Während die Kurden durch Wahlen intern „Veränderung“ suchen, droht die grausige Geschichte sie wieder einzuholen
Kurdistan, seit dem Sturz von Diktator Saddam Hussein 2003 eine Oase der Ruhe im blutig umkämpften Irak, schüttelt das Wahlfieber. „Goran“ (Veränderung) liegt in der Luft. Eine zunehmend mutige Zivilgesellschaft wagt erstmals die offene Herausforderung der beiden Großparteien, der „Kurdischen Demokratischen Partei“ (KDP) unter Massoud Barzani und der „Patriotischen Union Kurdistans“ (PUK), die seit 1991 die drei autonomen Kurdenprovinzen im Nord-Irak dominieren. „Goran“ nennt der PUK-Mitbegründer und heutige Rebell Nawshirwan Mustafa seine neugegründete Bewegung, die mehr Demokratie, mehr Transparenz, weniger Korruption und Nepotismus verspricht. Sie ist eine von 24 Parteien, die sich um Parlamentssitze bewirbt. Wiewohl zufrieden über die stabile Sicherheitslage Kurdistans im sonst so turbulenten Irak, doch verbittert über Vetternwirtschaft, Korruption und administrative Ineffizienz, strömen immer mehr Menschen zu „Goran“, je mehr der 25. Juli, Tag der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, herannaht. Irritiert haben sich die bitteren Rivalen KDP und PUK nicht nur zu einem Wahl-Bündnis zusammengeschlossen, sondern auch sie versprechen „Veränderung“, verbesserte Dienstleistungen und größere Sorge um sozial Benachteiligte. Kein Zweifel, Kurdistan rückt in diesen Julitagen der heißersehnten demokratischen Vorbildrolle in der von Autokraten dominierten Region ein Stück näher.
„Goran“ besitzt große Chance, die überwältigende Mehrheit der beiden Großparteien, die im scheidenden Regional-Parlament 104 der 111 Sitze innehatten, zu brechen. Und im Gegensatz zu anderen Ländern des Mittleren Ostens, ist die Opposition in Kurdistan gemäßigt, weitgehend säkular, liberal. Der Präsident Kurdistans, Massoud Barzani, muss sich zur selben Zeit auch mit vier Gegenkandidaten zur Wiederwahl stellen – ebenfalls ein Zeichen demokratischer Öffnung, wiewohl sein erneuter Sieg kaum infrage steht.
Ein Thema allerdings beherrscht diesen Wahlkampf nicht: Separation. Dennoch ist es gerade dieses den Kurden als größtes Volk der Welt ohne Staat historisch verwehrte Recht, das heute trotz des gemeinsamen Kampfes gegen die Terrorherrschaft Saddam Husseins und um einen neuen, demokratischen Irak die Beziehungen der arabischen Mehrheit mit den Kurden gefährlich belastet. Noch nie seit dem von den USA geführten Krieg gegen Saddam Hussein 2003, fürchten Experten, sei das Risiko eines blutigen Konflikts zwischen der Zentralregierung unter Premier Maliki und den Kurden so groß gewesen wie heute.
„Alles ist eingefroren, nichts bewegt sich“, klagt der Premierminister der Region Kurdistan, Nechirvan Barzani. „Wenn die Probleme nicht gelöst werden, wir uns nicht zu Gesprächen zusammensetzen, steigt das Risiko einer militärischen Konfrontation.“ Beide Seiten beschuldigen den anderen der Provokation. Tatsächlich haben in den vergangenen Monaten, insbesondere seit dem Abzug der US-Truppen aus den Städten am 30. Juni, Terrorakte und die Spannungen insbesondere zwischen kurdischen Peschmerga-Milizen und Regierungstruppen drastisch verschärft.
Uneinigkeit über die Verteilung der Öl- und Gasschätze, territoriale Dispute und die ausgebliebene nationale Versöhnung nennt Massoud Barzanis Website die wichtigsten ungelösten Konflikte mit Bagdad. US-Geheimdienste halten die „Grenzziehung“ zwischen der Kurdenregion und dem Rest des Iraks für den „wahrscheinlich explosivsten politischen Konflikt“, der die Stabilität des Iraks in den kommenden Jahren bedrohe. Doch die Suche nach einer Lösung stagniert. Tiefes Misstrauen zwischen der Regierung Maliki und ihrem kurdischen Koalitionspartner vergiftet zunehmend die Atmosphäre. Seit einem Jahr haben sich Barzani und Maliki nicht mehr getroffen. Araber in Bagdad werfen den Kurden „Landraub“ vor und empören sich über einen neuen Verfassungsentwurf für die Region Kurdistan, der die „umstrittenen Gebiete“ südlich der drei autonomen Provinzen Dohuk, Erbil und Suleymania als „historischen“ Teil Kurdistans bezeichnet, damit vor allem auch Kirkuk meint, das von den Kurden als „ihre Hauptstadt“ beanspruchte Ölzentrum, das etwa 20 Prozent der irakischen Schätze an „schwarzem Gold“ birgt. Premier Maliki wittert einen entscheidenden Schritt zu kurdischer Separation. US-Vizepräsident Biden, von seinem Chef Obama mit der Irak-Agenda beauftragt, eilte nach Bagdad und zwang die Kurden, ein auch für den 25. Juli geplantes Verfassungsreferendum aufzuschieben. Doch die Kurdenführer wollen dies nur bis September vertagen.
In den sechs Jahren seit dem Sturz Saddams haben es die Iraker nicht geschafft, mit der Bewältigung ihrer blutigen Vergangenheit, mit nationaler Versöhnung auch nur zu beginnen.
Die Folge sind wachsendes Misstrauen, wiederbelebte Existenzängste insbesondere der Kurden, die genozidartige Verbrechen erlitten und immer noch auf die Bestrafung der Täter, vor allem aber auf Kompensation Hunderttausender Opfer warten.
Kernproblem sind die „umstrittenen Gebiete“, die sich über Tausende Quadratkilometer südlich der 1991 von den Amerikanern zum Schutz der von Saddam verfolgten Kurden von der Grenze zu Syrien, bis zum Iran gezogenen „grünen Linie“ erstrecken. Es sind jene ölreichen Regionen, in denen der Diktator seine Arabisierungswelle, die Vertreibung von mehr als 250.000 Kurden, besonders intensiv betrieben hatte, die Araber in Bagdad nicht als Teil einer autonomen Kurdenregion anerkennen wollen. Das Problem scheint schier unlösbar, weil für beide Seiten Existenzfragen auf dem Spiel stehen. Kurdenführer lassen die Möglichkeit der Abspaltung offen, sollte man sich nicht nach einem in der Verfassung vorgesehenen Normalisierungsprozeß und auf Basis eines Referendums über den künftigen Status dieser Gebiete einigen. Bleibt die Einigung aus, befürchten die Kurden eine Wiederholung ihrer blutigen Geschichte.
Eine UNO-Kommission hat alte Landkarten, Dokumente und Bevölkerungszahlen studiert und Kompromissvarianten angeboten, die keine der Seiten bisher akzeptierte. Doch eine Entscheidung kann nicht länger aufgeschoben werden. Die Kräfteverhältnisse beginnen sich zu verschieben. Maliki gewinnt zunehmend an Autorität und lässt seine Muskeln gegenüber den Kurden spielen, nicht zuletzt auch, um sich damit gegenüber den arabischen Sunniten, die er als neuen starken Partner zu gewinnen hofft, als nationaler Champion aufzuspielen. Die neu aufgebaute irakische Armee gewinnt an Selbstbewusstsein und der Premier ist entschlossen, die kurdischen Peschmerga-Milizen, die auf Wunsch Bagdads und der Amerikaner in den „umstrittenen Gebieten“ seit fast sechs Jahren für Sicherheit sorgen, wieder zu verjagen. Er halte sich zurück, bis die Amerikaner vollends abgezogen seien, befürchten Kurden. Doch was er jetzt schon tue (Entsendung irakischer Truppen in Teile der „umstrittenen Gebiete“) „erscheint uns als wiederhole sich die Geschichte“, klagt Fuad Hussein, Barzanis Stabschef.
Die Parlamentswahlen im Januar werden die Macht der Kurden in Bagdad unweigerlich schwächen, weil sie die arabischen Sunniten nicht wieder, wie zuletzt 2005, boykottieren werden. In dem bereits begonnenen Wahlkampf bleibt die Kompromissbereitschaft vollends auf der Strecke.
„Ich glaube, wir befinden uns heute in einer Situation, in der zwar keine Seite Krieg will“, analysiert ein westlicher Diplomat, „doch alle sind hoch bewaffnet und in Spannungen steigen stetig derart, dass ein kleiner Zwischenfall“ einen blutigen Konflikt auslösen kann, der den Irak für Jahre in Atem zu halten drohe. In dieser Situation hoffen die Kurden, dass es ihnen gelingt, ihren einzigen langjährigen Freund und Beschützer, die Amerikaner, von dem für 2011 geplanten totalen Abzug aus dem Irak, zumindest aber aus ihrer autonomen Region, abzuhalten.