Augenzeugenbericht von „Al Jezira“ in der unter massiver Attacke stehenden nordwest-syrischen Stadt Idlib: „Inhuman und barbarisch“
von Birgit Cerha
„Syrien stirbt. Es ist ein blutiges Geschenk an den schweigenden Westen.“ So betitelt ein syrischer Aktivist in „Youtube“ gestellte, schockierende Aufnahmen vom Leiden der von den Schergen des syrischen Regimes gequälten Zivilbevölkerung. Nach der äußerst brutalen Eroberung von Baba Amr, einem Rebellen-Stadtviertel in Homs, wendet sich die Armee Baschar el Assads nun mit voller Kraft dem nordwest-syrischen Grenzgebiet zu, der an die Türkei angrenzenden Provinz Idlib, wo sich die Opposition gegen das alawitische Regime seit vielen Monaten konzentriert.
Vor einigen Tagen zogen rund 50 Panzer der syrischen Armee einen Ring um die etwa 150.000 Einwohner zählende Stadt Idlib. Eine massive Attacke begann am Wochenende. Ein Team des arabischen Fernsehsenders Al-Jezira hielt sich als einzige internationale Fernsehstation zu diesem Zeitpunkt in der Stadt auf und sendete nun einen zutiefst schockierenden Bericht. Danach befürchten die Bewohner der Provinz noch weit schlimmere Massaker als sie Baba Amr durchlitten hatte.
„Die Realität ist schauerlich“, so Al Jezira. „Tagelang beobachteten die Einwohner, wie die Armee den Ring um die ganze Stadt immer enger zog“, anders als in Homs, wo die Menschen in einigen Stadtvierteln zu Assad stehen und in einigen rebellierten. In Idlib hat sich die Bevölkerung geschlossen gegen das Regime erhoben, fordert Freiheit, ihre eigene Verwaltung und Demokratie. Hier betrachtet das Regime alle als Feinde. „Die Regierungsmaschinerie rollte in die Stadt“, berichtet Al-Jezira, „mit schweren Geschützen und bombardiert mit Panzergranaten, Artillerie, Maschinengewehren von Schützenp0anzern“ wahllos Straßenzüge, Plätze, Geschäfte, Häuser, Menschen. Jeder kann getroffen werden, die Attacken sind unvorhersehbar. „Niemand weiß, wo das nächste Geschütz explodiert. Die Menschen sind total terrorisiert, laufen in alle Richtungen. Es sind Szenen des Horrors, den die internationale Gemeinschaft hätte vorhersehen und vielleicht verhindern können.“
Die Korrespondentin klagt über das gravierende Ungleichgewicht der Kräfte, die „Söhne der Stadt“, die mit ein paar veralteten Gewehren „ihre Heime und Familien“ gegen eine übermächtige relativ modern ausgerüstete Armee zu verteidigen suchen. Tatsächlich haben sich junge Männer der Region schon seit Monaten wohl vor allem zum Schutz gegen solche Attacken auf dem Schwarzmarkt schlecht und recht mit diversen Waffen ausgestattet. Doch die Region ist – im Gegensatz etwa zu den einstigen Rebellenhochburgen in Libyen – bitter arm und die Schwarzmarktpreise für die heißbegehrten Tötungsmaschinerien schnellten in die Höhe. Eine Kalaschnikov kostet heute 1.300, eine einzige Kugel drei Dollar. Der Bevölkerung fehlt dafür das Kapital. Nach dem Bericht eines in die Türkei geflüchteten Offiziers hatte ein saudischer Millionär jüngst Rebellen in der Region 10.000 Dollar für den Kauf von Waffen gespendet. „Doch die Menschen brauchten das Geld, um sich vor Hunger zu schützen“, betonte der Deserteur, der aus Sicherheitsgründen seinen Namen lieber verschweigt.
Nach Aussagen von „Al Jezira“ kämpfen in Idlib ausschließlich Bürger der Stadt und der Provinz, um ihre Familien zu schützen. „Hier gibt es keine ausländischen Bewaffneten“, keine Terroristen, wie das Regime zu behaupten liebt. Vielmehr „lehnten die Kämpfer vergangenen Samstag von außen angebotene Hilfe ab“, wohl in der vergeblichen Hoffnung, das Assad-Regime nicht noch mehr zu provozieren.
Assad räumt der Region Idlib besondere strategische Bedeutung ein, da hier Rebellen der „Freien syrischen Armee“ , von der Türkei unterstützt, Stützpunkte errichtet haben. Fällt dieses Grenzgebiet in Rebellenhand, könnte es bewaffneten Oppositionellen, ähnlich wie das libysche Benghazi, eine vom Ausland unterstütze Basis für wirkungsvollere Attacken gegen die syrischen Sicherheitskräfte bieten. Syriens Grenzgebiete zur Türkei und zum Libanon voll unter Kontrolle zu bekommen, zählt zu den wichtigsten strategischen Prioritäten Assads.
„Es ist inhuman und bestialisch“ was in Idlib geschehe, sagt die Reporterin. „Das Regime fühlt sich unantastbar und die Menschen in Idlib, werden sich fragen – wenn sie überhaupt in diesem Horror noch den Luxus zum Nachdenken finden – welche Werte die internationale Gemeinschaft noch verteidigt, wenn sie sie so verwundbar, so wehrlos einem gnadenlosen Regime ausliefern.“ Und viele fragen konsterniert: „Kann uns denn wirklich niemand helfen?“
Montag, 12. März 2012
SYRIEN: „Szenen des Horrors“ in Idlib
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