Dienstag, 2. März 2010

IRAK: Iraks Wunden bluten wieder


Schicksalhafte Parlamentswahlen reißen die tiefe Kluft in der Gesellschaft weit auf – Welchen Weg wird das Land einschlagen: säkular oder islamisch, pro-iranisch oder pro-westlich?


von Birgit Cerha

Seit Jahren stehen die Sicherheitskräfte in der nord-irakischen, zwischen Kurden und Arabern heiß umstrittenen Ölstadt Kirkuk in höchstem Alarm und können nicht verhindern, dass immer wieder Sprengsätze unschuldige Menschen in den Tod reißen. Nun aber quälen die Polizei der Stadt Sorgen ganz anderer Art. Eindringlich appelliert sie an die – männlichen – Autofahrer, ihre Augen künftig nicht mehr vom Verkehrsgeschehen abzuwenden. Denn in Stundenintervallen trudeln Meldungen von Unfällen ein, die sich entlang der Stadtmauer ereigneten, an der unzählige Konterfeis einer attraktiven Kandidatin für die Parlamentwahlen am 7. März prangen.

Mit Berichten solcher Trivialitäten versuchen lokale Medien im Vorfeld der schicksalhaften Wahlen die angespannte Atmosphäre im Irak zu lockern. Plakate, Fotos von Männern in traditionellem Gewand mit der rot-weiß gewürfelten Kefiya um den Kopf geschlagen, Kandidaten in westlichem Anzug mit Krawatte, Frauen, die schamhaft ihre Haare verhüllen und andere, die stolz – und das in dieser traditionalistischen Gesellschaft! - ihre wallende Pracht präsentieren, prägen die Straßenbilder.
Der Unterschied zu den ersten freien Parlamentswahlen nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein 2005 springt ins Gesicht: Damals verzichteten die Kandidaten auf ihre Fotos, um sich nicht als Zielscheibe des gewalttätigen Widerstandes darzubieten. Kein Zweifel: Der Irak ist auf dem Weg zur Demokratie vorangeschritten.


Fernsehsender zeigen in kurzen Abständen Menschenscharen, die sich mit einem Kuvert in der vorgestreckten Hand zum Schlitz der Wahlurne drängen. „Ihr könnt das Land verändern“, so die Botschaft. TV-Umfragen unter Bürgern lassen jedoch eine Mischung erkennen aus Ratlosigkeit und politischer Passivität, Ärger über die bisherige Unfähigkeit der Parlamentarier, das Land aus Chaos und Not zu reißen und aufgeklärter Entschlossenheit, der Demokratie dennoch eine Chance zu geben. Doch es bedarf schon beinahe einer Wissenschaft, sich in dem unüberschaubaren Angebot von rund 6.000 Kandidaten und mehr als 80 Koalitionen oder „Listen“ zurechtzufinden, die sich um 325 Parlamentssitze bewerben. Tröstend angesichts dieses Wirrwarrs erzählen sich Iraker einen alten Witz: „Wenn zwei Männer zusammenkommen, bilden sich drei Fraktionen. Im Irak will jeder König sein.“ Der Nachholbedarf nach drei Jahrzehnten brutalster Diktatur ist gigantisch.

Und dennoch erscheint der Erfolg des demokratischen Experiments auch diesmal höchst fraglich. Bis vor wenigen Wochen hatte es noch den Anschein, als lieferten die Iraker ihren amerikanischen Befreiern ein Musterbeispiel wachsender demokratischer Reife, das US-Präsident Obama die Möglichkeit bieten würde, wie geplant bis zum August die Zahl der US-Truppen von 98.000 auf 50.000 zu reduzieren und bis Ende 2011 ganz abzuziehen - Stabilität, Demokratie und Bündnistreue garantiert. Entscheidende Voraussetzung dafür: ein das ganze Volk repräsentierendes Parlament, das aus diesen Wahlen hervorgehen soll. Denn 2005 hatte die von ihrer privilegierten Stellung im Staat gestürzte arabisch-sunnitische Minderheit die Wahlen boykottiert, sich damit selbst aus dem politischen Prozess ausgeschlossen und den blutigen, bis zum Bürgerkrieg eskalierenden Widerstand gespeist. Eine volle politische Einbindung der Sunniten soll endlich einen nationalen Versöhnungsprozess einleiten und das Ende der Gewalt besiegeln.



Doch mit einem Schlag ist alles infrage gestellt, haben machthungrige Politiker noch gar nicht verheilte Wunden neu infiziert. Der völlig unerwartete Ausschluss von mehr als 500 Kandidaten – viele davon Sunniten – durch die „Kommission für Rechenschaft und Gerechtigkeit“ (früher „Kommission zur Ent-Baathifizierung“), wegen angeblicher „Nähe“ zur gestürzten Baath-Partei hat die Gemüter aufgeheizt und all die quälenden Fragen von der immer noch so unzulänglichen Infrastruktur, über 50-prozentiger Arbeitslosigkeit, bis zur Aufteilung des Ölreichtums und der föderalen Struktur des Staates aus den Diskussionen verdrängt. Vor allem wirft er ein zutiefst irritierendes Licht auf führende Politiker, allen voran Premier Maliki. Im Grunde geht es um hemmungsloses Machtspiel und die Frage, welche Richtung der neue Irak nun endgültig einschlägt: säkular oder islamisch, pro-iranisch oder pro-westlich?

„Human Rights Watch“ alarmiert mehrere Aspekte dieser Entwicklung: die „geheime Vorgangsweise und die fragwürdige Legitimität der Kommission“ und der enorme Schaden, den der Ausschluss für die Glaubwürdigkeit des gesamten Wahlprozesses angerichtet hat. Drahtzieher dieser fatalen Entscheidung ist der zwielichtige Schiit Ahmed Chalabi, der einst mit fragwürdigen „Beweisen“ der US-Regierung Motivationen für den Krieg gegen Saddam geliefert hatte, später von den Amerikanern fallen gelassen wurde und sich darauf hin in die offenen Arme des Irans warf. Heute ist dieser ehrgeizige Meister der Manipulation nicht nur Chef der „Kommission“ sondern auch Kandidat der „Irakischen Nationalen Allianz“, zu der hohe iranische Führer schiitische Gruppierungen (neben jener Chalabis die größte in Bagdad mitregierende Schiitenpartei ISCI – Höchster islamischer Rat des Iraks -, die Partei des radikalen Schiitengeistlichen Moktada Sadrs und die von Malikis Dawaa abgespaltene Gruppierung Ex-Premiers Jaafaris) zur Bildung einer islamischen Front zusammengedrängt hatten, mit dem Ziel den Irak wieder voll auf einen islamistischen Kurs unter iranischem „Schutz“ zu lenken. Während sich Maliki dieser Allianz nicht anschließen will, erstrebt Chalabi nichts weniger als das höchste Regierungsamt.

Dramatisch gefährdet erschien dieses Ziel durch die wachsende Popularität der Liste „Al-Irakia“ prominenter säkularer Iraker unter Führung des schiitischen Ex-Premiers Iyad Allawi und eines der populärsten sunnitischen Politiker, Saleh al Mutlak. Dieser gilt denn auch als Hauptziel Chalabis. Nicht nur verfügte die Kommission seinen Ausschluss aus den Wahlen, sondern droht ihm nun auch einen Prozess wegen angeblicher Verwicklung in Terroranschläge der Baath. Mutlak weist die Vorwürfe energisch zurück, zog aber seine Drohung eines Wahlboykotts seiner Partei zurück. Doch der Schaden ist angerichtet. Viele geschockte Sunniten könnten nun den Wahlen fernbleiben und damit den Siegeszug von „Al-Irakia“ vereiteln.

Allawi klagt über „schwere Einschüchterungen und Bedrohungen“. Besonders irritiert weite Kreise die Haltung des durch die Allawi-Koalition um seine Wiederwahl fürchtenden Malikis, der energisch – selbst gegenüber hohen US-Vertretern – die Entscheidung der „Kommission“ verteidigte und durch seine aggressive Parteinahme für die vom Iran unterstützte Koalition in den Augen des politischen Establishments an Glaubwürdigkeit und Popularität eingebüßt hat.

Damit dürfte der Siegeszug dieses 2006 aus der politischen Obskurität an die Spitze der Regierung gehievten Islamisten ein Ende finden. Bei den Provinzwahlen vor einem Jahr hatte es Maliki verstanden, einen radikalen Wandel des politischen Klimas im Irak für sich zu nutzen. Er stellte sich erfolgreich auf die tiefe Verdrossenheit der Bevölkerung über die islamistischen Parteien, allen voran ISCI ein, die durch den Einsatz ihrer Milizen die Gewalt geschürt hatten und – wiewohl in Kontrolle regionaler Verwaltungen - die Not der Bevölkerung nicht zu lindern vermochten. Der Wahlausgang bewies einen radikalen Sympathiewandel von religiös orientierten Gruppierungen zu säkularen, nationalistischen. Maliki vollzog den Wandel mit und präsentierte sich über den religiösen Gruppierungen stehender Garant von Sicherheit und Stabilität.


„Entledigt euch der Religion“, lautet auch jetzt ein beliebter Slogan, während der höchste schiitische Geistliche, Großayatollah Sistani, durch seine Weigerung, eine Wahlempfehlung abzugeben, bei gleichzeitiger Aufforderung zur Wahlbeteiligung säkulare Tendenzen fördert.

„Der Irak ist unser Vater und unsere Mutter.“ Mit solch hochtrabenden Worten versucht Maliki vor hunderten von ihm extra nach Bagdad geladenen sunnitischen Stammesführer die Wähler von seiner national-irakischen Linie zu überzeugen. Für seine neugebildete Liste „Rechtsstaat“ gewann er aber nur kleine Gruppen von Sunniten, denn eine Serie katastrophaler Terroranschläge im August, Oktober und Januar haben dem von ihm gepflegten Image als Garant für Sicherheit schweren Schaden zugefügt hatten. Offen macht er nun dafür nicht Al-Kaida, sondern die Baath verantwortlich und verstrickt sich in den letzten Tagen vor der Wahl immer fataler in Widersprüche. Einerseits entschlossen, den „Ent-Baathifizierungs-Prozess“ intensiv voranzutreiben, wirbt er um sunnitische Stimmen, indem er plötzlich die erneute Einstellung von 20.000 Offizieren der 2003 aufgelösten irakischen Armee verkündet. „Nichts als Wahltrick“, meinen einflussreiche Sunniten. Denn der Schaden ist durch die Strategie angerichtet, durch Schüren des Hasses auf die Baath unter den von Saddam besonders gequälten Schiiten Malikis mächtigen schiitischen Gegnern Anhänger abzuluchsen.

Schon versetzt ein merkliches Aufflammen anti-baathistischer Gefühle, aufgestachelt auch durch Ankündigungen der „Kommission“, man werde Hunderte Beamte des Geheimdienstes, der Armee und Polizei „säubern“, die Sunniten in neue Ängste. „Wir glauben, es gibt noch weitere Tausende. Solche Maßnahmen werden die Sicherheit im Irak entscheidend stärken“, erklärt drohend Chalabis Stellvertreter Ali Faisal al Lami. Sollen auf diese Weise in Wahrheit Irans Wünsche nach Säuberung pro-amerikanischer Offiziere verwirklicht werden?

Mit solchen Manövern drängen Iraks derzeitige Machthaber die Sunniten erneut an den Rand. Ihre Beteiligung an den Wahlen wird darüber entscheiden, ob diese von der Macht gestürzte Minderheit endlich für sich eine Rolle im neuen Irak erkennt und wahrnimmt. Nur dann werden die Wahlsieger, wird eine neue aller Voraussicht nach aus mühseligem Tauziehen hervorgegangene Koalitionsregierung, vielleicht wieder unter Maliki, auch die Legitimität für sich in Anspruch nehmen können, die nötig ist, um endlich die für die Zukunft des Landes so grundlegenden offenen Fragen zu lösen.

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