Tag bei mörderischer Hitze fanden kürzlich in allen Städten des Landes statt.

Was die mit Terror arbeitenden Subversionskräfte angeht, so suchen sie die Periode verminderter Regierungsautorität zu nutzen, indem sie die Terroranschläge nach Vermögen steigern und einmal mehr durch blutige Provokationen, primär der Schiiten, auf einen Bürgerkrieg hinarbeiten. Gegen sie treten heute die irakischen Sicherheitskräfte in Aktion. Die Amerikaner haben ihnen die Hauptrolle überlassen und greifen nur noch ein, wenn sie von den Irakern dazu aufgefordert werden. Doch die irakischen Politiker, die theoretisch für ihren Einsatz verantwortlich sind, gehören gegenwärtig – und solange das Machtringen weiter andauert – nur einer Interimsregierung an. – Wenn dies lange währt, bedeutet es aller Wahrscheinlichkeit nach, dass die (nicht politisch kontrollierte) Macht der Sicherheitskommandanten und Armeespitzen wächst und eigenständiger wird. – Wie dies im Irak seit der Unabhängigkeit von 1932 immerwieder geschehen ist.

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