Mittwoch, 8. Juni 2011

Dramatische Eskalation in Syrien

Was geschah wirklich in Dschisr al Schogur? – Bewohner der Grenzstadt befürchten ein Massaker durch Assads Sicherheitstruppen

von Birgit Cerha


Dschisr al Schogur, rund 30 km von der syrischen Grenze zur Türkei gelegen, glich Montag einer Geisterstadt. Bewohner, die trotz Zusammenbruchs der Telekommunikation die Außenwelt erreichten, berichteten von Panikflucht ihrer Mitbürger, während an die 2000 junge Männer die Straßen patrouillieren und Häuser bewachen, nicht zuletzt, um Behauptungen der Regierung zu widerlegen, die Stadt werde von „bewaffneten Banden“ terrorisiert. Zugleich errichteten jugendliche Aktivisten Straßenbarrikaden, um einen drohenden Einmarsch der staatlichen Sicherheitskräfte zu verhindern. Wie Human Rights Watch beleget, hatten Regierungstruppen schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt, als sie nach Aufständen in die südsyrische Stadt Deraa einmarschiert waren. Die Menschen von Dschisr al Schogur befürchten nun ähnliche Verbrechen.

Innenminister Ibrahim Schaar kündigte Montag vielsagend eine „scharfe und entschlossene“ Aktion auf die Tötung Angehörigen der Sicherheitskräfte in der Stadt an. Offizielle Stellen sprechen von einem „wahren Massaker“, für das sie „bewaffnete Banden“ verantwortlich machen, die u.a. das Hauptquartier der Sicherheitskräfte attackiert hätten. Es gelte, so heißt es offiziell, die Bevölkerung gegen diese „Banden“ zu schützen.

Was wirklich in Dschisr al Schogur geschah, blieb Montag unklar, da die Behörden unabhängigen Beobachtern den Zugang zur Stadt verweigern. Bewohner widersprachen gegenüber BBC heftig der offiziellen Version. Es hätte in Dschisr al Schogur lediglich friedliche Proteste gegeben, die in den vergangenen Tagen allerdings enorme Menschenmengen in die Straßen gebracht hätten. Nach einigen Berichten hatten die Sicherheitskräfte auf eigene Leute geschossen und anschließend begonnen, Häuser zu stürmen und auszurauben. Ein Aktivist meldete, er hätte innerhalb des Hauptquartiers Schießereien gehört, bevor es zu dem Blutbad gekommen sei.

Welche der beiden Versionen auch zutreffen mag, fest steht, dass die Ereignisse von Dschisr al Schogur eine dramatische Eskalation der Revolte gegen das Regime Assad markiert. Es ist das erste Mal, dass das Regime eine derart hohe Opferzahl bei den Sicherheitskräften zugibt. Manche Oppositionelle halten dies für einen Trick, um eine massive Vergeltungsaktion gegen die Stadt zu rechtfertigen. Es könnte jedoch auch der Wahrheit entsprechen und ein erstes alarmierendes Signal für ein Auseinanderbrechen der Streitkräfte sein. Seit Assads Schergen mit Panzern und schweren Geschützen unbewaffnete Bürger töten und terrorisieren, um durch Friedhofsruhe die Macht des Regimes zu retten, mehren sich die Berichte von Menschenrechtsaktivisten über Desertionen von Soldaten, die sich weigern, unschuldige Mitbürger zu ermorden. Immer wieder würden solche rebellierende Soldaten von den eigenen Leuten erschossen. Zuletzt strahlte der Satellitensender „Al Jezira“ das erste Videobekenntnis eines Abtrünnigen aus. Der Armee-Offizier Abdel Razzak Mohammed Tlass, Mitglied einer prominenten Familie, die lange einen Verteidigungsminister stellte, erklärte seinen Schritt als Protest gegen die „Verbrechen“, deren er in Deraa Zeuge gewesen war. Je länger das Regime an seiner menschenverachtenden Repressionspolitik festhält, desto mehr Angehörige der Streitkräfte werden unweigerlich Tlass‘ Beispiel folgen.

Beobachter schließen jedoch nicht aus, dass sich angesichts der ungeheuerlichen Brutalitäten des Regimes der Zorn der Bürger derart steigert, dass sie nun beginnen, zu Waffen zu greifen. Immerhin starben während dreimonatiger Proteste mehr als 1.300 Menschen, 10.000 wurden verhaftet.

Dschisr al Schogur liegt in der bitterarmen Landwirtschaftsprovinz Idlib und ist seit langem Hort sunnitischen Konservativismus. In den 80er Jahren war die Stadt nach Aufständen durch Moslembrüder vom alawitischen Regime heftig bombardiert worden, Ereignisse, die die Bürger nicht vergessen haben. Die Nähe zur türkischen Grenze ermöglicht den Menschen zudem einen regen Schmuggel von Waffen. „Die ganze Region“, in der auch die Unruhestädte Hama und Homs liegen, „erhebt sich“, meint ein Aktivist. Und das Regime will blutige Ruhe erzwingen, wie in Deraa nahe der jordanischen Grenze, und der unweit der libanesischen Grenze gelegenen Küstenstadt Baniyas.

Analysten sind überzeugt, Assad will unter allen Umständen verhindern, dass Grenzstädte der staatlichen Kontrolle entgleiten und, wie etwa im libyschen Benghazi, den Regimegegnern Stützpunkte und desertierenden Soldaten Zufluchtsorte bieten und damit die Chance wesentlich verbessern, das Regime zu Fall zu bringen.

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