Zwei Jahre nach Beginn des Freiheitskampfes gegen Diktator Gadafi rufen viele nach einer „zweiten Revolution“
von Birgit Cerha
In Tripolis herrscht Partystimmung. Begeistert stürmen die Bürger der libyschen Hauptstadt die Geschäfte, um sich mit Fahnen und Flaggen des neuen Libyen auszustatten. Sie dekorieren damit ihre Häuser, ihre Straßen, ihre Arbeitsstätten. Ja selbst die rudimentären Reste des Militärs reißt der Enthusiasmus mit. Soldaten stecken Flaggen auf ihre Waffen, schmücken damit Militärfahrzeuge. Tagelang will man in der Hauptstadt den 17. Februar 2011 feiern, den Jahrestag des Revolutionsbeginns gegen die 41-jährige Diktatur Muammar Gadafis.
Doch nichts illustriert deutlicher die bedrohliche Schwäche dieses befreiten Landes als die gegensätzlichen Gefühle der Menschen. Während Tripolis in Euphorie schwelgt, rüstet sich Benghazi, die „Wiege der Revolution“ im Osten, für Massendemonstrationen gegen die neuen Herrscher. Schon erschallen dieselben Rufe, die einst die Massen Gadafi zugebrüllt hatten: „Das Volk fordert den Sturz des (neuen) Regimes!“ Flugzettel werden verteilt, die zur „Volksrevolte“ aufrufen, zu zivilem Ungehorsam, der das neue Regime zu Fall bringen soll. Bürger werden aufgefordert, große Vorräte an Lebensmitteln und Treibstoff anzulegen, um einen Totalstreik im Land durchzustehen, der nach den für heute, Freitag, geplanten Massendemonstrationen beginnen soll. Libyens Herrscher sollen zu einem „Korrekturweg“ gezwungen werden. Die Sicherheitskräfte stehen in höchster Alarmbereitschaft, vier Tage lang bleiben die Grenzübergänge zu Tunesien und Ägypten geschlossen. Denn viele fürchten, diverse extremistische Gruppen, von Islamisten, über Anhänger des gestürzten Regimes bis zu Kriminellen, könnten die geplanten friedlichen Kundgebungen in Benghazi nutzen, um die Destabilisierung des Landes voranzutreiben. Flugzettel tauchten im Osten auf, in denen Anhänger des Gadafi-Regimes den 15. Februar 2013 zum Beginn einer Revolution deklarieren, die sie an die Macht zurückführen werde.
16 Monate nach dem gewaltsamen Tod Gadafis fühlen sich die Bewohner Benghazis in gegensätzliche Richtungen gezerrt, verunsichert durch schwere Spannungen zwischen mächtigen auf ihre „revolutionären Verdienste“ stolzen Milizen, Anhänger der alten Ordnung, aber auch zwischen Islamisten und deren Gegnern, Anhängern und Gegnern einer aufkeimenden föderalistischen Bewegung , die das Land auseinanderzureißen droht. Doch auch die einfachen Bürger in Benghazi quält die bittere Enttäuschung über die ausgebliebenen Veränderungen und die Sorge, das von Gadafi über Jahrzehnten aus politischen Gründen vernachlässigte Benghazi werde auch im neuen Libyen sträflich marginalisiert.
„Libyen steht heute an derselben Kreuzung, die vor zwei Jahren zur Revolution gegen Gadafi geführt hatte“, analysiert der politische Aktivist und Publizist Abdel Qader Bon Hamda. Die Revolution wurde nicht vollendet, das Land ist schwach, die Grundprobleme blieben ungelöst. Pessimisten befürchten angesichts der katastrophalen Sicherheitslage die Geburt eines „Somalia“ am Mittelmeer, eines „gescheiterten Staates“, in dem allerlei Kriminelle und politische Gewalttäter nach Herzenslust ihr Unwesen treiben und ihren Terror exportieren.
Doch das „neue Libyen“ hat durchaus auch eine positive Bilanz vorzuweisen. Die Ölproduktion hat nach dem monatelangen Krieg wieder fast den vorherigen Stand erreicht und die Einkünfte werden schon seit vielen Monaten nach einem komplexen Ausgabenprogramm direkt an die Bevölkerung, an lokale Stammesführer und Milizionäre verteilt, deren Interesse am Schutz der Ölanlagen damit gestärkt wird. Im Gegensatz zu Ägypten, gibt es in Libyen keine tief verwurzelte Offiziersklasse, da Gadafi die regulären Streitkräfte aus Angst vor einem Putsch stets schwach gehalten hatte. Somit können weder Offiziere, aber auch nicht die Justiz den Weg zu größerer politischer Mitbestimmung blockieren. Einen wichtigen Lichtblick auf Libyens revolutionärer Reise markierten die Wahlen zum „Allgemeinen Nationalkongress“ am 7. Juli 2012. In der ersten, eindrucksvollen demokratischen Übung entschied sich das Volk mit relativ hoher Beteiligung mehrheitlich für Technokraten-Kandidaten und nicht für dogmatische Islamisten. Im ganzen Land setzten Bürger eindrucksvolle politische und soziale Initiativen und bemühten sich, das politische und administrative Vakuum zu füllen, das sich durch den Zusammenbruch des Regimes bedrohlich geöffnet hatte. So gelang es auch, Libyen vor einem zerstörerischen Bürgerkrieg zu bewahren, wie ihn etwa der Irak oder auch Afghanistan erlebten und immer durch durchleiden.
Dennoch, die Herausforderungen und Gefahren sind gigantisch und die größte ist die fehlende Sicherheit. Bis heute gelang es den neuen Herrschern nicht, die unzähligen Milizen, die sich in der Zeit der Revolution gebildet und massiv bewaffnet haben, aufzulösen, und in die Gesellschaft zu integrieren. Bis heute gelang es nicht, schlagkräftige Sicherheitskräfte aufzubauen, die die militante Gruppen entwaffnen könnten. Politische Interessen der neuen Führer spielen bei diesem Versagen eine wichtige Rolle, aber auch die Geografie, die Unmöglichkeit, die weiten Wüstengebiete und die Grenzen vollständig zu kontrollieren, die Nachbarn, wie etwa jüngst im Falle des von aus Libyen eingedrungenen Al-Kaida-Islamisten bedrohten Mali geschehen, gegen mörderische Extremisten zu schützen.
Vor allem aber ist es den neuen Führern bisher nicht gelungen, die Autorität des Staates wieder herzustellen und entschlossen den Weg zu einem neuen System zu bahnen. Erst am 6. Februar entschied der „Allgemeine Nationalkongress“, dass die 60 Mitglieder eines verfassungsbildenden Komitees, wie von weiten Kreisen gefordert, direkt gewählt werden sollen. Erst dann kann überhaupt erst die Diskussion über eine neue Verfassung beginnen, in der es um Grundfragen wie die entscheidende Rolle des islamischen Rechts, der Scharia, geht, aber auch um die von den Ostlibyern gewünschte Föderation.
Viele Libyer schließen sich den Proponenten des „Korrekturweges“ an und fordern entschlossenen Kampf gegen Korruption, die Aufhebung der repressiven Gesetze aus der Gadafi-Ära, ein Ende der Unterdrückung der Meinungsfreiheit und die rasche Entwicklung eines ökonomischen und sozialen Aufbauprogramms in vernachlässigten Regionen, insbesondere im Osten. „Die Macht im heutigen Libyen liegt auf den Straßen Benghazis“, zitiert die unabhängige Zeitung „Libyen Herald“ einen Geschäftsmann aus der Stadt. Und er könnte recht haben: Je mehr Menschen sich an den Demonstrationen der nächsten Tage zur Durchsetzung ihrer Forderungen beteiligen, desto größer werden die Zugeständnisse ausfallen, zu denen sich der Nationalkongress gezwungen fühlen wird.
Donnerstag, 14. Februar 2013
Schwaches Libyen feiert und demonstriert
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