Freitag, 30. April 2010

PALÄSTINA/ISRAEL: Die wachsende Unglaubwürdigkeit der Zweistaatenlösung


von Dr. Arnold Hottinger

Es ist fast schon ein Gemeinplatz unter den Beobachtern, dass die Zweistaatenlösung des Palästinakonfliktes „tot“ sei. Dieser Eindruck ist leider berechtigt. Es ist offensichtlich, dass die gegenwärtige (und allem Ermessen nach auch weitere künftig zu erwartende) israelische Regierungen mehr Wert darauf legen, immer wachsende Teile der ohnehin schon weitgehend kolonisierten palästinensischen Territorien weiter zu kolonisieren, als darauf, einen auf einer echten Zweistaatenlösung beruhenden Frieden zu schliessen. Sogar wer immernoch an die Friedenswilligkeit der israelischen Führung glauben möchte (der Verfasser gehört nicht dazu), sieht sich gezwungen zuzugestehen, dass die gegenwärtige Dynamik zwischen Israel und den Palästinensern eher auf wachende Spannungen hinausläuft, als auf Schritte hin zu einem Zweistaatenfrieden. Die Entwicklung in Gaza ist in dieser Hinsicht ein deutliches Zeichen.
Dass die Aussenwelt - praktisch ist diese durch die USA gegeben, ohne die kein wirklicher Druck auf Israel ausgeübt werden kann - sich aufraffen könnte, eine Zweistaatenlösung von Israel zu erzwingen, scheint ebenfalls kaum mehr glaubhaft. Obgleich Obama eine solche „sehen möchte“, scheint er doch angesichts der gesamten Lage seiner Regierung in den USA nicht wirklich gewillt und wohl auch garnicht in der Lage dazu, derart starken Druck auf Israel auszuüben, dass er genügte, um der dortigen Regierung seinen Willen aufzuzwingen.

Es liegt im Interesse der israelischen Politik, den Schein der Möglichkeit einer Zweistaatenlösung aufrecht zu erhalten. Im Schatten dieser wenig realistischen Hoffnung kann sie immer weitere kleine Schritte der Kolonisierung der Westjordangebiete vornehmen und das grausame „Provisorium“ der in Gaza eingesperrten und nur knapp vor dem Verhungern bewahrten 1,5 Millionen Menschen aufrecht erhalten. Würden die israelischen Machthaber offen zugeben, dass die Zweistaatenlösung endgültig vorbei sei, sähen sie sich vor die Frage gestellt, was denn mit den total gute 5 Millionen ausmachenden Palästinensern geschehen solle, die heute unter israelischer Herrschaft leben, die aber der israelische Staat nicht als Vollbürger in dem von ihm beherrschten Territorium anzuerkennen gedenkt, da sie nicht Juden sind und da Israel sich heute mehr denn je als „jüdischen Staat“ definieren will.

Es gäbe drei Möglichkeiten, die Frage zu regeln:
1) volle Einbürgerung der 5 Millionen nicht-Juden;
2) Ausweisung der 5 Millionen nicht Juden;
3) Ein Zweiklassen Staat mit ungefähr gleichvielen (aber schneller wachsenden) entrechteten nicht jüdischen Bewohnern wie jüdischen Vollbürgern.

Die Dritte Lösung hat Ehud Olmert nach seinem Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten als „das Ende der Demokratie in Israel“ angesprochen.
Sogar die radikale Minderheit, die Lösung zwei, eine Ausweisung aller oder möglichst vieler Palästinenser, ins Auge fasst, den sogenannten „Transfer“, weiss, dass dies gegenwärtig schlecht möglich wäre. Es brauchte wahrscheinlich einen Welt- oder regionalen Grosskrieg, um diese Höllenvision zu verwirklichen.
Was die erste Möglichkeit angeht, so ist sie das Ziel der meisten Palästinenser (mit Ausnahme der Ideologen von Hamas). Sie wird aber von den Israeli strikt abgelehnt, weil sie bedeutete, dass der „Staat der Juden“ unmittelbar oder auf mittlere Frist zu einem Staat würde, in dem die Juden eine Minderheit bilden.

Angesichts der drei den Israeli nicht willkommenen Möglichkeiten, ist das Provisorium eines angeblich immernoch fortbestehenden „Friedensprozesses“ für Israel die beste Lösung. Sie erlaubt, die Kolonisierung voranzuführen, die Entmachtung und Marginalisierung der Palästinenser weiter voran zu treiben, ohne sich der Frage zu stellen, was schlussendlich aus einem „Grossisrael“ werden soll , welches de facto angestrebt wird, aber vorläufig hinter dem Vorhang der angeblich immernoch „nicht endgültig gestorbenen“ Zweistaatenlösung versteckt werden kann. Die heute oft verwendete Aussage, Israel sei ein Staat ohne feste Grenzen, gehört in diesen Zusammenhang. Israel weigert sich, feste Grenzen niederzulegen, weil es an der Ausdehnung und Absicherung seines Machtbereiches bis an den Jordan arbeitet.

Doch auch für die Aussenwelt, solange sie nicht bereit ist, auf Israel den nötigen Druck auszuüben, um eine tatsächliche Zweistaatenlösung zu erreichen, bleibt das Provisorium von einer angeblich immer noch möglichen Zweistaatenlösung, die am „anstrebt“, aber nicht „verwirklicht“, der bequemste Ausweg. Ein Apartheitsstaat Israel wäre ein Israel, das seine arabischen Staatsbürger nicht nur „provisorisch“, in angeblicher Erwartung einer „Friedenslösung“ und angeblich „notgedrungen“, schikaniert und vertreibt, sondern eines, das eine derartige Politik zur offiziellen Staatsdoktrin erhöbe. Ein derartiger Staat wäre den Amerikanern und Europäern als hauptsächlicher Partner und Verbündeter im Nahen Osten zum mindesten peinlich und gleichzeitig für ihre gesamte Politik gegenüber der guten Milliarde von Muslimen (und ihrem Erdöl) , mit der sie auf dieser Welt rechnen müssen, in noch viel höherem Masse als gegenwärtig schädlich und gefährlich. So geben sie vor, weiterhin an die Zweistaatenlösung zu glauben, gewissermassen „faute de mieux“, obwohl sie eigentlich wissen, dass eine langhingehaltene aber kaum mehr durchführbare Scheinlösung letztlich das Zustandekommen einer wirklichen Lösung verhindert, indem sie einen angeblich bevorstehenden Zustand als erreichbar vorspiegelt, der in Wirklichkeit nicht mehr erreichbar sein dürfte und gleichzeitig den fortschreitenden Siedlungsbau dadurch abschirmt, dass er hinter dem Schleier der inoffiziellen Vorläufigkeit vorangetrieben werden kann.

Bleiben die Palästinenser selbst. Ihnen wird jede Stunde deutlicher eingebläut, dass eine Zweistaatenlösung von Israel nicht angestrebt wird, sondern vielmehr ein permanentes Provisorium, das möglichst viele Palästinenser auf möglichst kleinen Restgebieten Palästinas konzentriert, um möglichst viel ihres Landbesitzes zu enteignen (die Palästinenser ziehen nicht ohne Grund das Verbum „stehlen“ vor). Das Dauerprovisorium sorgt zugleich dafür, dass die Macht Israels dank dem Dauereinsatz der israelischen Armee als Besetzungsarmee - nun schon seit 33 Jahren und auf unbestimmte Zeit weiter - (oder im Fall Gazas einkreisend, rund um Gaza herum) in allen palästinensischen Gebieten hart und bedingungslos durchgesetzt wird. - Läge es angesichts dieser Umstände nicht im Interesse der Palästinenser, den Vorhang zur Seite zu schieben, der die israelischen Absichten verschleiert und sich zu weigern, weiterhin auf ein Spiel einzugehen, das von Zweistaatenlösung spricht aber auf Besitzergreifung bis an den Jordan ausgeht? - Die Palästinensische „Autorität“ (Israel weigert sich sie eine Regierung zu nennen), die auf der Westbank ein Schattendasein fristet, ist nicht weit entfernt davon, dies zu tun. Hat sie doch ihre Verhandlungen mit Israel über die „Zweistaatenlösung“ abgebrochen und weigert sie sich, sie wieder aufzunehmen, bis Israel verspricht, seine Siedlungsexpansion anzuhalten.

Doch die „autonome PLO Regierung“ der Westjordangebiete ist bisher nicht zurückgetreten. Sie besteht vorläufig weiter. Sie nimmt in Kauf, dass ihre Existenz der Verschleierung der israelischen Absichten dient, weil sie weiter versuchen will, die Interessen der palästinensischen Bevölkerung (und theoretisch sogar jene der vielen Millionen von palästinensischen Vertriebenen im Ausland) soweit es geht, wahrzunehmen und ihre Bevölkerung vor einer völligen Herabsetzung zu machtlosen Zweitklassbürgern zu bewahren. Diese wäre nicht mehr zu vermeiden, wenn die Autonomieregierung sich weigerte, in dem engen, ihr von Israel belassenen „Autonomierahmen“ in den sie eingespannt ist, fortzuregieren.

Ihrer Gegnerin, der Hamas Regierung von Gaza, geht es ihrerseits nicht primär darum, die Interessen der Bewohner von Gaza zu schützen. Sie sucht vielmehr eine Konfrontationspolitik gegen Israel zu betreiben und so gut sie kann fortzusetzen, weil sie, auf islamische Grundsätze abgestützt, Israels Recht auf Staatlichkeit sowohl in Teilen wie in ganz Palästina bestreitet. Um dieses Grundprinzips willen nimmt sie in Kauf, dass Israel in den Augen der Aussenwelt, welche seine staatliche Existenz als legitim anerkennt, eine Art von Rechtfertigung für sein menschenverachtendes Verhalten gegenüber den Gazioten aufrecht zu erhalten vermag.

Bei der PLO- „Regierung“ gibt es natürlich materielle und machtmässige Anreize, ihre Stellung zu erhalten, auch wenn sie sich eigentlich fragen sollte, ob dies mehr Israel nützt oder mehr ihrer eigenen Bevölkerung. Die Antwort auf diese Frage hängt stark davon ab, ob eine ausgehandelte Friedenslösung zwischen den Palästinensern und den Israeli noch denkbar sei oder bloss ein Phantom. Weil sie selbst in ihrer bevorzugten Stellung fortdauern möchten, sind vermutlich viele Exponenten und Profiteure der Palästinenserregierung von Ramallah geneigt, der Frage nach den echten Aussichten einer Friedendlösung nicht allzu tief auf den Grund zu gehen. Wird sie verneint, hat ihre Position keine Rechtfertigung mehr. Sie müssten dann eigentlich zurücktreten, oder auf die Konfrontationslinie von Hamas einschwenken.

Was die Geldgeber der Regierung von Ramallah betrifft, die primär aus den europäischen Staaten bestehen, sind auch sie geneigt, den Tatsachen nicht ins Auge zu sehen und wider besseres Wissen zu hoffen, dass es doch noch eine Zweistaatenlösung geben werde, denn wozu sollen sonst die Gelder dienen, die sie immer wieder für die Unterstützung der Regierung von Ramallah zur Verfügung stellen? Und wie sollten sie sich verhalten, wenn ihr Freund Israel sich gezwungen sähe, nicht nur de facto hinter dem Schleier von theoretischen Friedensaussichten, sondern ganz offiziell und institutionell zur Niederhaltung und Unterdrückung einer nicht jüdischen Bevölkerungshälfte zwischen Mittelmeer und Jordan zu schreiten.
Seit Sharon glauben die Israeli, dass es zu ihrem Vorteil gereiche, von Frieden zu sprechen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die expansionistische Kolonisierungspolitik der Landnahme weiter vorangetrieben wird und die Palästinenser der Besetzten Gebiete in möglichst isolierte und verarmende Ghettos zurückgedrängt werden.

Der Bau der Mauer hat die kolonialisierten Teile der von Israel dominierten Region von den demokratisch regierten säuberlich isoliert. Dies hilft mit, die Illusion eines kommenden Zweistaatenfriedens zu fördern. Für das Stimmvolk diesseits der Mauer herrscht eine Normalität, die an Wohlstand grenzt, und die unschönen Einzelheiten der Enteignung und Niederhaltung der Palästinenser auf der anderen Seite der Mauer bleiben weitgehend unerkannt, unbewusst oder verdrängt. Gleichzeitig sorgt eine Dauerpropaganda dafür, dass die Angst vor den Untaten der Palästinenser immer aufrechterhalten und systematisch weiter geschürt wird. So ergibt sich das Trugbild, es läge an „Ihnen“, dass kein Frieden zustande komme. Die Anderen wollten ja nicht!„ Sobald „Sie“ wollen, kommt es zum Frieden!“

Was in Wirklichkeit vor sich geht, ist die langsame Konzentration einer verarmenden palästinensischen Bevölkerung, die ihrer Bewegungsfreiheit beraubt und auf möglichst enge Gebiete zusammengetrieben wird, so dass die übrigen Teile der Besetzten Gebiete allmählich von Siedlern „übernommen“ und de facto an Israel angeschlossen werden können. Die Sonderstrassen für Siedler machen dies ebenso klar wie die Siedlungen selbst mit den sie umgebenden „Landreserven“, die schrittweise das Territorium der Westjordangebiete „enteignen“ und „übernehmen“.

Eine realistische Sicht der Dinge müsste die Palästinenser vor die Frage stellen: was ist besser, in Bantustans leben oder als Zweitklassbürger in einem ganz Palästina umfassenden Israel. – Die Antwort darauf hängt wesentlich davon ab, was genau „leben in Bantustans“ oder „leben als Zweitklassbürger in Grossisrael“ für die Menschen bedeuten würde. Welche Lebensbedingungen würden für sie geschaffen? Und wie würden sie sich verändern, wenn die Bewohner der Bantustans oder die Zweitklassbürger von Grossisrael aufbegehren? – Durch ihre Abschnürungsmassnahmen gegenüber Gaza versuchen die Israeli den Palästinensern zu zeigen: „Es hängt von euch ab, unter welchen Bedingungen ihr unter uns leben wollt. – Wenn ihr brav und folgsam seit, werden sich eure Lebensumstände verbessern (allerdings nie so weit, dass sie denen der Israeli gleich kommen, denn sie sind ja die Erstklassbürger). Wenn ihr euch aber ungehorsam und feindlich zeigt, werden wir dafür sorgen, dass ihr am Rande des Hungers unter der Drohung unserer Kanonen und Bombardierungen und ohne feste Dächer über euren Köpfen dahinvegetieren müsst.“

All dies geschieht vorläufig noch „hinter der Mauer“ und „jenseits der Sperrzäune von Gaza“ unter dem Schleier der angeblichen Vorläufigkeit. Wenn die Illusion eines „Friedensprozesses“ endgültig und unübersehbar zusammenbricht, werden die Tatsachen unverschleiert hervortreten, und Israel wird sich gezwungen sehen, institutionelle Regeln zu schaffen, die der bestehenden Sachlage entsprechen und darauf abzielen, die Erhaltung der bestehenden menschenverachtenden Zustände rechtlich festzuschreiben. Der Rest der Welt wird entscheiden müssen, ob er solche nun offizialisierten Regelungen hinnehmen, oder ob er sie ablehnen will.

Bildquelle: http://www.fr-online.de/_em_daten/_dpa/2008/06/18/080618_1154_365_18077086_onlinebild.jpg

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen