Sonntag, 1. August 2010

AFGHANISTAN: Was denken die Afghanen?

von Dr. Arnold Hottinger

Die zivilen Fachleute, die Beobachter und die Militärs sind sich alle einig darüber, dass der Krieg in Afghanistan nur "gewonnen" werden kann, wenn die afghanische Bevölkerung sich von den Taleban lossagt und entschlossen hinter die Regierung Karzai stellt. - Doch es ist keineswegs sicher, dass sie das tut. Vorläufig scheint sie sich eher in wachsendem Masse von der Regierung Karzai und den sie stützenden militärischen Kräften der NATO und amerikanischen Truppen abzuwenden, wenn nicht gar loszusagen. Natürlich ist es nicht leicht, einen Überblick darüber zu gewinnen, wie die afghanische Bevölkerung wirklich denkt. Dies aus zwei Hauptgründen, 1) die im Lande herrschende Gewalt, erlaubt es nicht Allen, vielleicht sogar nur einer kleinen relativ privilegierten Minderheit, ihre Meinung frei zu äussern; für Viele ist dies zu gefährlich. Und 2) herrschen gewaltige Unterschiede zwischen den Afghanen, so das man annehmen muss, es gäbe auch dementsprechend unterschiedliche Grundeinstellungen und Meinungen.
Tiefe Trennungslinien
Die Haupttrennungslinien verlaufen horizontal zwischen den Städtern und den Bewohnern des Landes, aber auch vertikal zwischen den unterschiedlichen "Stämmen", in Wirklichkeit handelt es sich um Ethnien, die den Vielvölkerstaat Afghanistan bewohnen, und die ihrerseits wieder in vielen Fällen in Stämme unterteilt sind. Die Landbewohner finden sich über ein riesiges, über gewaltige Strecken hin nicht bebaubares, Wüsten- und Bergland verstreut, isoliert in abgeschiedenen Dörfern oder aufgespaltet Wandergruppen, die sich durch unendliche Einsamkeiten bewegen, oftmals ohne Kontakt mit der Regierung von Kabul, die theoretisch ihre Regierung wäre, wenn sie sie überhaupt zur Kenntnis nähme.
Die Stadtbewohner leben in relativem Luxus für dünne Oberschichten von Privilegierten, oftmals Spekulanten und Geschäftemachern, und in grösster Armut für gewaltige Massen von Halbobdachlosen und Slumbewohnern. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich gegenwärtig immernoch weiter. Im grossen und ganzen sind die reicheren Leute auch jene, die mehr mit den „westlichen“ Werten und Lebensformen gemeinsam haben. Die ärmeren können sich das nicht leisten, die ärmsten am wenigsten. Sie sind die grosse, überwiegende Mehrzahl der Afghanen. Es ist nicht anzunehmen, dass bei all diesen sehr unterschiedlich situierten Menschen ähnliche politische Ausrichtungen und Einstellungen vorliegen.

Wachsende Abneigung gegen Nato und USA
Man gewinnt den Eindruck, dass es bisher den Nato-Truppen und den westlichen zivilen Hilfsorganisationen nicht gelungen ist, einen Stimmungsumschwung von den Taleban weg und hin zu den Alliierten und der in ihrem Schutz stehenden Karzai Regierung zu bewirken. Vielmehr herrscht der Eindruck vor, dass die Taleban im Begriff sind, wachsende Zahlen von Menschen für sich einzunehmen oder auf ihre Seite zu zwingen.
Dieser Eindruck bestand nicht, als im Jahre 2001 die amerikanischen Truppen mit Hilfe der Kämpfer von Ahmed Schah Mas'ud die Taleban aus dem Afghanistan vertrieben. Damals ging offenbar eine Welle der Erleichterung über das Land. Besonders in den Städten war sie spürbar. Die Afghanen schienen beglückt darüber, dass das Zwangsregime der Taleban gestürzt worden war. Was hat bewirkt, dass sich die Lage seither gewendet hat? - Man kann eine lange Kette von Gründen anführen.
Sicherheit steht oben an: es ist den amerikanischen und alliierten Truppen nicht gelungen, die Sicherheit der Afghanen zu garantieren. Im Gegenteil, seit 2001 hat sich diese beständig verschlechtert. Die Gründe: einerseits Fehler der Amerikaner und Nato Truppen, andrerseits Erfolge der Taleban, die aus ihren Asylpositionen aus Pakistan zurückkehren und weite Teile des Landes ganz oder teilweise unter ihre Herrschaft zu bringen vermochten.
Die westlichen Truppen waren von Beginn an viel zu wenige, um das ganze Land zu kontrollieren und abzusichern. Dass nicht mehr zur Verfügung standen, hing mit dem völlig sinnlosen Krieg zusammen, den Bush und seine neokonservativen Ratgeber und Mitarbeiter unbedingt im Irak entfachen wollten. Gerade weil die Dinge dort nicht nach den Wunschträumen der neokon Ideologen verliefen, bestand eine grosse Besorgnis um den irakischen Feldzug. Diese Sorgen drängten Afghanistan für lange Jahre in die Vergessenheit. Die dortigen Truppen und zivilen Behörden sahen sich gezwungen, mit den ausserhalb der Hauptstadt herrschenden und grossenteils sofort nach der Vertreibung der Taleban zurückgekehrten Warlords zu paktieren, indem sie ihnen praktisch die Herrschaft in den aussenliegenden Provinzen und Städten überliessen. Sie mussten aus Mangel an eigenem Personal zugeben, dass die Warlords ihre eigenen Milizen wiedereinstellten und für deren Unterhalt wie gewohnt das Land auszusaugen begannen.


Entscheidende Hilfe aus Pakistan für die Taleban Opposition
Die Macht der Besetzungstruppen war 9 Jahre lang weitgehend beschränkt auf die Hauptstadt, und sie ist es bis heute geblieben. Die Taleban aber, unterstützt vom pakistanischen Geheimdienst ISI fanden, nicht nur Asyl und Hilfsgelder in Pakistan sondern auch finanzielle und militärische Unterstützung für ihre Rückkehr als Guerilla Kämpfer nach Afghanistan bei den pakistanischen Geheimdiensten. Da Pakistan gleichzeitig als "Verbündeter Amerikas" viel Geld und Waffen erhielt und weil diese Gelder für Pakistan und für die pakistanische Armee lebenswichtig waren, spielte Pakistan stets ein doppeltes Spiel.
Wir wissen heute, teils aus Forschungen britischer Wissenschafter 1), teils aus vor kurzem bekannt gewordenen Tausenden von geheimen Armeepapieren der Amerikaner, die ins Internet gelangten 2) , dass die Zusammenarbeit von ISI mit den Taleban (deren Entstehung und Ausbreitung von 1994 an ja schon weitgehend auf ISI zurückging) auch nach der Niederlage von 2001 viel intensiver war, als es auch die best eingeweihten und in dieser Hinsicht klarsichtigsten Beobachter, wie etwa Ahmed Rashid 3), hatten durchblicken lassen.
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1) LSE : The Sun in the Sky: The Relationship between Pakistan's ISI and Afghan insurgents, Discussion Paper No : 18 (series 2)Author(s) : Matt Waldman, Date : June 2010 [PDF]
2) http://www.guardian.co.uk/world/series/afghanistan-the-war-logs Vgl. auch “Der Spiegel” und NYT http://www.nytimes.com/2010/07/26/world/asia/26warlogs.html?_r=4&pagewanted=all
3) Descent into Chaos, Allen Lane and Penguin, London 2008 p.370f, 401 und an vielen anderen Stellen, s. Index. Eine neuere Analyse von A. Rashid, s. A Decisive Year (2010) , Story from BBC NEWS: http://news.bbc.co.uk/go/pr/fr/-/2/hi/south_asia/8424289.stm Published: 2010/01/04 10:28:57 GMT
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Die Amerikaner wussten über dieses Doppelspiel Bescheid. Wie unter anderem aus den geheim gehaltenen Militär- Papieren hervorgeht, die kürzlich von Wikileak veröffentlicht wurden. Doch sie liessen es sich nicht anmerken und ermahnten ihre pakistanischen Verbündeten nur hier und da in milden, "diplomatischen" Tönen. Offenbar waren und bleiben sie auf die Mitarbeit Pakistans so sehr angewiesen, dass es ihnen unmöglich ist, mit dem Land zu brechen, über das ihre meisten Nachschübe nach Afghanistan kommen - genauso wenig, ja noch weniger, als sie mit den afghanischen Warlords brechen konnten. Den pakistanischen ISI Offizieren war diese Lage natürlich bekannt. Sie bemühten sich deshalb, ihre Zusammenarbeit mit den afghanischen Taleban soweit wie möglich versteckt zu halten und wo notwendig verbal abzustreiten.
Auch den amerikanischen Geheimdienstleuten und Offizieren, sowie Diplomaten und Regierungsvertretern lag nichts daran, Gegebenheiten anzuprangern, die sie nicht ändern konnten. Doch die Macht der Taleban in den ländlichen Regionen Afghanistans wuchs beständig an. Sie waren über die Jahre hin mehr und mehr in der Lage, die afghanische Landbevölkerung zu bedrohen, und sie zögerten nicht, ihre Drohungen wahr zu machen, indem sie „Hinrichtungen“ durchführten, sooft sie vermuteter Kollaborateure mit den Amerikanern und Nato Truppen habhaft wurden. Die Bevölkerung weiter Gebiete musste damit rechnen, und muss es noch heute, dass gelegentlich tagsüber eine oder die andere Militärpatrouille der westlichen Besetzungsmächte vorbeikommen könnte. Leute, die weder die Sprache noch die Gebräuche der Bevölkerung auch nur im entferntesten kennen und die daher in keiner Hinsicht in ihren Dörfern Bescheid wissen, so dass ihrem Zugriff relativ leicht zu entkommen ist. Aber sie wussten auch, dass die Taleban in wachsendem Masse in der Lage waren, des Nachts in ihre Dörfer einzudringen und dort die Massnahmen zu ergreifen, die ihren Zielen dienten. Dies führte zu der Situation, die eine afghanische Abgeordnete schildert:
In early July(2010), one female MP from the southern region of Afghanistan told me, "we do not want our people to beheaded and their hands chopped off by the cruel militants, but the people are silent because they don't have any alternative. The government that should protect them rather leaves them behind and runs away.” Wazhma Frogh, in Wash. Post, 14.7. 10 “Afghanistan Politics Should be Local.”Siehe
(http://afpak.foreignpolicy.com/posts/2010/07/14/afghanistans_politics_should_be_local).

Die ethnischen Spannungen trugen dazu bei, die Rückkehr der Taleban zu fördern. Die Paschtunen bilden die knappe Mehrheit der afghanischen Bevölkerung (ca. 52%), und sie waren, seitdem es einen Staat Afghanistan gibt, das Staatsvolk. Das heisst, soweit es eine zentrale Regierung gab, sassen überwiegend Personen ihrer Gemeinschaft, ihrer Ethnie am Ruder des Staates. Sie regierten in Kabul, und Kabul war darauf einerseits bedacht, den paschtunischen Landsleuten in der Zentrale allerhand Vergünstigungen zukommen zu lassen und ihren andrerseits in ihren Landesteilen und unterschiedlichen Stämmen, sowie in ihrer „Landeshauptstadt“ Kandahar, eine gewisse Selbstständigkeit zu gewähren.
Der ganze nur nach äusserlich modernisierte und zentralisierte „Nationalstaat“ Afghanistan beruhte in Wirklichkeit auf Klientelstrukturen, die man auch patrimoniale Strukturen nennt, und die wichtigste und ausgedehnteste Patrimonialstruktur Afghanistans war die in paschtunischen Händen liegende Regierung von Kabul, in königlichen Zeiten so gut wie in diktatoralen Epochen.

Die zweitgrösste der afghanischen Ethnien, die Tajiken (gute 20 %), leben
entweder als Bauern in den Dörfern oder als Händler, Handwerker und
Geschäftsleute in den Städten. Sie waren und bleiben der beweglichste und
modernste Teil der Bevölkerung, auf Kontakte über das ganze Land und mit
dem Ausland angewiesen. Ihre Sprache, Dari, eine Form des Persischen, dient
allen Afghanen als Umgangssprache, die über die Sprachgrenzen hinweg
Verwendung findet. Ihre Position im Lande kann man als jene der
„Technokraten“ beschreiben, die notwendig waren, um das zentrale System, das
in paschtunischen Händen ruhte, zu finanzieren und die geschäftliche
Zirkulation im ganzen Land aufrecht zu erhalten. Diese Funktion verlieh den
Tajiken eine untergeordnete aber unentbehrliche Zweitposition.

Die übrigen Ethnien, Usbeken, Aymaqen, Hazara, und mehrere kleinere, sind
eher von lokaler Bedeutung. In den zehn Jahren der Guerilla gegen die
Sowjetunion kämpften die unterschiedlichen Gruppen der Guerilla getrennt
nach Ethnien. Sogar die Kommunistische Partei Afghanistans war ihrer Zeit in
zwei sich bitter bekämpfende Flügel gespalten. Einer war der paschtunische, der
andere jener der Tajiken. Jeder „Warlord“, auch Kommandant genannt,
zog mit Kämpfern seiner eigenen Ethnie in den Krieg, und nach der Vertreibung
der Russen, von 1989 bis 2001, kämpften Paschtunen, Tajiken und Hazara,
jeweilen unter Warlords ihrer Ethnie, gegeneinander.

Die Taleban waren um Kandahar herum entstanden und (mit entscheidend
wichtiger Unterstützung durch ISI) zuerst 1994 dort an die Macht gelangt. Sie
Sind bis heute primär Paschtunen geblieben. Auf die Paschtunen haben die pakistanischen Geheimdienste direkteren Zugriff als auf die anderen Ethnien, weil grosse Teile der paschtunischen Stämme in den pakistanischen Stammesgebieten jenseits der als Grenze dienenden Durand Linie leben.


Amerika stützte sich auf die Tajiken

Als 2001 die Amerikaner in den afghanischen Bürgerkrieg eingriffen, hatten die
Taleban fast das ganze Land unter ihre Herrschaft gebracht. Nur im Nordosten
hielt sich noch die Gruppierung des (wahrscheinlich von den Taleban oder von
al-Qa’eda, ihrem damaligen Verbündeten) durch Selbstmordbombenanschlag
ermordeten „Nationalhelden“ des afghanischen Jihad, Ahmed Schah Mas’ud,
gegen die Taleban. Die Amerikaner verliehen diesen tajikischen
Kämpfern Luft- und Waffenhilfe und konnten Ende 2001 dank ihrer Hilfe die
Taleban leicht aus dem Lande vertreiben.

Schon Mas’ud war ein bitterer Feind von ISI gewesen. Solange er lebte und kommandierte, liess er keine Gelegenheit vorübergehen, ohne darauf hinzuweisen, dass er und seine Leute in Wirklichkeit nicht gegen die Taleban sondern gegen die Pakistani kämpften, die mit ISI hinter den Taleban standen und ihren Einsatz leiteten.

Diese Vorgeschichte ist wichtig, weil sie das Grundgefühl der Paschtunen erklärt. Die Niederlage der Taleban durch die Amerikaner und die Tajiken Mas’uds erscheint ihnen als eine Niederlage ihrer Ethnie, die durch sie ihrer angestammten Position als Staatsvolk in Afghanistan beraubt wurde. Eine Revanche der Taleban, wie sie gegenwärtig immer mächtiger in Erscheinung tritt, bedeutet für sie auch eine Rückkehr ihrer Ethnie in die, wie sie glauben, ihnen zustehende Zentralposition als Herren über die patrimoniale Zentrale von Kabul. Sie haben sich deshalb mit zunehmender Entschlossenheit hinter die Taleban gestellt. Für viele von ihnen steht nicht die islamistische Ideologie dieser Leute im Zentrum sondern ihre Zugehörigkeit zu den Paschtunen, deren Rückkehr zur Macht sie zu ermöglichen versprechen.

Auch Präsident Karzai ist Paschtune, und dies war ein Hauptgrund dafür, dass ihn die Amerikaner ursprünglich in die Präsidentenposition zu befördern suchten. Sie hofften dadurch die Abneigung der Paschtunen gegen die neue Ordnung in Afghanistan zu vermindern. Doch die Paschtunen sehen in dem Präsidenten und in seinem ganzen Stamm, dem der Popolzai, eher Kollaborateure als Vertreter ihrer Interessen. Dies schon deshalb weil ihre alten Rivalen und Feinde, die Tajiken Mas’uds, führende Positionen in der neuen Regierung erhielten.Auch der engere Klan Karzais gehört heute zu den grossen Gewinnmachern in Kabul. Karzai wird daher von seinen paschtunischen Landsleuten als eine Frontperson für die Tajiken und die Amerikaner abgelehnt.
Diese Konstellation bewirkt, dass die Taleban als Grundlage für ihre Werbung nicht nur auf ihre Ideologie, einen besonders eng verstandenen Islamismus, zählen können, sondern auch auf die ethnische Solidarität der Paschtunen, oder jedenfalls der grossen Mehrheit von ihnen. Nicht von ungefähr war der Hauptgegenspieler Karzais in den Präsidialwahlen von August 2009 der Tajike Abdullah Abdullah. Doch er ist nicht ein Angehöriger des der Regierung nahestehenden Tajiken Klans, der sich um Ahmad Schah Mas’ud geschart hatte, und seine Chancen eine Mehrheit zu gewinnen, waren trotz der geringen Beliebtheit des Präsidenten bei den meisten Afghanen schon aus diesem Grunde gering - ganz abgesehen von den massiven Wahlfälschungen, die von den Anhängern des Präsidenten organisiert wurden.



Fremde Soldaten sind Besetzungssoldaten

Ein weiterer Vorteil der Taleban im Ringen um die Loyalität der Afghanen liegt darin, dass die fremden Besetzungssoldaten, in erster Linie die Amerikaner, jedoch die Europäer schwerlich ganz ausgenommen, sich durch ihre Übergriffe gegenüber der afghanischen Zivilbevölkerung zunehmend verhasst machen. Absichtlich oder unabsichtlich – für die Afghanen ist dies nicht wesentlich, für sie zählen die Toten und Verwundeten – kommen immerwieder Bombardierungen und Beschiessungen von Zivilen vor mit tödlichen Folgen für bedeutende Zahlen von Frauen, Kindern und alten Leuten. Besonders verhasst sind die Drohnenschläge, die offiziell auf Gruppen von Aufständischen ausgehen, die aber de facto immerwieder zivile Gruppierungen und Ansammlungen treffen. Wahrscheinlich versucht die Taleban Propaganda die Opferzahlen zu übertreiben. Im Gegenzug übertreibt wohl die amerikanische Kriegspropaganda die angeblichen Erfolge der Drohnen bei der Tötung von vermuteten Anführern der Taleban. Dass auch auf der alliierten Seite die Fakten nicht notwendigerweise mit der Kriegspropaganda übereinstimmen, lehren die Dokumente der Wikileaks noch drastischer als wir es schon ohnehin wussten. Doch die Mordaktionen der Besetzungssoldaten durch Drohnen und Raketen kommen tatsächlich vor. Ihre Wirkung ist aufwühlend.

Die Oberkommandanten, zuerst McChrystal, später Petraeus, wussten dies, und sie haben wiederholt Befehle ausgegeben, nach denen solche „Fehlgriffe“ unbedingt vermieden werden müssten. Doch in der konkreten Situation der Soldaten, die sich in vielen Fällen gefährdet glauben und dann die energischsten Gegenmassnahmen ergreifen, über die sie verfügen, ist dies leicht zu befehlen und schwer zu befolgen. Bisher haben solche Befehle nicht viel gefruchtet. Die tödlichen Aktionen dauern an und ernten Hass und Verachtung von den Afghanen, die sie als feige und einer jeden kriegerischen Moral unwürdig einstufen. – Auch die Selbstmordbomben der Taleban widersprechen der traditionellen afghanischen Kampftradition. Zu Zeiten des Ringens gegen die Russen wurden sie nicht eingesetzt. Die Taleban haben von ihrer Wirksamkeit erst durch die Kämpfe der irakischen Aufständischen gegen die Amerikaner erfahren und diese Kampmethode von ihnen gelernt.

Ob die Bomben der Taleban gleich abstossend auf die Afghanen wirken, wie die Drohnen und Raketen der Amerikaner und Nato Truppen, bleibt offen. Die Taleban suchen in erster Linie Opfer aus, die sich bei der Regierung oder den fremden Truppen engagierten. Ihre Einsätze sind menschenverachtend aber nicht von der gleichen hochtechnologischen „Herablässigkeit“ wie die ferngesteuerten Geschosse und Bomben aus heiterem Himmel.


Korruption statt Entwicklungshilfe

Nicht nur die Amerikaner, auch die von ihnen gestützte Karzai Regierung und ihre ausübenden Organe machen sich in wachsendem Masse verhasst. Ihnen wird allesamt Korruption vorgeworfen, und dies sowohl von amerikanischer wie von afghanischer Seite. Milliarden von amerikanischen und europäischen Hilfsgeldern versickern in Afghanistan ohne Spuren zu hinterlassen. Geschichten gehen um, von Lastflugzeugen, die mit Dollarbündeln beladen das Land verlassen.
Von der afghanischen Polizei weiss die Bevölkerung, oder glaubt es zu wissen, dass sie sich mehr mit dem Aussaugen der Afghanen als mit ihrer Verteidigung gegen Gewalttäter abgibt. Die neu ausgehobenen Truppen, die von den Amerikanern und Europäern ausgebildet werden, aber gelegentlich auf ihre Ausbilder schiessen, gelten als unsicher, und niemand traut ihnen zu, dass sie ohne Unterstützung der Amerikaner zu kämpfen vermöchten. Von der zivilen Verwaltung wird angenommen, dass sie viel verspricht, aber in Wirklichkeit in die eigenen Taschen arbeitet.
Die Unsicherheit zwingt viele der zahlreichen NGOs und internationalen Wohltätigkeitsorganisationen, in Kabul zu bleiben und ihr Wirken nach aussen hin, soweit es überhaupt noch stattfindet, irgendwelchen afghanischen Helfern anzuvertrauen. Die beständige Klage der Landbevölkerung lautet: „für uns tut man nichts!“

Der Mohnanbau ist eine der wenigen Aktivitäten, die sich für die Bauern als rentabel erweisen. Natürlich für sie in viel geringerem Masse als für die Zwischenhändler und Schmuggler, die in einer Drogenmafia zusammengefasst sind, von der es heisst, sie reiche bis tief in die Regierung hinein und sie diene zugleich dazu, die Aktivitäten der Taleban weitgehend zu finanzieren. Die Rauschgiftstrassen ziehen westwärts sowohl durch die zentralasiatischen Staaten und Russland wie durch Iran und die Türkei. Ihrer ganzen Ausdehnung entlang nehmen die Zahlen der Süchtigen zu. Die iranische Regierung bekämpft den Schmuggel energisch und nicht ohne Blutvergiessen. Doch von einer Eindämmung kann nicht die Rede sein, eher vom Gegenteil. Endziel der beiden Schmuggelstrassen ist Europa. Der dortige Verbrauch wird im wesentlichen aus Afghanistan gespeist.


Positionsbezüge für „nach den Amerikanern“

Heute wird immer deutlicher, dass früher oder später die Amerikaner abziehen werden. Obama hat sich auf einen Beginn der Truppenreduktion im August 2011 festgelegt, aber Karzai erhielt kürzlich die Zustimmung der Amerikaner und Europäer für einen Plan, der vorsieht, dass die afghanische Regierung bis zum Jahr 2014 die volle Verantwortung für die Sicherheit des Landes übernähme. Wie Afghanistan allerdings in vier Jahren wirklich aussehen wird, kann niemand voraussagen.
Der auf jeden Fall beschränkte Zeithorizont, der den amerikanischen Truppen im Lande gesetzt ist, bewirkt, dass sich schon heute alle Seiten in dem Ringen intensiv mit der Frage befassen: was geschieht nach den Amerikanern? - Seit über einem Jahr redet Karzai offen davon, dass er mit den Taleban verhandeln wolle. Daneben hat er Pläne entworfen und Gelder bereit gestellt, die für mögliche Überläufer aus dem Lager der Taleban bestimmt sind. Einige solche soll es in der Tat geben, jedoch bisher nur wenige. Neuerdings hat es auch Versuche gegeben, mit den alten Jihad Kommandanten aus der Zeit des Krieges gegen die Russen, Gulubuddin Hekmatyar und Jallaluddin Haqqani, ins Gespräch zu kommen, beide paschtunische War Lords, die heute als Verbündete der Taleban und enge Vertraute von ISI in Afghanistan gegen die Amerikaner kämpfen.

Resultate hat all dies jedoch bisher nicht gezeigt. Die Taleban und ihre Gönner und Freunde sehen sich als die gegenwärtigen Gewinner des Ringens, und sie sind daher nur daran interessiert, den Abzug der Amerikaner und der Nato-Truppen auszuhandeln, ohne irgendwelche Kompromisse mit ihren Gegnern einzugehen. Dies wiederum scheint den Amerikanern nicht annehmbar.
Auch ISI behält beständig ein Eisen im Feuer der Kontakte und Verhandlungen. Die Gefangennahme des Taleban Waffen- und Einsatzchefs, des Mullah Beradar, durch die Pakistaner im Februar 2010 und ihre Weigerung, den Gefangenen den Amerikanern zur Verfügung zu stellen, bis sie selbst ihn verhört hatten, gehört in den Zusammenhang dieser Kontakte. Durch ihr Vorgehen unterstrichen die Pakistani (stets unter der Leitung von ISI), dass sie in Gesprächen, wie jene, welche die Amerikaner indirekt über Saudi Arabien eingeleitet hatten, auf keinen Fall übergangen werden wollten. 4)
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4) Es gibt viele autorisierte Stimmen, die mahnen, es sei jetzt die Zeit zu verhandeln, auch für die Amerikaner. Dies müssten Gespräche über Versöhnung mit den Taleban sein und möglicherweise ihrer Beteiligung an der Macht in Kabul, nicht solche über Kapitulation, wie sie die Amerikaner immernoch forderten. S. z.B. reconciliation efforts (PDF), von Matt Waldmann. Ouch die Ausführungen von Barnett R. Rubin and Ahmed Rashid, in Foreign Affairs Nov./Dec. 2008: From the Great Game to Grand Bargain, Ending Chaos in Afghanistan and Pakistan. Sowie: Interview mit Matt Wadmann, Time to talk to the Taliban: Council of Foreign Relations, 14/7.10 Viewpoint, Time for US to join talks with Taleban. http://www.cfr.org/publication/22708/time_to_talk_to_the_taliban.html?utm_source=feedburner&utm_medium=feed&utm_campaign=Feed
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Die Beziehungen zwischen Karzai und den Pakistanern waren angespannt bis vor wenigen Wochen. Pakistan warf ihm vor, sich allzu eng mit den Indern einzulassen. Seine Regierung hatte die Öffnung von indischen Konsulaten in Afghanistan zugelassen und erhält – relativ - wirksame Entwicklungshilfe aus Indien. Doch dann scheint eine Umpolung stattgefunden zu haben. Anlässlich eines Besuches des Oberkommandanten der pakistanischen Streitkräfte, des Generals Kayani, in Kabul wurde deutlich, dass Karzai nun gedenkt sich auf die Pakistani abzustützen. Ob er wirklich die indischen Konsulate schliesst, wie Pakistan das offen forderte, bleibt noch abzuwarten. Doch jedenfalls sind die Beziehungen herzlicher geworden. Dies sei Vorbedingung gewesen, sagten die Pakistani, um den Wunsch Karzais zu erfüllen, mit den Taleban Kontakt aufzunehmen. 5)
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5) Vgl. Washington Post foreign service 21/7/2010Joshua Partlow, Afghanistan building up strategic partnership with Pakistan. Und bbc 22.3.2010 Militants hold peace talks in Kabul.
http://news.bbc.co.uk/2/hi/south_asia/8579380.stm

siehe auch: Lyse Doucet: Pakistan pushes for new role in Afghanistan, bbc Feb. 19/ 2010 http://news.bbc.co.uk/2/hi/south_asia/8521823.stm und Stephen M. Walt, meanwhile at Kabul, March 24/2010, in http://walt.foreignpolicy.com/blog/2072 und ausführlicher: http://www.nytimes.com/2010/03/24/world/asia/24afghan.html?ref=world

vgl. Ahmed Rashid: making war and peace in Afghanistan, bbc march 10/2010
http://news.bbc.co.uk/2/hi/south_asia/8550129.stm

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Man kann vermuten, dass diese Formel genauere Abmachungen verbirgt, nach denen Karzai, wenn er mit den Taleban spricht, die Pakistani auf dem Laufenden zu halten hätte. Das gleiche dürften die Pakistani auch von den Taleban erwarten. Sie wären dadurch in der Lage, solche Gespräche weitgehend fernzusteuern.
Fernziel Pakistans dürfte sein, dass nach dem Abzug der Amerikaner eine Machtkonstellation in Kabul übrig bleibt, die den Weisungen Islamabads Gehör schenkt und nicht den „Einflüsterungen“ Indiens. Als sie in den Jahren von 1994 bis 96 die Taleban zum ersten Mal zur Macht in Kabul beförderten, scheinen sich die Strategen von ISI insofern verrechnet zu haben, als ihre Schützlinge ziemlich viel Eigeninitiative entfalteten. Ob sie diese Lehre heute in Rechnung stellen und dafür sorgen wollen, dass auch die Taleban in einem künftigen Afghanistan nicht Alleinherrscher werden, oder ob sie gewillt sind, erneut eine volle Talebanherrschaft in Kabul anzustreben, muss vorläufig offen bleiben.


Pakistans Krieg mit den eigenen Taleban

Die heute für Pakistan höchst verderbliche und gefährlich gesteigerte Aktivität der sogenannten Pakistanischen Taleban, einer eigenen Organisation, die im wesentlichen aus den radikalen Pakistanischen Jihad Gruppierungen hervorgeht, wird von den pakistanischen Offizieren offenbar als eine Entwicklung angesehen, die durch die amerikanischen Eingriffe in den paschtunischen Grenzgebieten provoziert worden sei. „Nicht gerade als Rache dafür, aber doch als indirekte Konsequenz“, wie eine ihrer Formeln lautet.

Vielleicht schliesst sich an solche Vorstellungen die Hoffnung an, dass die islamistischen Terroristen in Pakistan auch wieder zur Botmässigkeit unter ISI und zum Einschreiten gegen Indien zurückgebracht werden könnten, wie dies vor dem afghanischen Krieg der Amerikaner gewesen war, als ISI eine weitgehende Kontrolle über die radikalisierten Kampfgruppen Pakistans ausübte und diese bei Bedarf richtung Kaschmir steuerte.

Die Offensiven, welche Pakistan in den paschtunischen Stammesgebieten des Nordens, wahrscheinlich unter Druck durch die Amerikaner, mit blutigen Opfern durchführte, ergaben gemischte Resultate. Die Kämpfer wichen jedes Mal aus in benachbarte Bezirke und re-infiltrierten, nachdem die Armeeoffensiven abgeklungen waren. So gross die pakistanische Armee sein mag, ist sie mannschaftsmässig doch nicht in der Lage, sämtliche Stammesgebiete auf einmal zu besetzen und dadurch die aufständischen Radikalen überall gleichzeitig niederzuhalten. Die Aktionen der pakistanischen Armee haben jedes Mal zur Massenflucht der Bevölkerungen aus den betroffenen Regionen geführt (Swat, Waziristan, Buner) und das dadurch entstandene Flüchtlingselend belastet den armen Staat Pakistan. Die Armee hat angekündigt, dass sie (gegenwärtig oder definitiv blieb unklar ) nicht gedenke, weitere Grossoffensiven in den Grenzregionen durchzuführen.


Kein Raum für eigene Meinungsbildung

Bei aller Vielfältigkeit der Beweggründe und Motive bleibt festzuhalten: Was immer die afghanische Landbevölkerung und grosse Teile der Stadtbevölkerungen desgleichen, eigentlich möchte, ist nicht wirklich relevant, solange die Taleban in der Lage sind, sie individuell in ihren Häusern und Siedlungen zu bedrohen und ihre Drohungen, im Bedarfsfalle wahr zu machen. Unter solchen Umständen bleibt eine möglicherweise vorhandene Entscheidung der grossen Mehrzahl der Afghanen für die „Freiheit“ der Amerikaner nicht mehr als eine undurchführbare Theorie. Zuerst müssen die Betroffenen sich am Leben erhalten. Die Amerikaner stehen vor einem inneren Widerspruch: um das Land von den Taleban zu befreien, brauchten sie die Hilfe und Mitarbeit der Bevölkerung, jedoch: um die Mitarbeit und Hilfe der Bevölkerung zu erhalten, müssten sie zuerst das Land von den Taleban reinigen.

Um dieser Falle zu entkommen, hatten die Amerikaner eine Strategie von Flecken für Flecken entworfen. Eine bestimmte Zone sollte durch die amerikanischen Kampftruppen von den Taleban gereinigt werden, dann besetzt gehalten bis zu dem Zeitpunkt, an dem die einheimischen Sicherheitskräfte, die afghanische Armee und Polizei, dort die Sicherheitsverantwortung übernehmen könnten. Dann wäre der nächste Flecken an die Reihe gekommen. Diese Strategie sollte im Februar 2010 mit vermehrten Offensivtruppen der Amerikaner und Engländer in Helmand erprobt werden. Die damals viel erörterte Offensive nach Marja im südlichen Helmand (Südwesten Afghanistans) begann in dieser Absicht. Die Armeesprecher verkündeten auch schon, als zweites Ziel, nach Marja, sollten die Provinz und die Grosstadt Kandahar an die Reihe kommen, der Sitz der Hauptmacht der Taleban. Doch die geplante Offensive musste zurückgestellt werden, weil es bis jetzt offensichtlich nicht gelungen ist, in Marja die Aktivitäten der Taleban Kämpfer so weit zu drosseln, dass die afghanischen Sicherheitskräfte die Amerikaner dort ablösen könnten. Ausserdem bestehen grosse Zweifel daran, dass die junge afghanische Armee und die als höchst korrupt geltende Polizei in absehbarer Frist überhaupt in der Lage sein könnten, derartigen Absicherungsaufträgen erfolgreich nachzukommen.

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